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KONGRESSBERICHT
Nachhaltige Ernährungssysteme
Welche Rolle haben die Wiederkäuer?
Der Anteil des Dauergrünlands an der globalen landwirtschaftlich genutzten Fläche beträgt 68 Prozent. Zwar sind Wiederkäuer, die dieses Grünland nutzen, für die Emission von schädlichen Treibhausgasen verantwortlich. Doch auf die Bewirtschaftung des Graslandes zu verzichten, würde die Ernährung der immer noch wachsenden Weltbevölkerung gefährden. Prof. Urs Niggli, Präsident Institut für Agrarökologie und langjähriger Leiter des FiBL (Forschungsinstitut für biologischen Landbau), erläuterte die Stellung der Milch- und Fleischwirtschaft als Teil einer ganzheitlichen Landwirtschaft.
Im 20. Jahrhundert hat die Bevölkerung von 1,8 Mrd. auf 7 Mrd. Menschen zugenommen. Dabei hat sich die landwirtschaftlich genutzte Fläche nur wenig vergrössert. Das war durch die Intensivierung der Landwirtschaft möglich, z. B. durch Bewässerungstechnologien, neue Pflanzenzüchtungen, Düngung und chemischen Pflanzenschutz. Die Ernährung der heute 7,95 Mrd. Menschen wäre mit einer extensiven Landwirtschaft nicht möglich (1).
Die zwei Seiten der Intensivierung der Landwirtschaft
Die Ertragssteigerungen haben auch negative Konsequenzen (2), so kam es zu grossflächigen Bodenerosionen (3), der Wasserverbrauch steigt (4), und die Böden werden durch Stickstoff und Phosphor belastet, was zu einem Verlust an Biodiversität führt (5, 6). Jedoch hat die Intensivierung der Landwirtschaft dazu geführt, dass weniger Fläche für die Landwirtschaft eingesetzt werden muss. So wird heute global auf rund 600 Mio. Hektaren (ha) Getreide angebaut. Diese Fläche ist seit 1960 ziemlich konstant. Ohne Ertragssteigerung müsste die Fläche heute mehr als viermal so gross sein (7). So vermeidet die Intensivierung, dass mehr natürliche Ökosysteme in Landwirtschaftsland umgenutzt werden müssen, um die Ernährung zu decken.
Naturreservat gerettet
In der Demokratischen Republik Kongo sollte ein bestehendes natürliches Ökosystem, die Cuvette Centrale, ein Feuchtgebiet (40% der Fläche von Deutschland), durch Entwässerung in Landwirtschaftsland umgewandelt werden. Das hätte zur Freisetzung von 30 Mrd. Tonnen CO2 geführt, so viel wie die Emissionen der USA in den letzten 20 Jahren. Damit wären die Ziele von Paris bezüglich Treibhausgasen in weite Ferne gerückt. Auch wäre ein Gebiet mit grosser
Biodiversität verloren gegangen (8). Die Regierung konnte davon überzeugt werden, auf dieses Vorhaben zu verzichten. Für die UNO hat der Schutz der Feuchtgebiete zur Vermeidung von Treibhausgasen und zur Erhaltung der Biodiversität eine hohe Priorität.
Tierzucht und Treibhausgase
Nur bei pflanzlichen Produkten und bei der Milch entsteht weniger als 2 kg CO2 pro 1 kg Lebensmittel. Mehr CO2 verursacht die Produktion von Fleisch, bei Schweine- und Hühnerhaltung ist es etwas weniger als bei den Wiederkäuern, die bis zu 18 kg CO2 pro kg produziertes Lebensmittel erzeugen (9, 10). Man darf allerdings diese Daten nicht isoliert betrachten. Gerade die Wiederkäuer sind Teil eines komplexen Landwirtschaftssystems.
Grasland nutzen oder veganes Konzept?
Global sind 68 Prozent der weltweiten Agrarfläche Grasland, das mehrheitlich nicht gepflügt werden kann, weil es sich an steilen Lagen befindet oder der Boden für den Ackerbau zu nass ist. Die Verteilung des global landwirtschaftlich genutzten Landes zeigt die Abbildung. In rein veganen Szenarien würden zusätzlich zu den 24 Prozent der Getreidefläche, die heute direkt der menschlichen Ernährung dient, auch die 8 Prozent der Ackerfläche für Futtergetreide für Nutztiere direkt für die menschliche Ernährung verwendet. Zusätzlich könnte noch ein kleinerer Teil des Graslandes, vor allem die Kunstwiesen, die für den Ackerbau eine Bodenfruchtbarkeit aufbauende Funktion haben, für Getreide genutzt werden. Aber die 68 Prozent Grasland können nur durch Wiederkäuer in Proteinen – teilweise über die Milch – für die menschliche Ernährung nutzbar gemacht werden. Die Veganer begründen ihre Ernährung mit einer moralischen Verpflichtung gegenüber dem Tierwohl. Die Idee wird auch in den Medien häufig aufgegriffen.
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KONGRESSBERICHT
Agrarfläche global
Die Schweiz und Österreich haben eine ähnliche prozentuale Verteilung wie der globale Durchschnitt
8% 24%
Agrarflächenverteilung Deutschland
Deutschland weist einen geringeren prozentualen Anteil an Dauergrünland auf, dafür einen höheren Anteil an Ackerfläche
30 % 42 %
sowohl für Menschen und Nutztiere (siehe Abbildung rechte Seite). So ist es wohl zu erklären, dass in Deutschland die Diskussion über die vegane Ernährung sehr viel intensiver geführt wird als bei uns. In Deutschland wäre ein Szenario wahrscheinlich sogar möglich, wenn die 30 Prozent Ackerfläche für Kraftfutter direkt für die menschliche Ernährung genutzt werden könnte. Das ist eher eine Ausnahme, weltweit dominiert Grasland in den meisten Ländern (12).
Nebenprodukte des Ackerbaus = Tierfutter
68% 28 %
Dauergrünland (3,378 Mrd. ha)
Ackerfläche für Nutztiere (0,389 Mrd. ha)
Ackerland und Dauerkulturen für Menschen (1,166 Mrd. ha)
Dauergrünland
Ackerfläche für Nutztiere
Ackerland und Dauerkulturen für Menschen
Abbildung: Links: Verteilung der Agrafläche global in absoluten Zahlen und prozentual. Die Schweiz und Österreich weisen eine ähnliche prozentuale Verteilung auf. Rechts: Deutschland Verteilung der Agrarfläche prozentual
Doch das vegane Konzept bringt nicht die Lösung für das globale Ernährungsproblem. Die Weltbevölkerung wird weiter wachsen. Es wird prognostiziert, dass bis ins Jahr 2050 selbst bei einer Effizienzsteigerung die landwirtschaftlich genutzte Fläche vergrössert werden muss. Bei der heutigen Ernährungsweise würde das eine Zunahme von 401 Mio. ha Grasland und 192 Mio. ha Ackerland bedeuten (11).
Suffizienz-Szenario
Wünschenswert wäre ein Suffizienz-Szenario. Das müsste eine Reduktion des Konsums an tierischen Produkten beinhalten. Im Gegenzug sollte der Anteil an pflanzlichen Proteinen, wie Erbsen, Bohnen und anderen Hülsenfrüchten, erhöht werden. Inzwischen nimmt zudem die moderne Küche das Potenzial dieser Produkte wahr und integriert sie in ihr Repertoire. Ein weiterer wichtiger Ansatz ist die Reduktion von Foodwaste.
Ungleiche Ausgangslage verschiedener Länder
Die Schweiz und Österreich haben einen ähnlich hohen Anteil an Grasland wie der globale Durchschnitt (siehe Abbildung, linke Seite). Die Bauern werden sich auf eine Veränderung einstellen müssen, aber die Nutzung des Graslandes wird in der Schweiz und in Österreich bleiben. Davon unterscheidet sich Deutschland mit einem wesentlich kleineren Anteil Grasland und einem höheren Anteil Ackerfläche
Wenn sich die Menschheit in Zukunft mehr von pflanzlichen Ackerbauprodukten ernährt, wird es mehr Nebenprodukte des Getreideanbaus, aber auch des Obst- und Weinanbaus geben. Trester von Äpfeln, Kleie, Presskuchen bei der Ölherstellung können in riesigen Mengen als Kraftfutter für die Tierhaltung genutzt werden. Eine weitere ideale Quelle für Tierfutter wären recycelte, fleischlose Abfälle aus Küchen, auch aus Restaurants. Technologisch sind die Probleme, die zu BSE führten, vollständig gelöst (13). Würden Hühner und Schweine ausschliesslich mit Nebenprodukten des Ackerbaus und mit Speiseabfällen gefüttert, ginge die Population dieser Tiere zurück, wie die Modelle zeigen (14). Die frei werdende Ackerfläche könnte direkt für menschliche Ernährung genutzt werden. Momentan passiert aber genau das Gegenteil. Beispielsweise hat sich die globale Soja- und Hühnerproduktion zwischen 1961–2020 verzehnfacht, die Schweinezucht hat sich etwa verfünffacht (15). Auch der Fleischkonsum steigt global weiter an, wobei eine klare Korrelation zwischen Einkommen und Fleischkonsum besteht (16).
Verbesserung der Tierhaltung
Wegen der zurzeit immer noch wachsenden Weltbevölkerung kann nicht auf das Grasland verzichtet werden, davon ist Prof. Niggli überzeugt. Aber die Forschung muss sich für eine nachhaltige Wiederkäuerhaltung einsetzen. Es soll versucht werden, den Kraftfuttereinsatz zu verringern. Wie der Biolandbau schon gezeigt hat, kann man einen Raufutteranteil von 95 Prozent anstreben. Das Kraftfutter sollte nur in Phasen eingesetzt werden, wenn die Kuh einen hohen Energiebedarf hat, wie nach dem Abkalben. Ausserdem sollten die Tiere auf Gesundheit und Widerstandsfähigkeit, Lebensleistung und die Fähigkeit zur Raufutterverwertung gezüchtet werden. Man sollte berechnen, ob die Mehrkosten durch Kraftfutter und Tierarzt wirklich einen Zuwachs an Gewinn bringen (17).
Innovative Ansätze für eiweissreiche Ernährung
Ebenfalls macht der Fleischersatz Fortschritte. Ein Burger des Biochemikers Pat Brown, der unter anderem aus strukturiertem Weizenprotein, Kokosnussöl und Kartoffeleiweiss zusammengesetzt ist, schmeckt
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KONGRESSBERICHT
Zusammenfassung
• Empfehlenswert wäre ein höherer Anteil von pflanzlichen Proteinen: Erbsen, Bohnen, Sojabohnen, Linsen, Lupinen, Kichererbsen und andere Hülsenfrüchte.
• Die Nutzung des Graslandes ist bei der wachsenden Weltbevölkerung unverzichtbar.
• Bei der Fütterung der Wiederkäuer auf Grasland sollte man einen Raufutteranteil von 95 Prozent anstreben, wie er heute in der Biolandwirtschaft schon erreicht ist.
• Für die Fütterung von Schweinen und Hühnern sollten Nebenprodukte des Ackerbaus und der Spezialkulturen eingesetzt werden, was zu einer starken Reduktion dieser Tierbestände führen würde.
• Suffizienz als Ziel: weniger Fläche für Futtergetreide, weniger Fleischkonsum, weniger Food-Waste.
nach angebratenem Fleisch. Dafür sorgen die 2 Prozent pflanzliches Hämoglobin. Allerdings wird dieses vorwiegend aus gentechnisch veränderter Soja gewonnen, was wieder andere Akzeptanzprobleme schaffen kann. Auch wird versucht, Insekten auf den menschlichen Speiseplan zu setzen.
Ein grosses Potenzial könnten Algen haben. Man hat berechnet, dass eine Produktion von Algen auf einer Meerfläche in der Grösse von Portugal die ganze Menschheit ernähren könnte. Man könnte so versuchen, die Landwirtschaft zu entlasten.
Barbara Elke
Quelle: Urs Niggli. Die Rolle von Wiederkäuern in nachhaltigen Ernährungssystemen. Referat am Swissmilk-Symposium «Nachhaltig und pflanzenbasiert essen». Bern, 22. November 2021, Durchführung virtuell. Korrespondenzadresse Prof. Dr. Dr. Urs Niggli Präsident Institut für Agrarökologie Horngasse 5 5070 Frick E-Mail: urs.niggli@agroecology.science www.agroecology.science
Referenzen in der Onlineversion des Beitrags unter www.rosenfluh.ch/ernaehrungsmedizin-2022-01
Buch von Urs Niggli «Alle satt?» Ernährung sichern für 10 Mio. Menschen
https://www.rosenfluh.ch/qr/ buch-niggli
KONGRESSBERICHT
Referenzen: 1. Agroscope 2. Steffen W et al.: Planetary boundaries: Guiding human develop-
ment on a changing planet. Science. 2015 doi:10.1126/ science.1259855 3. Pimentel DC et al.: Environmental and Economic Cost of Soil Erosion
and Conservation Benefits. Science 1995; 267: 1117-23. 10.1126/ science.267.5201.1117. 4. FAO: Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen 5. Steffen et al.: Planetary boundaries: Guiding human development on a changing planet, Science 2015; 347: 1259855. DOI: 10.1126/science.1259855 6. Rockström J et al.: A safe operating space for humanity. Nature 2009: 461, 472-475. https://doi.org/10.1038/461472a 7. Quelle: OurWorldInData.org/land-use.ccBY 8. Dargie G et al.: Age, extent and carbon storage of the central Congo Basin peatland complex. Nature 2017; 542: 86-90. https://doi. org/10.1038/nature21048 9. Trydeman Knudsen M et al.: Environmental assessment of organic soybean (Glycine max.) imported from China to Denmark: A case study. Journal of Cleaner Production 2010; 18:1431-1439. doi:10.1016/j.jclepro.2010.05.022 10. Niggli U, Fliessbach A, Hepperly P, Scialabba N: Low Greenhouse Gas Agriculture: Mitigation and Adaptation Potential of Sustainable Farming Systems. FAO, Rome, Italy. Available at Web site ftp://ftp. fao.org/ docrep/fao/010/ai781e/ai781e00.pdf 11. WIR analysis based on FAO (2017a), UNDESA (2017) and Alexandratos and Bruinsma (2012). 12. FAOSTAT 2011; BMEL 2018. 13. Schader C et al.: Impacts of feeding less food-competing feedstuffs to livestock on global food system sustainability. J R Soc Interface 2015;12(113): 20150891. doi:10.1098/rsif.2015.0891 14. Leclère D et al.: Bending the curve of terrestrial biodiversity needs an integrated strategy. Nature 2020; 585: 551-556. https://doi. org/10.1038/s41586-020-270515. FAOSTAT/FAPRI 16. World Bank 2006 und FAO 2006b in Steinfeld et al., 2006. 17. Eisler MC et al.: Agriculture: Steps to sustainable livestock. Nature 2014; 507(7490): 32-34. doi:10.1038/507032a
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