Transkript
FORUM
Aus der Sicht eines Psychiaters
MATTHIAS NEUENSCHWANDER
Unlängst habe ich in einem Forum der Psychiater einen etwas provokativen Text zu unserer zunehmend unerfreulichen Position im Gesundheitswesen geschrieben (siehe Kasten), der aber – erwartungsgemäss – auf keinerlei Echo gestossen ist. Einige Kollegen haben zuvor geklagt (und sich «verletzt» gezeigt), wie respektlos und «böse» die Versicherungen mit uns umgehen würden. Ich kann in diesem Zusammenhang die aktuellen Mitteilungen und Einschätzungen des Vereins FMGS (Freiberufliche medizinische Grundversorger/innen Schweiz) nur bestätigen (vgl. Mitgliederinformation 2014/2). Was für die Hausärzte zutrifft, trifft in gleichem Mass (ökonomisch wie auch psychologisch) auch auf die Psychiater zu. Es scheint sich nicht nur eine schlichte Verweigerung des Realitätsbezugs, sondern auch eine fatalistische Ergebenheit unter uns Berufskollegen und -kolleginnen ausgebreitet zu haben. Wie auch immer man die Qualität des Tarmed einschätzen mag (ich halte ihn nicht für sachgerecht), das Hauptübel ist die «Kostenneutralität». Wie konnte man sich berufspolitisch auf diese selbstschädigende und demütigende Auflage einlassen? Und warum bekämpft man sie nicht wenigstens nachträglich? Es gibt im Gesundheitswesen so wenig wie in anderen Bereichen der modernen Volkswirtschaft «Kostenneutralität«. «Neutral» bleiben – das heisst im Klartext: faktisch um den Betrag der jährlichen Teuerung sinken – sollen nur die Löhne der zentralen Akteure. Für wie dumm lassen wir uns eigentlich verkaufen? Jeder Ökonomiestudent lacht uns aus!
Die Hausarztinitiative Und der aktuelle Gegenvorschlag zur Hausarztinitiative, welcher vom entsprechend «informierten» Stimmvolk angenommen wurde? Eine Mogelpackung, die schon von Weitem zum Himmel stinkt! Während wir im Militär lernten, dass die Triage auch unter extrem schwierigen Bedingungen in die Hand des erfahrensten Kollegen gehört, wollen (oder sollen?) ausgerechnet die Apotheker oder Krankenpfleger diese anspruchsvolle Aufgabe übernehmen! (Ich war einmal unfreiwillig Zeuge, wie ein Apotheker seinem Kunden mit einem postoperativ hoch geschwollenen und livide verfärbten Finger am Nebentresen eine banale Wundsalbe «zum Einreiben» verkaufte.) Nur berufsfremde (oft selbsternannte) «Fachleute» können so eine Bieridee ernsthaft vertreten. Wo sind da unsere Vertreter und Vertreterinnen in der Politik, die wir Jahr für Jahr mit unseren Mitgliederbeiträgen teuer bezahlen? Mit dem sattsam bekannten Apothekerslogan «Wer verschreibt, verkauft nicht» liesse sich die – im Nationalrat inzwischen durchgewinkte – Rezeptur verschreibungspflichtiger Medikamente durch die Apotheker doch locker bekämpfen (gleich wie die Selbstdispensation im Kanton Bern, die in den 1990erJahren dank der Apothekerpropaganda abgeschossen wurde)! Aber nein, die Ärzte und Apotheker haben sich, wie man aus der Zeitung erfahren konnte, «friedlich geeinigt» – indem es die Apotheker einfach dürfen. (System: Du stiehlst mir 100 Franken, ich zeige dich an, und der Richter verurteilt dich zur Rückgabe von 50 Franken, dann ist’s eine gerechte Lösung).
Wettbewerb Und wie steht es eigentlich mit dem «Wettbewerb im Gesundheitswesen»,
den die Politiker immer wieder fordern? Können wir Ärzte wirklich einen Wettbewerb wollen, der zwischen den Kassen stattfinden soll? Diese produzieren ja nichts, sondern managen nur das Geld der Patienten. Ihre einzige Möglichkeit, Kosten zu sparen, besteht darin, uns Ärzte unter Druck zu setzen und Knebelverträge zu erzwingen. Die Restriktionen gegenüber der Ärzteschaft werden dann unter dem Deckmantel «kreative Versicherungsmodelle» professionell vermarktet. Die Rede vom Sparen ist etwa so aufrichtig, wie es Werbegeschenke (z.B. Fitnessgutscheine) sind, die in der Kostenstatistik als «Prävention» deklariert werden. Wie können Ärzte gegen eine öffentliche Grundversicherung werben und naiv meinen, dass wir mit konkurrierenden Versicherungen (die ihren CEO stolze Boni für die guten Zahlen ausrichten, die sie auf unserem Buckel erwirtschaftet haben) besser fahren würden als mit einer öffentlichen Kasse, in welcher alle Parteien paritätisch vertreten sind? Selbstverständlich müsste ihre Zahlungspflicht auf die wirklich notwendigen Leistungen beschränkt werden; alles Weitere könnte durch die verbleibenden Kassen privat versichert werden. Das Gerede – auch innerhalb der Ärzteschaft – über den erwünschten kassengesteuerten «Wettbewerb» und die von den Kassen gewährten Anreize entpuppt sich bei näherem Hinsehen als unreflektiert übernommene Ideologie, die ein liberales Mäntelchen trägt und uns in Wirklichkeit versklavt. Wenn Wettbewerb, dann Konkurrenz unter Anbietern von effektiven Leistungen! Nur das ist wirklich liberal. Dafür sollten die ach so liberalen «Bürgerlichen» und unsere Berufspolitiker kämpfen! Warum kann ich als erfolgreicher Paartherapeut, der ständig Anfragen zurückweisen muss, eigentlich nicht Marktpreise verlangen, wie das doch in einem liberalen System normal wäre? Hohe Nachfrage heisst doch nichts anderes, als dass ich mein Produkt zu billig verkaufe. Mit dem früheren System von verschiedenen Tarifklassen würde ich mit Sicherheit bedeutend besser verdienen. Nur: Warum bin ich so dumm, auch ohne diesen Anreiz gut zu arbeiten? Nach den Theorien der Ökonomie (welche unsere Gesundheitspolitik massgeblich bestimmen, deren wissenschaftlicher Glanz aber längst
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Wer sich nicht wehrt, verdient kein Mitleid
Im Psychiaterforum habe ich die folgenden Überlegungen mitgeteilt (leicht angepasst und gekürzt). «Wir nehmen die Fehlentwicklungen alle wahr, und wir haben wohl alle schon Fälle erlebt von absurden Verteuerungen und unnötigem Leiden der Patienten aufgrund von anmassenden Fehlentscheiden von Vertrauensärzten, gekauften Gutachtern und ihren rein ökonomisch denkenden Auftraggebern. Und wir geben uns – wohl auch weiterhin – brav und unverdrossen Mühe, die üblen Folgen von Ignoranz, Arroganz, Ideologie und Machtmissbrauch mit zusätzlichem Einsatz auszubügeln. Alle behaupten, es «gehe ja letztlich um die Patienten». Und die Ökonomen stellen befriedigt fest, dass es «noch Luft im System» habe, man also die Schraube noch etwas stärker anziehen könne. So schalten wir halt einen Gang höher, drehen noch schneller im Hamsterrad und kompensieren nach Möglichkeit die Fehler derer, die unsere Arbeit kontrollieren und mit der Peitsche knallen. Gleichzeitig und gehorsam liefern wir Zahlen an Trustcenters, die (seit Jahren!) zu mehr Gerechtigkeit führen sollen. Nach Auskunft eines «Zahlensammlers» habe sein Center verhindern können, dass der Taxpunktwert in den letzten Jahren (mit konstanter Teuerung) nach unten angepasst worden sei. Welch stolzer Erfolg!
Aber eben, ändern tun wir mit Klagen und Kassandrarufen nichts. Es ist einmal mehr das für unseren Berufsstand altbekannte Problem der Politikverweigerung. Es ist eine Tatsache, dass wir (und mit uns unsere Patienten) an Respekt und Anerkennung verlieren. Im ökonomisch wertenden Umfeld sind wir mittlerweile «Looser» und werden dem entsprechend be- und gehandelt. Welche andere Berufsgruppe als die Ärzte lässt sich – trotz Fortschritt und zunehmender Nachfrage und Leistung – jahrzehntelang «Kostenneutralität» aufzwingen? Seit vielen Jahren zeigen alle Teuerungsparameter aufwärts – nur unser Lohn als Psychiater in der Praxis hat sich in 30 Jahren, seit Mitte der 1980er-Jahre, kaufkraftmässig ungefähr halbiert. In der gleichen Zeitspanne bezahlte jeder von uns gehorsam an Trustcenters, Berufs- und Standesorganisationen über 30 000 Franken Mitgliederbeiträge. Was läuft da falsch? Man vergleiche: Gegenwärtig kämpfen die Apotheker darum, auch «richtige» Medikamente verschreiben zu dürfen. Die gleichen Apotheker, welche bezüglich Selbstdispensation der Ärzte seit Jahren im Chor mit den meisten Politikern Zetermordio zu schreien pflegen (und von nicht wenigen unserer Kollegen dafür auch noch Verständnis ernten), setzen mit grösster Selbstverständlichkeit ihre Interessen durch. Macht hier jemand aus unseren Reihen auch nur einen Mucks? Gibt es die angebliche Ärztelobby überhaupt? Auf welcher politischen Seite stehen unsere Ärzte im Parlament eigentlich?
Nein, das Abendland wird nicht untergehen,
aber der Primat der Ökonomie ist längst
daran, den hintersten Winkel unseres Le-
bens zu durchdringen. Wir erleben quasi die
«Renaturierung» der Gesellschaft: «Zuerst
das Fressen, dann …» Wenn wir diese Rea-
litäten weiterhin – in einer gewissen mora-
lischen Überheblichkeit (oder auch nur im
Elfenbeinturm) – verleugnen, müssen wir
die Konsequenzen tragen («Wer zu spät
kommt, den …») und nicht klagen. Nur er-
weisen wir mit unserer unendlichen Duld-
samkeit weder uns noch unseren Patienten
einen Dienst. Wir müssen uns behaupten
lernen, sowohl auf berufspolitischer Ebene
als auch im Kleinen, so wie es alle anderen
auch müssen! Meine persönliche Erfahrung
war leider bisher so, dass von Kollegenseite
keinerlei Support (wenn nicht sogar Gegner-
schaft) zu spüren war, wenn man auch nur
ansatzweise versuchte, sich etwas quer-
zustellen. Brutal halt, aber leider wahr:
Wer sich nicht wehrt, verdient kein Mitleid.
Also, bitte aufhören zu klagen, endlich
Klartext reden und vielleicht sogar einmal
handeln …»
O
Matthias Neuenschwander, FMH Psychiatrie, Bern
am Zerbröckeln ist) hätte ich beim bestehenden Festpreis meine Qualität längst senken müssen, bis die Nachfrage wieder stimmt. Dieses System kennen wir vom ehemaligen Ostblock – und niemand kann einen derartigen Sozialismus im Gesundheitswesen wollen.
Fazit Bedenklich: Wir haben heute (als Erbe der Ära Dreifuss-Piller-Brunner) viele sozialistische, kostentreibende und unsinnige Elemente im Gesundheitswe-
sen, welche wir im Alltag tapfer (und mit Verlust) kompensieren und welche nun durch die Politik mit pseudoliberalen, demütigenden und untauglichen Rezepten korrigiert werden sollen. Kleines Beispiel für die Umsetzung der «wissenschaftlichen» Ökonomie: Ich werde jetzt mit 100 Fränkli geködert, wenn ich den Bericht an die Visana KTG etwas früher abschicke (sonst erhalte ich nur 60 Franken) – notabene für einen Bericht, für den ein Jurist locker 300 Franken verlangen würde. Warum wehren wir uns nicht gegen
diese unsinnige Diktatur der Arroganz
(oder auch Inkompetenz)? Man kann
keinen anderen Schluss ziehen, als dass
sich aufseiten der Ärzte leider kein
Wille ausmachen lässt, die Situation zu
verändern beziehungsweise die Fehl-
entwicklungen zu stoppen. Bald ist es
5 nach 12, und wir werden unsere einst
so starke Position weitgehend selbst-
verschuldet verloren haben.
O
Matthias Neuenschwander, Bern
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