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Das Anton-Syndrom
EDITORIAL WENIG BEKANNTE SYNDROME
Gabriel Anton (Quelle: https://de.wikipedia.org)
Das Anton-Syndrom ist ein neurologisches Syndrom, charakterisiert durch eine visuelle Anosognosie, das heisst eine fehlende Wahrnehmung der eigenen kortikalen Blindheit nach Schädigung der Sehbahn beider Gehirnhälften beziehungsweise nach einem kompletten Ausfall des visuellen Kortex. Die Patienten bemerken ihre Blindheit nicht und verhalten sich so, als wäre nichts geschehen. Die Frage, ob das Sehen schlechter geworden sei, verneinen sie oft. Hält man ihnen Dinge vor, beschreiben sie die vermeintlich erkannten Gegenstände zwar lebhaft, aber völlig falsch. Die für das Anton-Syndrom typische Hirnschädigung ist ein Hirninfarkt der Sehrinde beider Gehirnhälften. Arteriell versorgt wird der visuelle Kortex über die Hirnstammarterie, aus der die beiden hinteren Ge-
hirnarterien entspringen. Selten kann das Syndrom nach Schädigung der vorderen Sehbahn entstehen. Eine Anosognosie kann auch für ausgefallene Teile des Gesichtsfelds eintreten, wobei die Betroffenen den Ausfall nicht bemerken. Es kann passieren, dass eine Blindheit etwa der linken Gesichtsfeldhälfte erst auffällt, wenn der Patient häufig gegen den linken Türrahmen stösst. Der Name des Syndroms geht zurück auf Gabriel Anton, einen österreichischen Psychiater und Neurologen (1858–1933), der sich intensiv mit der Rolle der Basalganglien bei choreatischen Bewegungsstörungen befasste. Der erste von Anton beschriebene Fall ist der einer Frau, die ihre komplette kortikale Blindheit nicht erkannte. Eine diskrete Wortfindungsstörung hingegen störte sie sehr, weshalb sie sich darüber beklagte. Bereits 1885 hatte der berühmte Neurologe Constantin von Monakow einen Patienten beschrieben, der seinen kompletten Sehverlust nicht erkannte und sich verhielt, als ob er sehen könne. Seine allgemeine Gebrechlichkeit jedoch erkannte er und machte auch Anspielungen darauf. Die Untersuchung seines Hirns post mortem zeigte Schädigungen der Sehrinden beider Hemisphären. Nach Anton wurde ausserdem das Anton-Babinski-Syndrom («Hemineglect», die halbseitige Störung der Aufmerksamkeit des eigenen Körpers und seiner Ausfälle bei Scheitel- und Schläfenhirnläsion der rechten Gehirnhälfte) benannt.
Richard Altorfer
ARS MEDICI DOSSIER I | 2022
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