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Geballte Kollegenwut
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Rubriken — ARSENICUM
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6022
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Geballte Kollegenwut

D er Schreibende ist in den Ferien und zu erschöpft, um selbst in die Tasten zu greifen. Daher lässt er heute Kollegen zu Wort kommen, die ihm ihren Ärger schrieben und forderten, dass er Ungeheuerlichkeiten mal aufgreife. Hausärzte fühlen sich abgezockt und bevormundet! Medizinal- und Verpackungsindustrie nehmen uns aus. Behördlich-bürokratische Regelwerke zwingen uns zum Ankauf teurer, sinnloser Wegwerfware, die die Umwelt belastet. Bürden uns immer mehr administrativen Blödsinn unter dem Vorwand «Qualitätssicherung» auf. Haben die Beweislast umgekehrt, sodass heute der Arzt belegen muss, dass er perfekt gearbeitet hat. «Der Plastikschrott!», stöhnen mehrere Kollegen, die noch ein Praxislabor führen. All die Gütterli und Cuvettli, Pipettierhilfen und in Folien eingeschweissten Sächeli. Einige Oldies berichten wehmütig, wie sie noch mit Pikrinsäure Kreatinin bestimmt und mit Zählkammern Blutzelldiagnostik betrieben haben. Etwas viel Nostalgie, meine ich, aber das Thema Labor ist in der Tat ein Reizthema. Viele Kollegen ereifern sich über die finanzielle Entgeltung der Analysen, über die Missachtung der Leistungen, die mit dem Hausarztlabor erbracht werden, und die Bevorzugung grosser Laboratorien, die in Randgebieten nach wie vor nicht die Dienstleistungen erbringen können, wie es der Dorf- oder Bergarzt tut. Praxishygienische Auflagen erzeugen Rage, die zum Boykott führt. Augenscheinlich verwenden Hunderte von Kleineingreifern keine Gesichtsmaske, Tausende keine Opshaube, wenn sie etwas rausschneiden. «Und trotzdem habe ich keine nosokomialen Infekte!», wettert Kollegin B. aus C. In ihrer Assistenzarztzeit in Afrika habe sie sogar bei offenem Fenster mit Fliegengitter, aber ohne Klimaanlage und laminar flow erfolgreich operiert. «Alles macht man lege artis», klagt Kollege C. aus D. «Trotzdem infiziert sich die Wunde. Der Frischoperierte erzählt dann heiter, dass er kurz nach dem Eingriff den Stall ausgemistet und dann im Dorfweiher, dieser trüben Glungge, ein Bad genommen hat …» Bürokratische Bestimmungen für Klein-Operationssäle, Desinfektion und Sterilisation nerven die Kollegen. «Bei jeder sterilisierten Charge muss jemand für die ordentliche Durchführung verantwortlich zeichnen und ein Protokoll signieren, welches – genau wie der mitsterilisierte Teststreifen und der vom Sterilisator erstellte Ausdruck – zehn Jahre aufbewahrt werden muss!», schreibt A. aus B. «Da kann ich mein Archiv vergrössern! Wer prüft nach, ob die Temperatur und der

Druck, die dort zu bestimmten Zeiten erreicht wurden, korrekt waren? Wahrscheinlich kommt bald irgendein Prüf-Vogt vom Amt, dessen Kontrollmassnahmen wir dann berappen müssen!» Zähneknirschend akzeptiert werden die Kontrollen strahlender Apparate. Anders verhält es sich mit der Praxisapotheke: Die geforderten Qualitätssicherungsauflagen stossen auf Unverständnis. Viele Kollegen wollen keine englischen NHS-Zustände, nämlich die Abgabe von irgendwelchen Pillen in Papiertüten, ohne individuelle Verschreibung, ohne Beipackzettel. Doch der Umgang mit Medikamenten kurz vor dem Verfallsdatum oder Patientenretouren ist für viele Kollegen Verschwendung. Sie pflegen daher ihre Privatkontakte zu Kollegen aus armen Ländern und reichen ihnen solche Medikamente weiter. Ein begeisterter WONCA-Anhänger (und prominenter Funktionär), der nicht genannt werden möchte, griff zum Telefonhörer und schüttete dem Schreibenden sein hausärztliches Herz aus. Weltweit würde die Arbeit engagierter, altruistischer Hausärzte behindert. Nicht nachvollziehbare gesetzliche Regelungen und administrativ-bürokratischer Blödsinn machten den Kollegen das Leben schwer. Nicht genug damit, dass sie gegen ein Universum von Krankheitserregern und einem krankmachenden Lebensstil, gegen gesundheitsfeindliche Umgebungsbedingungen und Systeme kämpfen müssten, dass sie es mit uneinsichtigen oder verzagten Patienten und Aberglauben zu tun hätten – diesen tapferen Einzelkämpfern würden noch das Rechtssystem, die Wirtschaft und die Politik das Arbeiten erschweren. «Es muss doch möglich sein, den goldenen Mittelweg zu finden zwischen anachronistischer Viehdoktorei und einer überkontrollierten superspezialisierten Luxusmedizin. Wieso wird alles von allen Seiten dafür getan, dass der vernünftige, empathische, preisgünstige Hausarzt, der eine bezahlbare, menschliche und qualitativ ausreichende Medizin bietet, bald nicht mehr existieren kann?», klagte er. Im Sinne eines entlastenden Gesprächs hörte der Schreibende (im Liegestuhl seine Ferien geniessend) dem WONCA-Kollegen lange zu. Und sagte: «Aber noch gibt es diese Hausärzte. Und die Patienten, die ihren Doktor und dessen Arbeit zu schätzen wissen. Doch die WONCA sollte sich mehr für das Empowerment des Family Doctors einsetzen …»

ARSENICUM

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ARS MEDICI 16 I 2014