Transkript
Editorial
I n den letzten Jahren sind die Themen Transpersonen und Genderdysphorie nicht nur bei uns in den Praxen und Spitälern, sondern auch in der Öffentlichkeit zunehmend ins Bewusstsein gerückt. Es vergeht kaum ein Monat ohne eine Dokumentation oder einen Zeitungsbericht zu diesen Themen. Und das ist gut so. Auch aus wissenschaftlicher Sicht sieht man einen deutlichen Anstieg von Publikationen: Gibt man den Begriff «gender dysphoria» in PubMed ein, erhält man für den Zeitraum 1974 bis 2010 gerade mal 213 Ergebnisse, für 2011 bis 2021 sind es hingegen 1717. Dabei ist es kein neues Thema: Pioniere auf diesem Gebiet waren bereits Anfang des 20. Jahr-
keine neutrale Option. Uns allen, die wir Patientinnen und Patienten mit Genderdysphorie behandeln, ist sehr bewusst, dass eine solche Therapie nicht leichtfertig erfolgen darf. Eine enge multidisziplinäre Abklärung und Zusammenarbeit ist essenziell. Wichtig ist dabei in erster Linie eine fundierte Einschätzung der Kolleginnen und Kollegen der Psychiatrie über die Dauerhaftigkeit und die Bedeutung etwaiger Begleiterkrankungen, wie in dem Artikel von Brigitte Contin ausgeführt wird. Auch das Thematisieren möglicher Methoden zum Erhalt der Fertilität ist fester Bestandteil unserer Konsultationen, obwohl dieser Aspekt nicht immer oberste Priorität für die Jugendlichen zu Beginn ihrer
Dr. med. Melanie Hess Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) melanie.hess@ukbb.ch
Nichtstun ist im Jugendalter keine neutrale Option
hunderts Magnus Hirschfeld (1868–1935) und Harry Benjamin (1885–1986). Magnus Hirschfeld ist vielen ein Begriff aus dem Film «The Danish Girl». Dieser erzählt die Lebensgeschichte des dänischen Malers Einar Wegener/Lili Elbe, die laut Film von Magnus Hirschfeld operiert wurde (was nicht der historischen Wahrheit entspricht, er war lediglich beratend tätig). Hirschfeld hat bereits 1923 den Begriff «transsexual» öffentlich bekannt gemacht. Harry Benjamin hat zudem mit seinem 1964 erschienenen Artikel «Clinical Aspects of Transsexualism in the Male and Female» das Thema ins ärztliche Bewusstsein gerückt und mit seinem Buch «The Transsexual Phenomenon» einer breiten Öffentlichkeit bekannt gemacht. Die ersten «standards of care» wurden schon 1979 von der World Professional Association for Transgender Health (WPATH) veröffentlicht. Die Berichterstattung scheint in den letzten Monaten leider nicht immer objektiv zu sein. Zurzeit kommen vor allem Transjugendliche beziehungsweise junge Erwachsene zu Wort, die ihre Entscheidung für eine Hormontherapie und/oder für die geschlechtsangleichende Operation bereuen und vor Gericht ihre Ärztinnen und Ärzte verklagen. Juristen treffen dabei medizinische Entscheidungen. Aber: Nichtstun und einfach Abwarten ist im Jugendalter
Therapie hat. Denn: Transpersonen haben nach aktuelleren Daten einen ähnlich grossen Kinderwunsch wie Cispersonen. Astrid Ahler hat die verfügbaren Möglichkeiten zur Fertilitätserhaltung in ihrem Artikel zusammengefasst. Auf die Behandlung der Stimme als weiterer wichtiger Mosaikstein, gerade in der Betreuung von Transfrauen nach dem Stimmbruch, geht Claudio Storck ein: «Sie ist ein Spiegel der Seele, und sie ermöglicht einen Blick in die Seele», weil «die Stimme eine unmittelbare Identifizierung des Geschlechts erlaubt». Sehr hilfreich, auch für mich als Ärztin von Jugendlichen mit Genderdysphorie, empfinde ich das Interview mit Daniel in dieser Ausgabe. Er schildert seine Sichtweise und findet deutliche Worte, wie wichtig die geschlechtsangleichende Therapie für ihn war und ist. Ich danke allen Autorinnen und Autoren. Sie zeichnen in ihren Artikeln ein umfassendes und aktuelles Bild zur Behandlung und Betreuung von jugendlichen Patientinnen und Patienten mit Genderdysphorie. Und ganz besonders danke ich Daniel, der uns an seinem persönlichen Erleben teilnehmen lässt.
Melanie Hess
Anmerkung: Mit dem Begriff Genderdysphorie wird ein Leiden beschrieben, welches aus der Diskrepanz zwischen der erlebten Geschlechtsidentität und dem biologischen Geschlecht resultiert. Eine solche Dysphorie kann zwar auch in Zusammenhang mit Krankheitsbildern aus dem DSD-Formenkreis (DSD: difference of sex development, früher als Intersexualität bezeichnet) stehen, wie zum Beispiel einem adrenogenitalen Syndrom, insgesamt betrachtet treten DSD und Genderdysphorie aber nur in seltenen Fällen gemeinsam auf. Deshalb haben wir uns entschlossen, in dieser Ausgabe nicht auf DSD einzugehen.
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