Transkript
INTERVIEW
«Eine auf hohem Niveau irreführende Studie»
Interview mit Dr. med. Luzi Dubs, Winterthur, zum Nutzen der arthroskopischen Meniszektomie
Die arthroskopische Teilentfernung des Meniskus ist ein häufiger Eingriff bei Patienten mit Kniegelenkbeschwerden, der Nutzen ist jedoch umstritten. Vor Kurzem publizierte das «New England Journal of Medicine» eine randomisierte Studie (1), deren Autoren den Nutzen des Eingriffs bei Patienten mit degenerativen Meniskusschäden ohne Kniearthrose negieren. Dr. med. Luzi Dubs, Facharzt für orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates in Winterthur und erklärter Befürworter der Evidence-based Medicine, ist trotzdem anderer Ansicht.
ARS MEDICI: Herr Dr. Dubs, die kürzlich publizierte Studie zur arthroskopischen Meniszektomie ist offenbar nach allen Regeln der Evidence-based Medicine (EBM) durchgeführt worden. Kann es sein, dass Sie, ein erklärter Anhänger der EBM, mit der Studie nun ein Problem haben, weil diese Ihre Praxiserfahrung nicht bestätigt? Dr. med. Luzi Dubs: Ich habe tatsächlich ein Problem mit dieser randomisierten Studie aus Finnland, auch wenn sie in einer der renommiertesten Zeitschriften erschienen ist. Sie erscheint mir auf hohem Niveau irreführend. Eine Randomisierung allein ist noch kein Gütesiegel für eine Studie.
ARS MEDICI: Sie schrieben in einem Kommentar, die Studie sei «nicht grundlegend falsch». Was ist aus Ihrer Sicht daran richtig und was falsch? Dubs: «Nicht grundlegend falsch» heisst, dass die Autoren eine randomisierte Studie so durchgeführt haben, wie eine randomisierte Studie gemacht werden muss. Wenn man aber die Studie genau anschaut, muss man sich fragen, welche
«Nicht die Operation als solche, sondern der Schweregrad der Meniskusschädigung bestimmt die Prognose.»
ARS MEDICI: Welchen Widerspruch meinen Sie? Dubs: Die Tatsache, dass man eine derartige randomisierte Studie zugelassen hat, setzt aus ethischer Sicht voraus, dass die erwarteten Ergebnisunterschiede klein oder klinisch irrelevant sind. Es gibt viele Hinweise, dass die Autoren sich entsprechend auf eine Nullhypothese einstellen konnten. Eingesetzt wurde der sogenannt validierte WOMET-Score, welcher am meisten meniskusspezifische Aussagen ermöglichen soll. In den Resultaten kommt aber kein Unterschied der ScoreWerte zum Ausdruck, was heisst, dass der WOMET-Score hier nicht in der Lage gewesen ist, eine «echte» Meniskusoperation von einer Scheinoperation zu diskriminieren. Das heisst für mich, dass die meniskusspezifische Behandlung ineffektiv gewesen sein muss.
ARS MEDICI: Die Autoren argumentieren, dass ebendieser fehlende Unterschied ja der Beweis ist, dass der Eingriff keinen Vorteil habe ... Dubs: ... aber was haben sie mit dem Score tatsächlich gemessen? Offenbar doch nichts Meniskusspezifisches! Der Ausgangswert im WOMET-Score lag im Durchschnitt bei zirka 60 Punkten in beiden Gruppen. Maximal möglich, das heisst bei einem absolut gesunden Knie, sind 100 Punkte. Für mich sind 60 Punkte verdächtig hoch. Möglicherweise war das Knieproblem bei vielen der Patienten also nicht meniskusspezifisch. Bezeichnenderweise gehörten meniskusspezifische Symptome wie Schwellung oder Drehempfindlichkeit in dieser Studie nicht zu den Einschlusskriterien. Am Ende kamen die Patienten in beiden Gruppen nur auf durchschnittlich 80 Punkte, das ist mir zu wenig. Für mich auch ein Hinweis darauf, dass praktisch «nichts» gemacht, also ungenügend reseziert wurde. Die Patienten sollen zudem auch nicht in der Lage gewesen sein, selbst zu erkennen, in welcher Behandlungsgruppe sie waren. Das entspricht nicht der klinischen Alltagserfahrung. Im Grunde kann man eine ausreichend durchgeführte Meniszektomie nicht verblinden.
ARS MEDICI: Warum hätten die Orthopäden in der Studie ungenügend resezieren sollen? Dubs: Möglicherweise weil sie vermeiden wollten, dass die Patienten in der Studie doch bemerken, ob etwas gemacht wurde oder nicht.
Realität hier abgebildet wird. Ich habe einen klärungsbedürftigen Widerspruch entdeckt, welcher den Rückschluss erlaubt, dass die Scheinoperation mit einer ineffizienten Teilmeniskusentfernung verglichen worden ist.
ARS MEDICI: Sie sprechen sich dafür aus, bei einer Teilmeniskusresektion eher grosszügig Gewebe zu entfernen. Gibt es Studienresultate, die diese Vorgehensweise unterstützen, beziehungsweise wäre es nicht doch besser, dem Kniegelenk so viel Meniskusgewebe wie möglich zu erhalten?
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Zur Person Dr. med. Luzi Dubs, Facharzt für Orthopädische Chirurgie und Traumatologie des Bewegungsapparates in Winterthur, ist Mitbegründer der Evidence-based Medicine (EBM) in der Schweiz, organisiert und leitet eigene EBM-Kurse und ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von ARS MEDICI.
Diese sind in der Studie für eine degenerative Meniskusschädigung bezüglich der klinischen Manifestation sehr breit formuliert. Sie entsprechen dem unfiltrierten Krankengut einer Hausarztpraxis. Letztlich hat man aber unter diesen die Auswahl sehr eng abgesteckt. Pro Klinik konnten durchschnittlich nur 6 Patienten pro Jahr in die Studie aufgenommen werden. Das erscheint mir doch sehr selektiv und entspricht sicher nicht der Praxisrealität, in welcher degenerative Veränderungen am Meniskus ja die Regel sind.
ARS MEDICI: Sie bezeichnen die Einschlusskriterien der Studie
Dubs: Wie viel Gewebe entfernt werden muss, hängt von der als zu wenig spezifisch. Wie hätte man es besser machen
jeweiligen Situation ab und braucht entsprechend Erfahrung. können, sprich: Wie identifiziert man die Patienten, bei denen
Das Motto heisst immer: so wenig wie möglich, aber so viel der Eingriff tatsächlich sinnvoll ist?
wie nötig. Ich habe viele Fälle erlebt, wo zu sparsam reseziert Dubs: Grundsätzlich sollten die Vorgaben vor einer Operation
wurde, die meniskusspezifische Symptomatik fortbestanden derart spezifisch vorliegen, dass eine Ethikkommission eine
hat und dann die erweiterte Teilmeniszektomie das Schmerz- randomisierte Studie mit einer Scheinoperation in der Ver-
problem auch langfristig hat lösen können, meist durch ein gleichsgruppe gar nicht zulassen würde. Ich fordere strengere
operatives Vorgehen in den peripheren Faserring hinein.
klinische Kriterien als in der vorliegenden Studie. Die Schwel-
lungsneigung, die Torsionsempfindlichkeit
und das Verlaufsprofil bezüglich Kompensa-
«Eine Randomisierung allein ist noch kein Gütesiegel für eine Studie.» tionsmöglichkeiten der Natur in Abhängig-
keit vom Ansprechen auf alternative Mass-
nahmen gehören schlichtweg zur Entschei-
ARS MEDICI: Es besteht der Verdacht, dass die Meniszektomie dungsfindung. Wir behandeln nicht Kniegelenke, sondern
einer späteren Kniearthrose Vorschub leistet. Spricht das Probleme von Menschen. Der potenzielle Nutzen im
nicht überhaupt gegen die Operation?
individuellen Fall ist entscheidend, und auch das richtige
Dubs: Hier dürfte ein klassischer Denkfehler vorliegen, näm- Timing gehört dazu. Man muss sich immer die Frage stellen,
lich der Post-hoc-propter-hoc-Bias: Was zuerst geschieht, soll was passiert, wenn man etwas macht oder wenn man noch
die Ursache für das sein, was später kommt. Aber nicht die abwartet.
Operation als solche, sondern der Schweregrad der Menis- Es gibt ganz eindeutige Fälle, bei denen die arthroskopische
kusschädigung bestimmt die Prognose. Oftmals spielt der Meniszektomie indiziert ist. Im Extremfall hat der Patient
unbekannte Hintergrundfaktor X, welcher sowohl zur einen sogenannten Korbhenkelriss im Meniskus, der das
meniskalen als auch später zur chondralen Schädigung führt, Kniegelenk blockiert – ein echtes Problem im Alltag, das man
die entscheidende prädiktive Rolle. Dieser Hintergrundfak- nur mechanisch lösen kann. Auf der anderen Seite gibt es
tor X ist sicher multifaktoriell. Es gibt zum Beispiel familiäre Patienten mit Knieproblemen, die zwar eine gewisse Menis-
Häufungen, beruflich oder sportlich bedingte Expositionen kusschädigung im MRI aufweisen, deren klinisch relevante
und so weiter.
Probleme aber gar nicht meniskusspezifisch sind. Das ist eine
Solange man nur das devitalisierte Gewebe entfernt, welches Situation, die aus meiner Sicht keinen Eingriff rechtfertigt.
relevant geschädigt ist und somit keine Funktion mehr hat, Man muss bei jedem Patienten individuell schauen, ob der
die Rehabilitation verhindert und lediglich die Schwellung Eingriff tatsächlich Erfolg verspricht oder nicht.
und die Schmerzen unterhält, darf man sich berechtigt füh-
len, dies so zu entfernen, dass die Entzündung sich wieder ARS MEDICI: Haben Sie einen Tipp für die Praxis, der beim
beruhigen kann und ein allenfalls physiotherapeutisch Einschätzen des potenziellen Nutzens hilfreich ist?
unterstütztes Training wieder ermöglicht wird.
Dubs: Es gibt immer Fälle, die anders ausgehen, als man das
erwartet hat. Weil so viele verschiedene Faktoren für den
ARS MEDICI: Kommen wir noch einmal zurück auf die neue weiteren Verlauf eine Rolle spielen können, muss man immer
finnische Studie. Welches sind Ihre Hauptkritikpunkte?
versuchen, die Erwartungen an das Resultat realistisch zu
Dubs: Dazu gehört zum einen der bereits genannte Punkt, dass formulieren. Letztlich spielt die Erfahrung natürlich eine
eine Scheinoperation mit einer ungenügenden Operation ver- grosse Rolle, aber die Erfahrung wächst nur, wenn man sich
glichen wird. Ein zweiter Punkt sind die Einschlusskriterien. die entsprechenden Fragen auch stellt.
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Ein Röntgenbild ist zum Beispiel ein schwacher Endpunkt. Nach einer Gelenksäuberung zeigt das Röntgenbild unter Umständen einen Knorpelverlust, quasi ein «schlechteres» Stadium, aber klinisch geht es dem Patienten besser. Man muss übrigens immer beide Knie röntgen. Wie oft habe ich schon erlebt, dass die Patienten am sogenannten «besseren» Knie mehr Schmerzen und Entzündungen aufwiesen als am gemäss Röntgenbefund «schlechteren».
ARS MEDICI: Kommen wir noch kurz auf eine ältere Studie zu sprechen, wonach die arthroskopische Gelenksäuberung bei Kniearthrose nicht mehr bringe als eine konservative Therapie (2). Was ist hier Ihr Hauptkritikpunkt? Dubs: Das Problem beginnt mit der unbefriedigenden und uneinheitlichen Definition einer Arthrose. Ausgangspunkt für die Entscheidung zur knorpeldébridierenden Massnahme
«Ich möchte nicht behaupten, dass die Indikation zur Meniskusoperation in allen Fällen hieb- und stichfest gestellt wird.»
ist in der Regel eine umschriebene Knorpelschädigung, welche mittlerweile auch Anlass gibt, aufwendigere Knorpel«Rekonstruktionen» zu versuchen. Was aber noch schwerer wiegt, ist die Tatsache, dass man in dieser Studie von Kirkley eine Ausgangslage mit nicht vergleichbaren Gruppen vorfindet. Die operierten sind im Endergebnis gegenüber den physiotherapeutisch behandelten Patienten nur auf den ersten Blick vergleichbar. Berücksichtigt man jedoch den Unterschied zum Ausgangswert der jeweiligen Gruppen, profitiert die operative klinisch relevant, die physiotherapeutische Gruppe jedoch nicht. Das wird galant verschwiegen.
ARS MEDICI: Vor Kurzem hiess es in der «SonntagsZeitung», dass die meisten arthroskopischen Meniskusoperationen überflüssig seien. Was meinen Sie dazu? Dubs: Wir stossen hier auf ein allgemeines medizinisches Phänomen, und dieses betrifft auch Behandlungen von Krebsund Herzleiden. Es gibt in der Medizin häufig gute oder schlechte Resultate, welche trotz der Behandlung zustande kommen. In beiden Fällen hat man etwas Unnötiges getan. Deswegen ist es wichtig herauszufinden, welche Massnahme gut oder schlecht herauskommt. Ich möchte nicht behaupten, dass die Indikation zur Meniskusoperation in allen Fällen hieb- und stichfest gestellt wird. Manchmal muss die Bilanz gezogen werden, dass der Eingriff dem Patienten nichts oder kaum etwas gebracht hat. Darum sind gut gemachte Vergleichsstudien als wichtig einzuschätzen. Die Grenzen der Aussagekraft müssen jedoch klar offengelegt werden, bevor die Message verbreitet wird. Man kann es den Journalisten aber nicht übelnehmen, wenn sie spektakuläre Aussagen unreflektiert übernehmen. Dass die Entscheidungsschwelle für einen Eingriff mit der endoskopischen Technik, an welchen Gelenken auch immer, tiefer liegt als bei der Notwendigkeit eines «offenen» Zugangs, liegt in der Natur der Sache. Die Herausforderung liegt darin, die Indikation möglichst wenig von der Morbidität des Zugangs, sondern vom erwarteten Nutzen für den Patienten bestimmen zu lassen.
Herr Dr. Dubs, wir danken Ihnen für das Gespräch.
O
Das Interview führte Renate Bonifer.
1. Sihvonen R et al.: Arthroscopic partial meniscectomy versus sham surgery for a degenerative meniscal tear. N Engl J Med 2013; 369: 2515–2524.
2. Kirkley A et al.: A randomised trial of arthroscopic surgery for osteoarthritis of the knee. N Engl J Med 2008; 359: 1097–1107.
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