Transkript
Rosenbergstrasse 115
MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Kari motzt: Das mit der Demokratie wird oft völlig falsch verstanden. Jeder darf in der Demokratie eine Meinung haben, und jeder darf sie auch sagen, aber – er muss nicht! Es wäre ganz wichtig, dass sich rumspricht, dass auch in einer Demokratie gilt: Wenn man keine Ahnung hat, einfach mal den Mund halten!
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Wenn heute 65-Jährige Geburtstag feiern, wundert sich keiner, dass die Einladung mit «Rockige AHV-Party» überschrieben ist. Und wenn die Band am Abend «Jailhouse Rock», «It’s been a hard day’s night», «Satisfaction», gelegentlich unterbrochen mit sanften Schiebern wie «Green, green grass of home» und «I’ts now or never» spielt, und es bei «Born to be wild» – spätestens aber bei «Don’t bogart me» – die letzten Gäste trotz Hüftprothese, Übergewicht, Stent und Betablocker-Puls auf die Tanzfläche zieht, dann wird deutlich: Der «Wind of change» der Scorpions (1990) weht.
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Mag ja sein, die heutigen Rentner haben lediglich kosmetische Vorteile und wurden lediglich musikalisch etwas anders sozialisiert als ihre Elterngeneration, sind im Übrigen aber auch nur «ältere Personen ausserhalb des Jugendalters, die sich Neuerungen des alltäglichen Lebens verschliessen und daher als altmodisch empfunden werden» – dies die Wikipedia-Umschreibung von «Grufties». Sicher ist, wir werden nicht erfahren, mit welcher Musik die heutigen Jugendlichen dereinst ihren AHV-Eintritt feiern. Nur ein gewisser Hang zum Zynismus lässt uns erahnen: Vermutlich mit «Mein Herz, es brennt».
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Hat zweifellos das Zeug zum Unwort des Jahres: «Sondersetting».
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Sie wissen natürlich, wovon die Rede ist. Die Chats der überregionalen Tageszeitungen – wie’s scheint überhaupt alle Chats – sind voll davon, und es ist angesichts der Absurditäten dieses Falls keineswegs sicher, dass zum Zeitpunkt, da Sie diese Zeilen lesen, sich nicht völlig neue Entwicklungen ergeben haben. 19 000 Franken pro Monat sind zwar weniger als 29 000 Franken, aber immer noch eine Menge Geld. Vor allem auf ein Jahr umgerechnet. Um einen einzigen «Carlos» (und wer weiss schon, wie viele es noch gibt) mit 228 000 Franken zu betreuen, braucht es die Steuern von rund 20 Erwachsenen, die dafür je ein Jahr lang für einen Lohn von 5000 Franken monatlich arbeiten müssen. Ungefähr. Aber vielleicht darf man Aufwand und Nutzen nicht so gegeneinander aufrechnen. Zumindest sollte man sich nicht vorstellen, wie lange man hat arbeiten müssen für das Geld, das andere grosszügig ausgeben.
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19 000 Franken monatlich – für eine Leistung, die früher eine robuste Familie erbrachte. Ist es wirklich nicht möglich, eine strapazierfähige Familie (man darf sie ruhig «setting» nennen, wenn das hilft) zu finden, die bereit ist, sich für, sagen wir 5000 Franken monatlich eines schwer erziehbaren Jugendlichen anzunehmen? Irgendwo abgelegen in den Bergen. Früher gab’s das. Aber eben, heute ist «Professionalisierung» angesagt – und die hat schon immer mehr gekostet als gebracht (ausser den Professionals natürlich). Womit das Hauptproblem angesprochen wäre: Soziale Betreuung ist zu einem gut bezahlten, kaum kontrollierten Geschäft geworden. Und: Die Anbieter werden ausschliesslich von Leuten angeheuert und bezahlt, die das Geld, das sie in die ausgetüftelten Dienstleistungsangebote stecken, nie selber verdienen mussten.
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Die Schweiz hat mit der direkten Demokratie das beste politische System, die besten Hochschulen, das beste Gesundheitssystem, die sozialste Altersvorsorge, den besten Minderheitenschutz, sie hat die Schuldenbremse, den Föderalismus und am wenigsten Schulden. Und bisher hatte sie noch etwas: einen Hang zu Bescheidenheit und Understatement. Was wiederum gleichzeitig ein Teil ihres Erfolgsrezepts war. War? Ja, scheint so. Bescheidenheit und Understatement sind offenbar leicht durchzuhalten, solange man von allen Seiten Lob erhält. Schwierig wird’s offenbar, wenn’s Kritik hagelt. Erst recht, wenn die Kritik a) ungerechtfertigt und b) von Unwissenheit durchtränkt ist. In dieser Situation verspürt so mancher Schweizer das dringende Bedürfnis, Fehler richtigzustellen und die Qualitäten seines Landes hervorzuheben. Falsch. Wir sind nur so gut, wie wir meinen zu sein, wenn wir uns auch durch die dummdreisteste Kritik nicht aus der Ruhe bringen lassen. Lasst sie motzen über die Schweiz – es genügt, dass WIR wissen, dass wir recht haben. Europa wird es irgendwann merken. Umso schneller, je weniger wir uns abmühen, Europa zu zeigen, dass sein System auf Dauer nicht funktionieren wird, unseres aber schon.
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Das schrullige Sprichwort: Stetes ans Messer liefern höhlt den Feind.
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Und das meint Walti: Ich muss unbedingt meine Wohnung aufräumen – das WLAN-Signal kommt nicht mehr durch.
Richard Altorfer
ARS MEDICI 5 I 2014
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