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Medizinischer Materialwucher
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Rubriken — ARSENICUM
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5994
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Medizinischer Materialwucher

E in Gebiet hat sich der Preisüberwacher noch nicht vorgenommen: die Medizin! Nein, nicht die Medikamenten- oder Prothesenpreise soll er kritisch anschauen, sondern den Ärztebedarf. Uns «Grossverdiener» kann man nämlich so richtig abzocken. Es fängt mit der Untersuchungsliege an. Ein simples Stahlrohrgestell, schlampig verchromt, darauf ein Sperrholzbrett mit Scharnier, welches lieblos mit billigstem Schaumstoff und Plastik in einer hässlichen Farbe überzogen ist. Mickriger geht’s nicht mehr. Nur der Preis ist königlich. Für den Betrag könnte man ein Echtgoldgestell erwarten, dessen Mahagonibrett mit Daunen in Rohseide abgefedert wird. Aber nein – uns Ärzte können die Lieferanten ja ausnehmen, denn nicht der Arzt legt sich auf die Liege für sein verdientes Nickerchen hin, sondern Patienten liegen auf der Liege. Und daher gelten spezielle Standards, erklärt mir der Verkäufer. Höchste Qualität für Sicherheit, Hygiene und Komfort. Dass diese bei der Liege erreicht wurden, sieht und fühlt man ihr nicht an. Produktlanglebigkeit gehörte auch nicht dazu, denn nach nur acht Jahren war der Plastikbezug durchgescheuert. Als handwerklich begabter Arzt riss ich ihn ab, griff zum Tacker und nagelte eine zweite Schaumstofflage (die Auflage eines Gartenstuhls, dessen Holzrahmen Opfer der Obsoleszenz und eines schwer übergewichtigen Gastes geworden war) und ein Stück farbenfroh gemusterten Plastiks für 13.80 Franken aus der Restekiste eines Möbelhauses aufs Gestell. Seither loben die Patienten, die Liege sähe so fröhlich aus und man läge so schön weich auf ihr. Eingespart habe ich auch die dämliche Rolle, die immer aus der Halterung fiel und von der man nicht etwa handgeschöpftes Büttenpapier mit Goldrand abrollte, sondern simplen extrabreiten Küchenkrepp mit ein wenig Plastik darunter. Jetzt wird die Liege nach Gebrauch mit einem Hauch Desinfektionsspray wieder hygienisch gemacht, nur in Ausnahmefällen gibt es ein Stück Auflage. Die Umwelt freut’s. Denn es müssen für mich weniger Bäume gefällt werden, und die Ozeane werden mit weniger Plastikmüll verschmutzt. Noch habe ich keine schrecklichen Keime

in meiner Praxis, die Unmengen von Wegwerfmaterialmüll rechtfertigen würden. Warum sollte ich ein fertiges Blasenkatheterset kaufen, mit Pappmaché-Nierenschale und viel Folien und Plastik zum Entsorgen, wenn ich eine kompetente MPA habe, die mir den sowieso schon doppelt verpackten Katheter und die Edelstahlnierenschale anreicht? Eben. Spritzen werfen wir in ein stabiles Plastikgefäss, nicht in die gelb-roten Ungetüme, welche die Entsorgungsfirma auch nur der Kehrichtverbrennung übergibt. Brav bin ich noch mit Elektrogeräten. Obwohl sie ein Vielfaches kosten, nur weil sie für den medizinischen Gebrauch zugelassen sind. Mein Kollege im Bergtal schert sich nicht darum. Er will nicht für einen Bildschirm 2000 Franken zahlen, den er für 200 Franken beim Elektronik-Grossanbieter bekommt, und hat deshalb den Letzteren an sein Endoskop angeschlossen. Mit einem trotzigen «Ich bin doch nicht blöd!». Für das Entfernen von Hornhaut nimmt er seit Jahrzehnten ein simples handelsübliches kleines Schleifgerät und für Ohrenspülungen eine Zahnhygienewasserspritze. Er argumentiert, dass diese ja auch nicht den Benutzer elektrokutieren oder das Werkstück verbrennen dürfen. Urinproben werden bei ihm in sauber gewaschenen, leeren Joghurtbechern abgegeben, weil er sich über die horrenden Preise der dafür vermarkteten Plastikkächeli ärgert, die nichts mehr mit ihrem Materialwert zu tun haben. Sterilisationsgüggli verwendet er prinzipiell zweimal: Ganz sparsam schneidet er den oberen Rand ab, entnimmt das Sterilgut und packt beim nächsten Mal ein kleineres Instrument ein. An Wegwerfmaterial hat er eigentlich nur Spritzen/Nadeln, Skalpelle, im Handtuchspender und im WC-Papier-Halter. Seine Liege hat er von seinem Vater, ebenfalls Landarzt, geerbt. Der grüne Wachstuchbezug ist seit den Fünfzigerjahren unverändert in bestem Zustand, genau wie die lackierten Eisenschränkchen mit Glastüren. Nosokomiale Infekte hat er nicht mehr als andere Ärzte. Die amerikanischen Touristen, die er in der Skisaison behandelt, schwärmen «Vintage!» und «Shabby chic!» und fotografieren begeistert seine museale Ausrüstung.

ARSENICUM

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ARS MEDICI 14/15 I 2014