Transkript
FORTBILDUNG
Klinische instrumentierte Ganganalyse
Das Gangbild in Zahlen
Die instrumentierte Ganganalyse ist eine funktionelle Untersuchung des Bewegungsapparats und ermöglicht die objektive Quantifizierung des Gangbilds. In der klinischen Anwendung unterstützt sie die Beurteilung der Ausgangssituation vor einer Behandlung, beispielsweise als Überprüfung von Operationsindikationen. Sie dient auch zur Evaluation operativer Eingriffe oder konservativer Therapien, zum Beispiel orthopädischer Hilfsmittel. Des Weiteren hilft die instrumentierte Ganganalyse bei der individuellen Therapieplanung oder bei frühzeitiger Erkennung von Gangbildverschlechterungen. Die Daten können sowohl mit einem Normalkollektiv als auch vor und nach einer Behandlung miteinander verglichen werden. Somit ermöglicht die instrumentierte Ganganalyse eine Beurteilung des Defizits und der Kompensationsmechanismen eines Patienten.
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Katrin Bracht-Schweizer Elke Viehweger Jacqueline Romkes
von Katrin Bracht-Schweizer1, Elke Viehweger1, Jacqueline Romkes1
Einleitung
D as Gehen ist ein zyklischer Bewegungsablauf, der bei allen gesunden Menschen nach demselben Grundmuster abläuft. Es ist ausgesprochen reproduzierbar und findet überwiegend im Unterbewusstsein statt. Es ist unsere alltägliche Form des Fortbewegens, und wenn es eingeschränkt, beschwerlich oder schmerzhaft ist, wird das schnell als belastend empfunden. Deshalb hat die Funktion des Gehens in verschiedenen medizinischen Fachbereichen sowie bei Therapeuten und Orthopädietechnikern einen grossen Stellenwert. Die klinische instrumentierte Ganganalyse ist eine funktionelle Untersuchung des Bewegungsapparats und der Dynamik während des Gehens. Je nach Fragestellung kann eine einfache Videoanalyse ausreichen. Zur detaillierten Diagnostik der einzelnen Gelenke und Körperebenen benötigt es jedoch eine dreidimensionale instrumentierte Ganganalyse (3DGA). Das bietet die Möglichkeit, das individuelle Gangbild objektiv in Zahlen auszudrücken und somit präzis zu dokumentieren und zu beschreiben. Mit der Kombination simultan angewendeter Messtechniken können komplexe Zusammenhänge zwischen den Bewegungen und den dabei involvierten Kräften und Muskelfunktionen analysiert werden (1). Eingesetzt wird sie bei Gangstörungen von Patienten mit spezifischen Krankheitsbildern (z. B. Multiple Sklerose, Down-Syndrom, muskuläre Dystrophien), Fehlbildungen (z. B. Zerebralparese, Myelomeningozele, Beinachsenfehlstellung, Beinlängendifferenz, Schlaganfall) oder muskuloskelettalen Beschwerden und Verletzungen (z. B. Amputation [Fuss- oder Beinprothesen], Nervenschädigung, Gelenkschädigung). Hierbei trägt die 3DGA zur Überprüfung von Operationsindikationen, zur Verbesserung und Optimierung von orthopädischen Hilfsmitteln (Schuhe, Einlagen, Orthesen oder
1 Universitäts-Kinderspital beider Basel, Neuroorthopädie, Labor für Bewegungsuntersuchungen, Basel
Prothesen), zur individuellen Therapieplanung oder zur Erkennung von Gangbildverschlechterungen bei (2, 3).
Die dreidimensionale instrumentierte Ganganalyse Die 3DGA wird als der Goldstandard der Ganganalyse bezeichnet und besteht aus verschiedenen Komponenten. Generell findet die Analyse beim freien Gehen im Labor statt. Alternativ sind Ganganalysen auf dem Laufband möglich. Eine ausführliche klinische Untersuchung der unteren Extremitäten des Patienten gehört immer dazu. Sie umfasst die passive Beweglichkeit, die manuelle Muskelkraft, die Muskellänge und gegebenenfalls die Beurteilung der Spastik bei neuromuskulären Erkrankungen. Um das Computermodell möglichst individuell auf die Masse des Patienten zu skalieren, werden anthropometrische Masse wie Körpergrösse, Gewicht, Beinlänge, femorale und tibiale Torsionsverhältnisse, Knie-, Knöchel- und Ellbogenbreite erfasst.
Kinematik Die kinematischen Daten quantifizieren die Bewegung von Körpersegmenten im Raum und zueinander (Gelenkwinkel). Um die Bewegungen der Körpersegmente beim Gehen zu erfassen, werden dem Patienten kleine reflektierende Kügelchen (Marker) auf bestimmte anatomische Strukturen geklebt. Diese Marker definieren die einzelnen Körpersegmente (Abbildung 1), aus denen anschliessend die Gelenkwinkel (Kinematik) für alle drei Körperebenen (sagittal, frontal, transversal) berechnet werden. Die Patienten gehen dafür eine definierte Strecke von ca. 8 bis 12 m im Labor mehrere Male auf und ab. Dabei werden die Markerpositionen im Raum mit ca. 10 bis 14 Infrarotkameras registriert. Das benutzte Markermodell kann zwischen verschiedenen Laboren leicht unterschiedlich ausfallen, allerdings haben sich im klinischen Bereich einige Standardmodelle etabliert (4–7).
Kinetik Bei der Kinetik werden die Kräfte, die beim Gehen auf den Boden übertragen werden, berücksichtigt. Die auf den Körper einwirkenden Kräfte können Fragen nach der
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Abbildung 1: Reflektierende Marker definieren die Körpersegmente. Mit mehreren Infrarotkameras wird die dreidimensionale Position der Marker im Raum berechnet. (© J. Romkes)
Ursache oder der Kontrolle einer Bewegung beantworten. Die Patienten gehen über im Boden eingelassene Kraftmessplatten, die die Bodenreaktionskräfte mit ihrem Kraftangriffspunkt, ihrer Kraftrichtung und Grösse aufzeichnen. In Kombination mit den kinematischen Daten und anthropometrischen Massen des Patienten können daraus die externen Netto-Drehmomente und die mechanische Leistung für die einzelnen Gelenke berechnet werden. Die Erfassung von Kinetikdaten ist nur bei Patienten ohne Gehhilfen wie Stöcke oder Rollator möglich.
Elektromyografie Auch die Muskelinnervation beim Gehen von Gesunden folgt einem relativ einheitlichen Muster und kann bei Patienten stark abweichen (8). Daher wird die Aktivität der oberflächlichen Beinmuskulatur (4 bis 8 Muskeln pro Bein) simultan zur Kinematik und Kinetik mittels Elektromyografie (EMG) aufgezeichnet (9). Dazu leiten Elektroden auf der Hautoberfläche über dem Muskelbauch die Summenaktionspotenziale ab, die bei der Aktivierung eines Muskels entstehen. Durch die EMG-Aufzeichnung der relevanten Beinmuskeln wird die zeitliche Muskelkoordination beim Gehen dargestellt (10).
Pedobarografie Um detailliertere Information über die Abrollbewegung und die einzelnen Fussregionen zu erhalten, kann zusätzlich eine plantare Druckmessung (Pedobarografie) erfolgen. Hierbei geht der Patient über eine Druckmessplatte, die über eine Vielzahl kleiner Drucksensoren die Intensität des Drucks unter dem Fuss lokalisiert. So können Aussagen über die Belastung unter spezifischen Fussregionen gemacht werden. Sinnvoll ist eine Fussdruckmessung vor allem in Kombination mit einem kinematischen Fussmodell, um spezifische Fussprobleme oder Fussfehlstellungen zu analysieren (11, 12).
Muskuloskelettale Modellierung Die Kinematik und die Kinetik der 3DGA bieten zudem die Grundlage für weitere detailliertere Berechnungen mithilfe der muskuloskelettalen Modellierung (13, 14). Hierbei können beispielsweise die Längen einzelner Muskeln, deren Kraftentfaltung und Kontraktionsgeschwindigkeit berechnet werden (15). Eine Finite-Elemente-
Modellierung kann den Anpressdruck in den Gelenken abschätzen, zum Beispiel die Verteilung des Anpressdrucks auf den Knorpelüberzug des Tibiaplateaus (16).
Auswertung der Ganganalyse Bei der Prozessierung der Daten wird die Bewegung des Gehens in Gangzyklen unterteilt. Ein Gangzyklus beginnt mit dem ersten Bodenkontakt eines Fusses und endet mit dem darauffolgenden Bodenkontakt des gleichen Fusses (8, 17). Somit ergibt sich eine Aufteilung in einen linken und rechten Gangzyklus. Im ersten Teil des Gangzyklus, in der Standphase, hat der Fuss Bodenkontakt und geht nach dem Abheben in die Schwungphase über. Die verschiedenen Phasen eines Gangzyklus werden als prozentuale Verteilung angegeben, wobei ein kompletter Gangzyklus als 100% definiert ist (8, 17). Die Daten der Ganganalyse werden danach im optimalen Fall in einem interdisziplinären Team, bestehend aus Ärzten und dem Personal des Bewegungslabors (Bewegungswissenschaftlern, Biomechanikern, Ingenieuren, Physiotherapeuten, Orthopädietechnikern), diskutiert. Hierbei werden zunächst die Werte der klinischen Untersuchung auf passive Kontrakturen, Kraftdefizite oder allfällige Spastik abgesucht. In der Regel können bereits aus der einfachen Videoaufnahme erste Informationen über das Gangbild gewonnen werden. Tritt der Patient zum Beispiel zuerst mit dem Vorfuss statt mit der Ferse auf?
Weg-/Zeitparameter Für die genauere Quantifizierung des Gangbilds werden die Weg-/Zeitparameter aus der 3DGA betrachtet, die beispielsweise auf eine Asymmetrie des Gangbilds hinweisen können. Die Weg-/Zeitparameter beinhalten Werte wie Kadenz, Schrittlänge, Ganggeschwindigkeit (Produkt aus Schrittlänge und Schrittfrequenz), Schrittbreite, Dauer der Stand- und Schwungphase sowie der Einbein- und Doppelstandphase. Diese Werte sind stark abhängig von der Ganggeschwindigkeit. Weil Patienten meist langsamer gehen als gesunde gleichaltrige Personen, sollte das bei einem Vergleich mit Normwerten berücksichtigt werden. Die Weg-/Zeitparameter können auf die Körpergrösse/Beinlänge normalisiert werden, damit ein direkter Vergleich zwischen Personen möglich ist (18).
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Abbildung 2: Arbeitsprozess einer instrumentierten klinischen Ganganalyse (mod. nach Romkes [19])
Kinematik und Kinetik Die Kurven der Kinematik und der Kinetik werden in der Regel für jedes Gelenk in der Sagittal-, der Frontal- und der Transversalebene abgebildet. Dabei werden die Daten eines linken und eines rechten Gangzyklus überlagert, um einen Seitenvergleich zu erleichtern. Die Patientendaten werden mit einem Normband ergänzt, das veranschaulicht, in welchem Bereich sich gesunde Personen bewegen. Die x-Achse der jeweiligen Grafiken bezeichnet den Gangzyklus von 0 bis 100% und die y-Achse bezeichnet das Bewegungsausmass als Rotationswinkel in Grad. Eine vertikale Linie bei etwa 60% des Gangzyklus unterteilt die jeweilige Kurve in die Stand- und die Schwungphase (17). Abbildung 2 zeigt den Prozess der klinischen instrumentierten Ganganalyse vom Moment des Eintreffens des Patienten im Ganglabor bis zur Befundmitteilung.
Exemplarisches Fallbeispiel Hintergrund Eine 16-jährige Patientin mit einer Diagnose einer neuromuskulären Erkrankung bei unklarer Grunderkrankung (Differenzialdiagnose neurogene Myopathie) wird aus der neuroorthopädischen Sprechstunde für eine klinische Ganganalyse überwiesen. Laut Unterlagen zeigen sich bei der Patientin zunehmend asymmetrische Spitzfüsse. Mittels 3DGA soll die Frage nach operativen Behandlungsvorschlägen geklärt werden.
Klinische Untersuchung Die klinische Untersuchung zeigt eine normale passive Beweglichkeit der Hüft- und Kniegelenke ohne Beinlängendifferenz. Beide Sprunggelenke weisen ein Dorsalextensionsdefizit von links 20° und rechts 10° bei vollständig gestrecktem Knie auf. In 90° Knieflexion verbessert sich die Dorsalextension jeweils um 5°. Eine Spastik ist nicht vorhanden, und die Muskelkraftwerte sind leicht reduziert.
Kinematik Beim Barfussgang zeigt das Video einen beidseitigen Spitzfussgang. Die Weg-/Zeitparameter zeigen ein symmetrisches Gangbild. Die Ganggeschwindigkeit liegt an der unteren Normgrenze bei reduzierter Schrittlänge
und reduzierter Schrittbreite. Die Doppelstandphase ist verlängert, die Einbeinstandphase verkürzt. Abbildung 3 zeigt eine Auswahl der Ganganalysedaten der Patientin. In der Sagittalebene verifiziert die Sprunggelenkkinematik (Dorsal-/Plantarflexion) beidseits den Spitzfussgang. Eine Dorsalextension wird über den gesamten Gangzyklus nicht erreicht. Während der ersten Hälfte der Schwungphase (ca. 65–85% des Gangzyklus) besteht allerdings beidseits eine Dorsalflexionsbewegung, was eine Fallfüssigkeit ausschliesst. Auffällig ist die fehlende (rechts) und reduzierte (links) Knieflexion bei der Gewichtsübernahme während 0 bis ca. 12% des Gangzyklus. Das Becken ist sagittal vermehrt nach vorn gekippt, wodurch die Hüftgelenke beidseits leicht flektiert sind. Die Kinematik in Frontal- und Transversalebene sowie des Oberkörpers zeigt keine klinisch relevanten Abweichungen.
Kinetik und EMG In der Kinetik zeigt sich ein externes Netto-Extensionsmoment beider Kniegelenke über die gesamte Standphase. Das bedeutet, dass in der Summe die Wirkung auf das Kniegelenk «streckend» ist und die internen Strukturen wie Kapsel, Sehnen, Bänder oder Muskeln ein Netto-Flexionsmoment realisieren. Die Patientin generiert trotz des Spitzfussgangs eine gute Sprunggelenkleistung während der Abstossphase. Die EMG zeigt eine reduzierte Aktivität des M. tibialis anterior gegen Ende der Schwungphase (rechts > links), was typisch für einen Spitzfussgang ist. Zur Stabilisierung des Sprunggelenks während der Standphase zeigt sich beidseits eine Co-Aktivität des M. tibialis anterior und des M. gastrocnemius medialis. Auffällig ist die korrekte zeitliche Aktivierung des M. gastrocnemius medialis, was eher untypisch für einen Spitzfussgang ist. Der M. rectus femoris zeigt beidseits eine verlängerte Aktivität, die eine Beckenvorkippung begünstigt.
Gang mit Schuhen und Einlagen Die Patientin hatte am selben Termin eine 3DGA mit Schuhen und orthopädischen Einlagen mit einer Fersenerhöhung von 2 cm beidseits. Im Vergleich zum Barfussgang zeigen die Daten eine deutliche Besserung in Richtung Normwerte (Abbildung 4). Die kinematischen
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Abbildung 3: Teilergebnisse der klinischen Ganganalyse eines Patienten beim Barfussgang mit selbst gewählter Ganggeschwindigkeit. Dargestellt ist die Kinematik von Becken, Hüftgelenk, Kniegelenk und Sprunggelenk in allen drei Körperebenen. Die Kinetik umfasst die Netto-Drehmomente und die Leistung von Hüfte, Knie und Sprunggelenk. Die elektromyografischen Daten zeigen das Aktivierungsmuster für 6 Muskeln je Bein. (© J. Romkes)
Daten zeigen im Sprunggelenk zwar noch überwiegend eine Position in Plantarflexion (links > rechts), aber beidseits wird ein Fersenballengang erreicht. Positiv sind die Präsenz einer Knieflexion sowie ein externes Knieflexionsmoment während der Gewichtsübernahme am Anfang der Standphase. In der EMG zeigt sich durch den Fersenballengang beidseits eine Normalisierung der M.-tibialis-anterior-Aktivität ab Mitte der Schwungphase.
Fazit Barfuss besteht bei der Patientin ein deutlicher Spitzfussgang (links > rechts) mit fehlender Knieflexion am Anfang der Standphase (rechts > links). Die Schuhe mit Einlagen und Fersenerhöhung von 2 cm bringen der Patientin eine deutliche Verbesserung des Gangbilds, vor allem der Kniekontrolle. Als operative Korrektur zum Ausgleich des Spitzfusses käme eine Achillessehnenverlängerung infrage. Insbesondere bezüglich des Risikos für eine Verschlechterung und der unklaren Prognose der Grunderkrankung ist allerdings Vorsicht geboten. Zur Simulation einer Achillessehnenverlängerung sollte zuerst ein Test mit Botulinumtoxin-Typ-A-Injektionen in die Triceps-surae-Muskulatur beidseits erfolgen. Ca. 6 Wochen nach der Botulinumtoxin-Injektion sollte eine erneute 3DGA durchgeführt werden, um abzuschätzen, ob die Patientin von einer solchen Operation profitieren würde oder nicht.
Mögliche Anwendung und Fragestellungen für eine 3DGA Im klinischen Alltag liefert die 3DGA essenzielle Informationen zur Operationsindikation oder für die Opera-
tionsplanung (2, 20). Kann ein Zehengang bei einem Patienten mit infantiler Zerebralparese mit einer Achillessehnenverlängerung korrigiert werden, oder gibt es noch andere Gründe für den Zehengang wie beispielsweise eine übermässige Knieflexion? Braucht es gleichzeitig weitere Korrekturen wie andere Strukturen/ Gelenke im Sinne einer Mehr-Etagen-Korrektur (21)? Wie bereits im Fallbeispiel demonstriert, können mithilfe der Ganganalyse die orthopädischen Hilfsmittel überprüft, verbessert und individuell angepasst werden, um das Gangbild bestmöglich zu unterstützen. Neben dem Schuhausgleich bei Patienten mit einer Beinlängendifferenz ist auch die Effektivität einer Unterschenkelorthese auf die Korrektur der Kniefunktion bei Patienten mit infantiler Zerebralparese eine häufige Fragestellung für die 3DGA (22). Des Weiteren kann die 3DGA in der Verlaufskontrolle eingesetzt werden, um allfällige Gangbildverschlechterungen zu detektieren und geeignete Therapien frühzeitig einzuleiten (23). Gerade bei neurologischen Patienten, bei denen die Gangbildabweichungen auf mehreren Ebenen vorkommen, ist das Erkennen von Gangbildveränderungen von blossem Auge unmöglich. Die Evaluierung des Effekts spezifischer Operationen ist ein weiteres Einsatzgebiet der 3DGA (24).
Ausblick Der grösste Anwendungsbereich der 3DGA ist derzeit noch in der Neuroorthopädie zu finden, eine Ausweitung auf Fragestellungen aus anderen Fachbereichen wie der Orthopädie und der Neurologie ist jedoch deutlich erkennbar. Zunehmend werden zum normalen
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Abbildung 4: Markante Unterschiede (Pfeile) in den Daten beim Vergleich von Barfussgang und Gehen mit Schuhen und Einlagen mit einer Fersenerhöhung von 2 cm beidseits. (© J. Romkes)
Gehen komplexere funktionelle Bewegungen gemessen, wie Treppensteigen, Kniebeugen und reaktive Sprünge, die für Fragestellungen bei Knie- und Hüftpatienten sowie im Sportbereich hilfreich sind. Auch die Erweiterung der konventionellen Marker-Modelle auf die Wirbelsäule erlaubt in Zukunft eine Ausweitung der klassischen 3DGA auf zusätzliche Fragestellungen, die den Rumpf und die Wirbelsäule betreffen (25, 26). l
Korrespondenzadresse: Dr. Jacqueline Romkes Universitäts-Kinderspital beider Basel Neuroorthopädie, Labor für Bewegungsuntersuchungen
Spitalstrasse 33 4056 Basel
E-Mail: jacqueline.romkes@ukbb.ch
Merkpunkte:
● Die instrumentierte Ganganalyse ist eine funktionelle Untersuchung des Bewegungsapparats und ermöglicht die Objektivierung und die Quantifizierung des Gangbilds.
● Sie wird bei komplexen Gangstörungen bei Patienten mit spezifischen Krankheitsbildern, Fehlbildungen oder Beschwerden und Verletzungen des Bewegungsapparats eingesetzt.
● Hauptbestandteile sind neben einer klinischen Untersuchung die quantitative Erfassung des Bewegungsablaufs von Körpersegmenten und Gelenken mittels der Motion-Capture-Technik sowie die Quantifizierung der Bodenreaktionskräfte, der Muskelaktivität und des plantaren Fussdrucks.
● Die Ergebnisse dienen zur Überprüfung von Operationsindikationen, zur Beurteilung von konservativen Therapien und Behandlungsergebnissen, zur individuellen Therapieplanung sowie zur frühzeitigen Erkennung von Gangbildverschlechterungen.
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