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Fibromyalgie – eine Übersicht
FORTBILDUNG
Das Fibromyalgiesyndrom ist durch chronische Schmerzen in unterschiedlichen Bereichen des Körpers und Begleitsymptome gekennzeichnet. Die Diagnose erfolgt anhand klinischer Merkmale. Zu den Behandlungsoptionen gehören Sport, Schulungen, kognitive Verhaltenstherapien und Medikamente.
In einem neuen Kriterienkatalog des ACR von 2010 wird die Fibromyalgie deshalb nun anhand eines «Widespread Pain»Indexes zur Erfassung von Schmerzen in 19 definierten Körperregionen und eines Symptomscores zur Erfassung der Begleitsymptome evaluiert. Beide Skalen wurden zu einem Fragebogen zusammengefasst. In zwei bevölkerungsbasierten Befragungen ergab sich entsprechend den ACR-Kriterien von 2010 eine Fibromyalgieprävalenz von 2,1 Prozent in Deutschland und von 6,4 Prozent in Minnesota, USA.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Bei der Fibromyalgie handelt es sich um einen Beschwerdekomplex mit chronischen Schmerzen in verschiedenen Körperregionen und Begleitsymptomen wie Fatigue, Schlafstörungen oder kognitive Beeinträchtigungen. Die medizinische Diagnose einer Fibromyalgie wird kontrovers diskutiert. Einige Experten bezweifeln, dass es sich dabei um ein eigenständiges Krankheitsbild handelt. Beschwerden und Missempfindungen der Patienten sind jedoch real. Die Prävalenz der Fibromyalgie wurde erstmals anhand von konsensusbasierten Kriterien des American College of Rheumatology (ACR) von 1990 erfasst. Entsprechend diesem Kriterienkatalog handelt es sich um eine Fibromyalgie, wenn der Patient an mindestens 11 von 18 definierten Punkten am Körper eine Druckschmerzempfindlichkeit aufweist. Die Sensitivität dieser Diagnosekriterien liegt bei 88,4 Prozent, und die Spezifität beträgt 81,1 Prozent. Allerdings weisen auch gesunde Personen Druckschmerzpunkte auf, und Begleitsymptome wie Fatigue oder Schlafstörungen werden in diesem Instrument nicht berücksichtigt.
Merksätze
O Bei Fibromyalgie liegen keine strukturellen oder funktionellen Abnormitäten im Muskelgewebe vor.
O Zu den Ursachen gehört vermutlich eine gestörte Schmerzleitung im zentralen Nervensystem.
O Sport, Schulungen und kognitive Verhaltenstherapien haben sich als wirksame nicht medikamentöse Behandlungsoptionen erwiesen.
O Antidepressiva, Pregabalin oder Gabapentin sind geeignete Medikamente.
Wer erkrankt? Die Fibromyalgie betrifft vorwiegend Frauen. In der Minnesota-Umfrage erfüllten 7,7 Prozent der Frauen und 4,9 Prozent der Männer die ACR-Kriterien von 2010, aber nur bei 27 Prozent dieser Betroffenen wurde die Fibromyalgie auch vom Arzt diagnostiziert. In Kliniken wird die Fibromyalgie mitunter bei jungen Menschen oder Personen mittleren Alters festgestellt. Aus Bevölkerungsbefragungen geht jedoch hervor, dass die Prävalenz mit dem Alter zunimmt und bei den über 60-Jährigen ein Maximum erreicht.
Was sind die Ursachen? Die Ursachen der Fibromyalgie sind nicht genau bekannt. Bei den Patienten liegen keine konsistenten strukturellen oder funktionalen Abnormitäten im Muskelgewebe vor, allerdings sind die Schmerzleitungsmechanismen im zentralen Nervensystem gestört. In einem aktuellen Review wird eine Verstärkung afferenter Schmerzsignale im Rückenmark als Schlüsselmechanismus der Entwicklung chronischer Schmerzen bei rheumatischen Erkrankungen inklusive der Fibromyalgie beschrieben. Aus Bevölkerungsbefragungen wird ersichtlich, dass auch psychische und soziale Faktoren an der Entwicklung und der Persistenz der Erkrankung beteiligt sind. Verschiedene Neurotransmitter scheinen ebenfalls eine Rolle zu spielen. In der Zerebrospinalflüssigkeit von Fibromyalgiepatienten wurden im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen höhere Konzentrationen der Substanz P sowie niedrigere Werte der Serotonin-, Noradrenalin- und Dopaminmetaboliten nachgewiesen. In Magnetresonanztomografien (MRT) zeigte sich bei Fibromyalgiepatienten eine abnormale Signalübermittlung in Gehirnbereichen, die an der Weiterleitung von Schmerzen und Emotionen beteiligt sind, wie der Amygdala, dem Thalamus und der Inselrinde. Die biochemische Veränderung der Zerebrospinalflüssigkeit und die Störung der zerebralen Signalübermittlung sind zwar mit Fibromyalgie assoziiert, allerdings geht aus der
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FORTBILDUNG
Wie lange sind die Schmerzen vorhanden?
> 3 Monate
Handelt es sich um weitverbreitete Schmerzen, um Schmerzen oberhalb und unterhalb der Taille, zusätzlich in der rechten und der
linken Körperhälfte?
Ja
Gibt es klinische Anzeichen für bestimmte Autoimmunerkrankungen wie entzündete Gelenke, lichtempfindliche Hautausschläge oder das
Raynaud-Syndrom?
Ja
< 3 Monate Keine Fibromyalgie Nein Keine Fibromyalgie Nein Blutuntersuchung: Harnstoff, Elektrolyte, Leberfunktionstests, Kalzium, Phosphat, C-reaktives Protein, Erythrozytensedimentations- rate und Antikörpertests sind bei Fibromyalgie im Normbereich. Zu beachten: Auch wenn sich aus den Tests eine andere Diagnose ergibt, kann zusätzlich eine Fibromyalgie vorliegen. Nur einfache Blutuntersuchungen (Harnstoff und Elektrolyte, Leberfunktionstests, Kalzium, Phosphat, C-reaktives Protein, Erythrozytensedimentationsrate) Bei Fibromyalgie sind die Befunde im Normbereich. Sind weitere Symptome wie nicht erholsamer Schlaf, Fatigue oder Konzentrationsschwierigkeiten vorhanden? Fibromyalgie Optional: Abtasten auf Druckschmerzpunkte Abbildung: Flussdiagramm zur Diagnose einer Fibromyalgie (nach Rahman et al.) Beobachtung nicht hervor, ob es sich dabei auch um einen kausalen Zusammenhang handelt. Nach welchen Kriterien erfolgt die Diagnose? Einige Experten halten die Diagnose einer Fibromyalgie für wenig nützlich, weil sie einen medizinisch nicht erklärbaren Symptomkomplex als «Erkrankung» kennzeichnet. Andere halten die Diagnose dennoch für hilfreich, weil sie dem Patienten die Angst nimmt, an einer ernsten Erkrankung wie rheumatoider Arthritis oder Krebs zu leiden und ihm so ermöglicht, nach Lösungen für seine konkreten Beschwerden zu suchen. Bluttests oder bildgebende Verfahren sind zum Nachweis einer Fibromyalgie nicht von Nutzen, da die Befunde meist im Normbereich liegen. Die Diagnose erfolgt ausschliesslich anhand klinischer Merkmale (siehe Abbildung). Grundsätzlich liegt der Verdacht einer Fibromyalgie bei Patienten mit weitverbreiteten chronischen Schmerzen nahe, die nicht durch andere Erkrankungen erklärbar sind. Das gilt vor allem, wenn die Schmerzausprägung nicht den körperlichen Anzeichen entspricht und weitere Symptome wie Fatigue oder Druckschmerzpunkte vorhanden sind. Die Fibromyalgie kann auch zusammen mit anderen Erkrankungen wie Arthrose, rheumatoider Arthritis oder systemischem Lupus erythematodes auftreten. Daher wird geraten, die Patienten vor der Diagnose einer Fibromyalgie auf Anzeichen dieser Erkrankungen zu untersuchen. Ergänzend sollte ein einfaches Screening mit vollständigem Blutbild, biochemischen Basisuntersuchungen und Entzündungsmarkertests durchgeführt werden. In unklaren Fällen wird der Patient an den Spezialisten überwiesen. Welche Rolle spielen nicht medikamentöse Behandlungsoptionen? Als nicht medikamentöse Massnahme wird meist Sport empfohlen. Für manche Sportarten liegt eine starke bis moderate Evidenz zur Wirksamkeit vor. In einem Cochrane-Review über 34 Studien erwies sich Aerobic (mindestens 20 min täglich, 2- bis 3-mal pro Woche für ≥ 2,5 Wochen) als wirksam zur Verbesserung des Wohlbefindens, der aeroben Kapazität, 534 ARS MEDICI 10 I 2014 FORTBILDUNG der Druckschmerzempfindlichkeit und zur Schmerzlinderung. Krafttraining kann das Beschwerdebild ebenfalls verbessern. Die Evidenz aus Studien ist hierzu jedoch geringer. Zur Wirksamkeit der Balneotherapie ist die Evidenz moderat, und zu anderen passiven Physiotherapien wie Chirotherapie oder Massagen gibt es nur eine schwache Evidenz. Nach Ansicht der Autoren ist das teilweise darauf zurückzuführen, dass die Daten aus kleinen Studien oder aus Pilotstudien stammen. Auch zur Wirksamkeit von Akupunktur wurden meist nur kleine Studien mit geringen Teilnehmerzahlen durchgeführt, sodass auch für dieses Verfahren nur eine geringe bis moderate Evidenz vorliegt. In aktuellen Richtlinien werden ergänzend zum Sport Schulungen, Psychotherapien und kognitive Verhaltenstherapien empfohlen. Die Evidenz zur Wirksamkeit von Schulungen ist stark und konsistent, wobei die Gruppe nach Ansicht der Autoren ein wichtiges Element für die Effektivität darstellen könnte. Aus einem Review zur Wirksamkeit von Geist-Körper-Therapien wie Hypnotherapie, Biofeedback und Stressreduzierung ergibt sich eine moderate Evidenz. Wie wirksam sind Medikamente? Zur Behandlung der vielfältigen Symptomatik der Fibromyalgie stehen Analgetika, Opioide, Antidepressiva und Antikonvulsiva zur Verfügung. Mitunter sind mehrere Medikamente erforderlich. In einem systematischen Review konnte bei durchschnittlich 19 Prozent der Patienten mit Medikamenten eine Schmerzlinderung um mindestens 50 Prozent erzielt werden, 11 Prozent der Teilnehmer brachen die Behandlung jedoch aufgrund unerwünschter Wirkungen ab. Zur Anwendung von Paracetamol (Panadol® und Generika) oder nicht steroidalen Entzündungshemmern (NSAID) bei Fibromyalgie liegen nur wenige Daten vor. Die Entscheidung für ein bestimmtes Präparat sollte sich nach den Präferenzen des Patienten sowie nach den Komorbiditäten und den Nebenwirkungen richten. Das einzige Opioid mit evidenzbasierter Wirksamkeit bei Fibromyalgie ist Tramadol (Tramal® und Generika) oder Tramadol in Kombination mit Paracetamol (Zaldiar® und Generika). In der Praxis werden häufig auch schwache Opioide wie Codein (Codein Knoll®, Codicalm® und andere) oder Dihydrocodein (Codicontin®, Paracodin® und andere) verschrieben. Deren Wirksamkeit ist jedoch nicht durch Studien belegt. Starke Opioide sollten bei Fibromyalgie aufgrund des Abhängigkeitspotenzials vermieden werden. Die Wirksamkeit von Antidepressiva wurde in zahlreichen systematischen Reviews randomisierter, kontrollierter Studien nachgewiesen. Zur Beurteilung der Wirksamkeit werden hier häufig die Standard Mean Differences (SMD = Unterschied zwischen Gruppen/Standarddeviation zur Baseline) angegeben. SMD-Werte von 0,2 weisen auf kleine Effektstärken, Werte von 0,5 auf mittlere und Werte um 0,8 auf grosse Effektstärken hin. In einem Review betrugen die gepoolten SMD zur Wirksamkeit von Antidepressiva im Vergleich zu Plazebo für Schmerzen 0,43, für Fatigue 0,13, für Schlaf 0,32, für depressive Stimmung 0,26 und für die Lebensqualität 0,31. In Richtlinien wird die Anwendung von Amitriptylin (Saroten®), Fluoxetin (Fluctine® und Generika), Paroxetin (Deroxat® und Generika), Duloxetin (Cymbalta®), Milnaci- pran (nicht im AK der Schweiz) und Moclobemid (Aurorix® und Generika) gestützt. Systematische Reviews randomisierter, kontrollierter Studien belegen auch eine Wirksamkeit von Pregabalin (Lyrica®) bei Fibromyalgie. Die Wirksamkeit von Gabapentin (Neurontin® und Generika) wurde in einer randomisierten Studie (n = 150) nachgewiesen. Richtlinienempfehlungen stützen die Anwendung von Pregabalin oder Gabapentin. Wie aussagekräftig ist die Evidenz aus klinischen Studien? In die meisten Studien zur Fibromyalgie wurden vorwiegend Frauen eingeschlossen. Zudem wurden für viele Studien Ausschlusskriterien wie psychiatrische oder chronische körperliche Erkrankungen festgelegt, sodass Fibromyalgiepatienten aus der täglichen Praxis in Studiendaten möglicherweise unterrepräsentiert sind. Zur Behandlung der Fibromyalgie sind Medikamente wesentlich besser untersucht als nicht medikamentöse Interventionen. Da die Studienzeiträume jedoch meist kurz sind, können keine Aussagen zum Nutzen und zu den Risiken einer medikamentösen Behandlung über einen längeren Zeitraum als 6 Monate gemacht werden. Die publizierten Effektgrössen bezüglich der Schmerzen und der Lebensqualität sind meist klein bis moderat. Die Autoren einer Netzwerkmetaanalyse kamen zu dem Ergebnis, dass der Nutzen einer medikamentösen Behandlung von fraglichem klinischem Wert ist. Beim Ausschluss von Studien mit weniger als 50 Patienten pro Behandlungsarm blieb in dieser Untersuchung nur eine Evidenz für die Wirksamkeit von Duloxetin und Pregabalin bestehen. O Petra Stölting Quelle: Rahman A et al.: Fibromyalgia. BMJ 2014; 348:g1224. Interessenkonflikte: keine deklariert. 536 ARS MEDICI 10 I 2014