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FORTBILDUNG
Screening und Therapie chronischer Nierenerkrankungen im Frühstadium
Chronische Nierenerkrankungen verlaufen zu Beginn meist asymptomatisch. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob die klinischen Ergebnisse der Betroffenen mit einer frühzeitigen Diagnose und Behandlung verbessert werden könnten. Das American College of Physicians hat jetzt Empfehlungen zum Screening beschwerdefreier Personen sowie zum Monitoring und zur Behandlung chronischer Nierenerkrankungen im Frühstadium herausgegeben.
ANNALS OF INTERNAL MEDICINE
In den USA leiden etwa 11 Prozent der Bevölkerung unter einer chronischen Nierenerkrankung (CKD) im Frühstadium. Frauen sind etwas häufiger betroffen als Männer (12,6 vs. 9,7%). Entsprechend der Definition der Kidney Disease: Improving Global Outcomes (KDIGO) liegt eine CKD vor, wenn Abnormitäten von Nierenstruktur oder -funktion über einen Zeitraum von mehr als drei Monaten bestehen bleiben und die Gesundheit beeinträchtigen. Zu den Risikofaktoren für die Entwicklung einer CKD gehören Diabetes, Bluthochdruck und kardiovaskuläre Erkrankungen sowie starkes Übergewicht und familiäre Nierenerkrankungen. Auch nimmt das CKD-Risiko mit dem Alter zu. Traditionell wird die CKD anhand der glomerulären Filtrationsrate (GFR) in fünf Stadien unterteilt (Tabelle). Die Stadien 1 bis 3 (CKD I–III) gelten als Frühstadium. In einer neuen Klassifizierung der KDIGO aus dem Jahr 2013 wird jetzt zusätzlich die Albuminurie zur Beurteilung der Schwere der CKD herangezogen. Obwohl eine CKD I–III meist nicht mit Beschwerden verbunden ist, steht sie bereits mit Mortalität, kardiovaskulären Erkrankungen, Frakturen, Knochenverlust, Infektionen, kognitiver Beeinträchtigung und Gebrechlichkeit in Zusammenhang.
Merksätze
O Die CKD verläuft in den Stadien 1 bis 3 meist asymptomatisch.
O Das ACP spricht sich gegen ein CKD-Screening bei beschwerdefreien Personen ohne entsprechende Risikofaktoren aus und rät bei Einnahme von ACE-Hemmern oder ARB von Proteinurietests ab.
O Bei CKD-Patienten der Stadien 1 bis 3 sollten Bluthochdruck mit einem ACE-Hemmer oder ARB und erhöhte LDL-Spiegel mit Statinen behandelt werden.
Leitlinienentwicklung Das American College of Physicians (ACP) hat kürzlich eine Leitlinie zum Screening, zum Monitoring und zur Behandlung chronischer Nierenerkrankungen in den Stadien 1 bis 3 bei Erwachsenen erarbeitet. Die Empfehlungen basieren auf den Ergebnissen englischsprachiger Studien aus dem Zeitraum von 1985 bis November 2011 und wurden anhand des American College of Physicians’ Guideline Grading System in starke und schwache Empfehlungen unterteilt. Bei einer starken Empfehlung überwiegt der Nutzen deutlich die Risiken, oder die Risiken sind deutlich höher als der Nutzen. Bei einer schwachen Empfehlung halten sich Nutzen und Risiken die Waage. Die Qualität der Evidenz wurde als gering, mittelgradig oder hoch eingestuft. Im Rahmen der Leitlinienentwicklung gingen die Wissenschaftler der Frage nach, ob ein systematisches CKD-Screening bei beschwerdefreien Personen (mit oder ohne Risikofaktoren für CKD) durch eine frühzeitige Identifizierung und Behandlung Betroffener die klinischen Ergebnisse verbessern könnte. Ausserdem evaluierten sie, ob bei CKD I–II ein Monitoring im Hinblick auf die Verschlechterung der Nierenfunktion oder der Nierenschädigung zu besseren klinischen Ergebnissen führt. Schliesslich wollten die Experten herausfinden, ob eine Behandlung in den Frühstadien die klinischen Ergebnisse verbessert und mit welchen unerwünschten Wirkungen diese verbunden ist. Zum Screening oder Monitoring können die geschätzte GFR (eGFR) sowie Mikroalbuminurie- oder Proteinurietests herangezogen werden. Zur Behandlung einer CKD I–III werden häufig Antihypertensiva (ACE-Hemmer, Angiotensin-IIRezeptor-Blocker [ARB], Betablocker, Kalziumkanalblocker, Thiaziddiuretika) und/oder Statine eingesetzt. Weitere therapeutische Optionen bestehen in einer proteinarmen Ernährung, einer intensiven Diabeteskontrolle oder einer intensiven Multikomponentenintervention.
Nutzen des Screenings bei asymptomatischen Personen nicht belegt In ihrer ersten Empfehlung sprechen sich die Experten des ACP gegen ein Screening bei asymptomatischen Erwachsenen ohne Risikofaktoren für eine CKD aus (schwache Empfehlung, geringe Qualität der Evidenz). Die Wissenschaftler begründen diese Entscheidung damit, dass der Nutzen eines CKD-Screenings und einer frühzeitigen Behandlung bei beschwerdefreien Personen im Hinblick auf die klinischen Ergebnisse im Vergleich zu keinem Screening bis anhin noch nicht in randomisierten, kontrollierten Studien (RCT, randomized controlled trial) untersucht wurde. Zudem sei die Verlässlichkeit verfügbarer Screeningtests wie eGFR oder Albuminurietest in der Allgemeinbevölkerung bis anhin noch nicht ausreichend belegt. Dem unklaren Nutzen steht gegenüber, dass ein Screening oder ein Monitoring mit
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FORTBILDUNG
Tabelle:
Stadien der CKD gemäss National Kidney Foundation (nach Qaseem et al.)
kommen. Bezüglich der Entwicklung einer ESRD konnten die Experten zwischen einer strengen Blutdruckkontrolle (128–133/75–81 mmHg) und einer Standardkontrolle (134–141/81–87 mmHg) keinen Unterschied feststellen.
CKDStadium
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Definition
Nierenschädigung mit GFR ≥ 90 ml/min/1,73 m² Nierenschädigung mit GFR 60–89 ml/min/1,73 m² GFR 30–59 ml/min/1,73 m² GFR 15–29 ml/min/1,73 m² GFR < 15 ml/min/1,73 m² oder Nierenversagen, behandelt mit Dialyse oder Transplantation
falschpositiven Befunden und unnötigen Tests sowie mit unnötigen Behandlungen und deren Nebenwirkungen verbunden sein kann.
Nutzen von Proteinurietests bei ACE-Hemmern und ARB zweifelhaft Des Weiteren rät das ACP von Proteinurietests bei Patienten mit oder ohne Diabetes ab, die einen ACE-Hemmer oder einen ARB einnehmen (schwache Empfehlung, Evidenz geringer Qualität). Bei vielen Patienten ist unabhängig vom CKD-Status die Einnahme von ACE-Hemmern, ARB, Statinen oder anderen Medikamenten zur Behandlung von Komorbiditäten indiziert. Ob Proteinurietests bei Patienten, die bereits ACEHemmer oder ARB zur Behandlung einer Proteinurie erhalten, mit einem zusätzlichen Nutzen verbunden sind, ist nicht geklärt. Zudem liegt keine Evidenz dafür vor, dass sich medikamentös gesenkte Proteinuriewerte auch in einem besseren klinischen Ergebnis fortsetzen.
ACE-Hemmer oder ARB bei CKD und Bluthochdruck Für Patienten mit Bluthochdruck und einer CKD I–III empfiehlt das ACP eine Therapie, die einen ACE-Hemmer (mittlere Qualität der Evidenz) oder einen ARB (hohe Qualität der Evidenz) beinhaltet (starke Empfehlung). Aus der aktuellen Datenlage geht hervor, dass ACE-Hemmer oder ARB bei CKD I–III das Risiko für eine CKD im Endstadium (ESRD, end-stage renal disease) reduzieren. Das gilt vor allem für Patienten mit Makroalbuminurie. Ausserdem reduzieren diese Substanzen das Risiko für eine Verdopplung des Serumkreatinins und verlangsamen die Progression einer Mikroalbuminurie zur Makroalbuminurie. Aus direkten Vergleichsstudien ergibt sich kein Wirksamkeitsunterschied zwischen beiden Medikamentenklassen. Zu den Nebenwirkungen der ACE-Hemmer gehören Husten, Angioödeme, Hautauschläge, Hyperkaliämie, Verlust des Geschmacks und Leukopenie. Unerwünschte Wirkungen der ARB sind Hyperkaliämie, Angioödeme und Schwindel. Die Experten empfehlen eine Monotherapie mit einem ACE-Hemmer oder einem ARB, da eine Kombination beider Substanzklassen nicht mit einem zusätzlichen Nutzen verbunden ist, das Risiko für unerwünschte Wirkungen jedoch signifikant zunimmt. Bei der Kombination kann es zusätzlich zu den Nebenwirkungen der Einzelmedikamente auch zu Hypotonie oder akutem Nierenversagen mit Dialysebedarf
Statine bei CKD und erhöhtem LDL Bei erhöhtem Low-Density-Lipoprotein (LDL) empfiehlt das ACP bei CKD I–III eine Statintherapie (starke Empfehlung, mittlere Qualität der Evidenz). Aus Studien hoher Qualität geht hervor, dass Statine das Risiko für die Gesamtsterblichkeit senken. Die aktuelle Datenlage belegt bei diesen Patienten zudem eine Reduzierung des Risikos für Herzinfarkt, Schlaganfall und die meisten kardiovaskulären Komplikationen. Bei den Teilnehmern der ausgewerteten Studien lagen die durchschnittlichen LDL-Werte bei 142 mg/dl (Bereich 109–192 mg/dl).
Inkonsistente Evidenz Um Nutzen und Risiken eines CKD-Screenings bei asymptomatischen Erwachsenen mit Risikofaktoren wie Diabetes, Bluthochdruck oder kardiovaskulären Erkrankungen beurteilen zu können, war die Evidenz nach Ansicht der Experten nicht ausreichend. Der Nutzen eines Monitorings bei Patienten mit einer diagnostizierten CKD I–III wurde bislang nicht in RCT untersucht. Somit ist nicht erwiesen, dass eine Modifizierung der Behandlung bei einer Progression der CKD das klinische Ergebnis verbessert. Zudem kann das Monitoring mit falschen Reklassifizierungen sowie unnötigen Tests und Behandlungen verbunden sein. Das ACP schliesst daraus, dass ein routinemässiges Monitoring bei CKD I–III nicht mit einem Nutzen verbunden ist. Die Experten sind jedoch der Meinung, dass eine Überwachung von Parametern wie GFR, Blutdruck, Proteinurie, Serumkreatinin oder Medikation bei ausgewählten Patienten auf der Basis des individuellen Risikos sinnvoll sein kann.
Nutzen und Risiken weiterer Behandlungsoptionen
In den ausgewerteten Studien reduzierte eine Behandlung mit
Betablockern das Risiko für Mortalität, Herzinfarkt und
Herzversagen. Allerdings erhielten die meisten Teilnehmer
hier auch ACE-Hemmer oder ARB. Zu den unerwünschten
Wirkungen der Betablocker gehörten Fatigue, Bradykardie,
Schwindel und Hypotonie. Kalziumkanalblocker, protein-
arme Ernährung sowie intensive Diabeteskontrolle oder
intensive Multikomponentenintervention reduzierten in den
ausgewerteten Studien das Risiko für eine ESRD und die
Gesamtsterblichkeit im Vergleich zu Plazebo oder einem
Kontrollmedikament nicht.
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Petra Stölting
Qaseem A et al: Screening, Monitoring, and Treatment of Stage 1 to 3 Chronic Kidney Disease: A Clinical Practice Guideline From the Clinical Guidelines Committee of the American College of Physicians. Ann Intern Med 2013, Oct 22; doi: 10.7326/0003-4819-159-12-201312170-00726.
Interessenkonflikte: Die Leitlinienentwicklung wurde ausschliesslich vom ACP finanziert. Die Interessenkonflikte der Arbeitsgruppenmitglieder wurden deklariert, diskutiert und beigelegt.
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