Transkript
INTERVIEW
Wachstumsstörungen bei Kindern nicht verpassen!
Interview mit Prof. Urs Eiholzer, Zürich
Wenn ein Kind bei der Geburt sehr klein ist
oder in den ersten Lebensjahren deutlich
weniger wächst als Gleichaltrige, sind viele
Eltern besorgt. Prof. Dr. med. Urs Eiholzer
vom Pädiatrisch-Endokrinologischen Zen-
trum in Zürich erklärt im folgenden Interview,
weshalb es wichtig ist, bei Kindern mit eher
kleiner Körpergrösse genau hinzuschauen.
ARS MEDICI: Wie viele Kinder werden in der Schweiz zu klein geboren? Prof. Dr. med. Urs Eiholzer: Etwa 2500 Kinder werden mit einem Gewicht oder einer Grösse geboren, die bezogen auf das Gestationsalter zu klein ist (Small for Gestational Age, SGA). Bei diesen Kindern liegt das Geburtsgewicht beziehungsweise die Länge mindestens zwei Standardabweichungen unterhalb des Mittelwertes. Meistens tritt die Verlangsamung des Wachstums erst im letzten Drittel der Schwangerschaft ein, und diese Kinder sind untergewichtig bei meist normaler Länge. Einige SGA-Kinder wachsen während der gesamten Schwangerschaft immer ein bisschen zu wenig, bei diesen ist hauptsächlich die Körperlänge betroffen. Gründe können eine mangelnde Plazentafunktion, eine EPH-Gestose, ein hoher Blutdruck, Rauchen oder chronische Krankheiten der Mutter sein.
ARS MEDICI: Lässt sich immer eine Ursache finden, wenn ein Kind bei der Geburt sehr klein ist? Eiholzer: Nein, in über der Hälfte der Fälle sind die Gründe unklar. Viele Mütter von SGA-Kindern suchen die Ursachen bei sich und haben Schuldgefühle. Einige machen sich die grössten Vorwürfe, weil sie während der Schwangerschaft ab und zu geraucht haben. Mir scheint hier wichtig, dass der Arzt die Schuldgefühle der Mütter nicht verstärkt, sondern die Mutter vielmehr beruhigt.
ARS MEDICI: Wie sehen denn die Prognosen für SGA-Kinder aus? Eiholzer: Heute wissen wir, dass die meisten SGA-Kinder den Rückstand bezüglich der Körpergrösse in den ersten zwei Lebensjahren aufholen. Besonders bei Kindern, die aufgrund einer Plazentainsuffizienz in den letzten Schwangerschaftsmonaten ungenügend gewachsen sind, ist die Chance für ein Aufholwachstum gross. Etwa 9 bis 13 Prozent der SGA-Kinder können den Rückstand jedoch nicht wettmachen und müssen sorgfältig beobachtet werden. Hier handelt es sich oft
um diejenigen Kinder, die während der ganzen Schwangerschaft unter einer Mangelernährung gelitten haben. Diese Kinder haben ein grosses Risiko, auch als Erwachsene klein zu sein – und zwar noch kleiner als die Wachstumsprognosen erwarten lassen. Dazu kommt ein erhöhtes Risiko, später an Adipositas, an einem Diabetes Typ 2 und an einem hohen Blutdruck zu erkranken. Forscher konnten zeigen, dass diese Individuen als Erwachsene nicht nur kleiner, sondern auch energieoptimiert sind – als ob die Natur die Plazentainsuffizienz, welche zu einer reduzierten Versorgung führt, als Ausdruck einer länger dauernden Hungersnot interpretieren würde, welche auch das Leben einige Jahre später als Erwachsener noch prägt. Man darf nicht vergessen, dass die gesamte Geschichte der Menschheit und der Säugetiere, und zwar in jeder untersuchten Kultur zentral von permanent bestehenden Hungersnöten bestimmt wurde.
ARS MEDICI: Weshalb ist es so wichtig, den Wachstumsverlauf bei allen Kindern genau zu verfolgen? Eiholzer: Das Wachstum gibt Auskunft über die Gesundheit des Kindes. Dazu muss man wissen, dass ein Kind ab dem 2. Geburtstag bis zur Pubertät in der Regel innerhalb des Wachstumskanals wächst, der genetisch vorgegeben ist. Entwickelt sich die Körpergrösse eines Kindes unterhalb der 3. Perzentile oder oberhalb der 97. Perzentile oder wechselt das Kind den Perzentilenkanal, muss man den Ursachen auf den Grund gehen. Für den Arzt bedeutet das, dass er jedes Kind regelmässig sorgfältig messen muss, obwohl er nur in ganz seltenen Fällen Normabweichungen finden wird, welche aber auf keinen Fall verpasst werden dürfen.
ARS MEDICI: Welche Ursachen kommen für eine eher kleine Körpergrösse infrage? Eiholzer: Zu den wichtigsten Ursachen gehören alle chronischen Krankheiten wie zum Beispiel eine Niereninsuffizienz, Asthma oder Magen-Darm-Erkrankungen. Das Wachstum kann aber auch von verschiedenen Syndromen, von einem Mangel an diversen Hormonen oder von einer Knochenbildungsstörung tangiert werden. Dass es hier nicht um Spielereien geht, zeigt die Tatsache, dass wir in unserer Praxis in den letzten Jahren ausschliesslich aufgrund des Symptoms «Wachstumsauffälligkeit» zwei fortgeschrittene Kraniopharyngeome, eine terminale Niereninsuffizienz, mehrere Zöliakien, mehrere Turner-Syndrome und natürlich auch Hormonstörungen (Hypothyreosen, Wachstumshormonmängel, Cushingsyndrome, AGS) und vieles andere mehr gefunden haben.
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gegeben, dass das Kind im Erwachsenenalter eine normale oder nahezu normale Grösse erreichen wird.
ARS MEDICI: Welche Rolle spielt die Grösse der Eltern bei der Beurteilung des kindlichen Wachstums? Eiholzer: Eine sehr grosse. Ein Kind erbt rund 80 Prozent seiner biologischen Voraussetzungen von seinen Eltern. Die Grösse der Eltern und eventuell weiterer Verwandter ist wichtig, um sich ein Bild des Wachstumsmusters einer Familie zu machen und das Wachstum eines Kindes zu beurteilen. Sind beide Eltern klein – die Mutter zum Beispiel 1,50 m und der Vater 1,60 m –, so wird auch die zu erwartende Endgrösse des Kindes eher klein sein. Wächst dieses Kind entlang der 3. Perzentile, ist das in der Regel kein Grund zur Beunruhigung. Ist aber der Vater 1,95 m und die Mutter 1,80 m gross, und ihr Kind wächst auf der 10. Perzentile, ist eine sorgfältige Abklärung angezeigt.
Jedes Kind braucht eine Wachstumskurve.
ARS MEDICI: Warum werden in der Schweiz so wenig SGAKinder diagnostiziert und behandelt? Eiholzer: Da gibt es verschiedene Gründe. Viele SGA-Kinder wachsen zwar parallel zur 3. Perzentile, und auch heute noch hoffen manche Eltern und Ärzte einfach, dass sie den Rückstand später aufholen werden. Die Realität zeigt aber leider das Gegenteil: SGA-Kinder, bei denen in den ersten zwei Lebensjahren kein Aufholwachstum stattgefunden hat und die nicht adäquat behandelt wurden, fallen in der Pubertät im Vergleich zu Altersgenossen noch weiter zurück. Ähnliche Mechanismen spielen übrigens auch bei der Diagnose des Wachstumshormonmangels. Es kann auch ein Wachstumshormonmangel vorliegen, wenn ein Kind noch einigermassen parallel zur 3. Perzentile wächst. Eine Behandlung mit Wachstumshormon kann nicht nur Kindern mit einem Wachstumshormonmangel, sondern auch SGA-Kindern helfen, ihre Zielgrösse (nahezu) zu erreichen, auch wenn bei ihnen kein Wachstumshormonmangel besteht. Kinder mit SGA benötigen einen höheren Wachstumshormonspiegel, um gemäss den genetischen Vorgaben wachsen zu können.
ARS MEDICI: Was empfehlen Sie einem Arzt, der mit Eltern konfrontiert wird, die sich bezüglich der Grösse ihres Kindes Sorgen machen? Eiholzer: Für den Arzt kann es eine Herausforderung sein, die Eltern zu beruhigen und dabei gleichzeitig eine behandlungsbedürftige Wachstumsstörung nicht zu verpassen. Er kann viele Eltern beruhigen, weil Wachstumsstörungen in der Praxis selten auftreten. Um aber genau diese seltenen Fälle nicht zu übersehen, muss er genau hinschauen und die Eltern nicht einfach auf ein mögliches späteres Aufholen vertrösten. Wenn man nämlich dann feststellt, dass dieses nicht eintritt, dann ist es für ein Eingreifen sicher zu spät.
ARS MEDICI: Wie sieht eine Abklärung aus? Eiholzer: In einem ersten Schritt wird das Wachstumsmuster innerhalb der Familie beurteilt. In einem zweiten Schritt müssen chronische Erkrankungen wie zum Beispiel Zöliakie, eine Niereninsuffizienz oder eine Hypothyreose ausgeschlossen werden. Mithilfe eines Handröntgenbildes wird das Knochenalter bestimmt, um festzustellen, ob beim Kind die Knochenreife verzögert ist oder nicht. Kinder mit verzögerter Knochenreifung haben länger Zeit zum Wachsen und holen den Rückstand im Vergleich zu ihren Altersgenossen in der Regel in der Pubertät auf. Aber Achtung: Alle chronischen Krankheiten und auch die meisten Hormonstörungen haben genau dieses Wachstumsmuster zur Folge! Wenn keine verzögerte Knochenreife vorliegt, muss abgeklärt werden, ob ein Syndrom (bei Mädchen am ehesten ein Turner-Syndrom) oder eine Knochenbildungsstörung vorliegt. Die Diagnose eines Wachstumshormonmangels kann eine Herausforderung sein. Wenn der IGF-1-Wert tief ist oder sich im unteren Normbereich bewegt, kann ein Wachstumshormonmangel vorliegen, und das Kind soll von einem Kinderendokrinologen genauer untersucht werden. Und noch etwas: Die sogenannten Dysmorphiezeichen beim Turner-Syndrom sind bei den meisten Mädchen derart geringgradig vorhanden, dass diese nur dem sehr erfahrenen Arzt auffallen.
ARS MEDICI: Wann kann eine Behandlung mit Wachstumshormon helfen? Eiholzer: Zu den wichtigsten Indikationen gehören neben einem Wachstumshormonmangel heute das Turner-Syndrom, das Prader-Willi-Syndrom und eine Niereninsuffizienz. Ebenfalls indiziert ist die Behandlung bei SGA-Kindern, bei denen das Aufholwachstum in den ersten zwei Lebensjahren ausbleibt. Bei diesen fünf Indikationen ist der Nutzen der Behandlung nachgewiesen. Die Kosten werden von den Krankenkassen beziehungsweise von der Invalidenversicherung übernommen.
ARS MEDICI: Weshalb sind eine frühe Abklärung und eine frühe Behandlung so wichtig? Eiholzer: Entscheidend ist, dass bei jeder Störung, bei der ein Wachstumshormon als Therapie indiziert ist, möglichst früh mit der Behandlung begonnen wird. Dann sind die Chancen
ARS MEDICI: Wie wirkt das Wachstumshormon? Eiholzer: Grundsätzlich sind Hormone Übermittler einer Botschaft. Das Growth-Hormone-Releasing-Hormon (GHRH) stimuliert im Hypothalamus die Freisetzung des Wachstumshormons (GH), das einerseits das Längenwachstum der
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Wir wissen im Weiteren auch, dass sehr hohe Wachstums-
hormonspiegel, und zwar deutlich höhere als bei der supra-
physiologischen Dosierung erreicht werden, wie sie zum Bei-
spiel bei einer Akromegalie (Riesenwuchs mit übermässigem
Wachstum an den noch nicht verknöcherten Zonen) vor-
kommen, über lange Zeit vom Körper sehr gut vertragen wer-
den. Man geht deshalb davon aus, dass Wachstumshormon
auch in supraphysiologischer Dosierung sehr sicher ist.
Selbstverständlich wird diese Annahme laufend bei jedem
einzelnen behandelten Kind sowie ganz generell in Form von
grossen Follow-up-Studien überprüft.
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Das Interview führte Frau Susanna Steimer Miller.
Die Erstellung des Interviews wurde durch die Firma Novo Nordisk ermöglicht. Prof. Dr. med. Urs Eiholzer wurde für das Gespräch nicht honoriert.
Je früher Wachstumsstörungen diagnostiziert und behandelt werden, desto grösser ist die Chance, dass die familiäre Zielgrösse erreicht werden kann.
Knochen beeinflusst, andererseits aber auch an allen anderen Organen im Körper wirkt. Das Längenwachstum wird aber nicht nur durch das Wachstumshormon gesteuert, sondern noch vielmehr indirekt, indem es die Bildung von insulinähnlichen Wachstumsfaktoren (IGF-1) in der Leber stimuliert. IGF-1 regt die Chondrozyten in den Epiphysenfugen sowie die Osteoblasten zu vermehrter Zellteilung an.
ARS MEDICI: Wie sieht der Behandlungserfolg aus? Eiholzer: Ziel der Behandlung ist, dass das Kind möglichst die familiäre Zielgrösse erreicht. Bei einem frühen Behandlungsbeginn kann dieses Ziel am ehesten erreicht werden, und das gilt für alle Indikationen. Bei SGA und Turner-Syndrom kann das Wachstum um etwa 6 bis 12 cm verbessert werden. Diese Kinder bleiben jedoch trotz Behandlung oft kleiner als ihre familiäre Zielgrösse erwarten liesse.
ARS MEDICI: Welche unerwünschten Wirkungen kann eine Therapie mit Wachstumshormon haben? Eiholzer: Beim Wachstumshormonmangel wird das fehlende Wachstumshormon ersetzt, man spricht deshalb auch von einer Ersatztherapie. Gleich wie beim Mangel an Insulin bei Diabetes oder beim Mangel an Schilddrüsenhormon oder Sexualsteroiden wird versucht, genau diejenige Menge zu verabreichen, welche die entsprechende Drüse herstellen würde, wenn ihre Funktion normal wäre. Dabei wird mit einer biotechnologisch hergestellten genauen Kopie des menschlichen Wachstumshormons behandelt. Diese Behandlungsform bereitet wenig Sorgen punkto Nebenwirkungen, und es wurden auch bis heute keine gefunden. Etwas anders verhält es sich bei einer Behandlung mit supraphysiologischen Dosen, wie sie bei SGA und Turner-Syndrom zur Anwendung kommen. Am besten untersucht wurde in diesem Zusammenhang der Glukosestoffwechsel, da Wachstumshormon ein Gegenspieler des Insulins ist und deshalb der Insulinspiegel unter der Wachstumshormonbehandlung ansteigt. Es konnte gezeigt werden, dass sich der Insulinspiegel nach Beendigung der Wachstumshormonsubstitution wieder normalisiert.
Lesetipp
In der pädiatrischen Praxis äussern Eltern öfters die Angst, dass ihr Kind nicht richtig wächst und deshalb im Erwachsenenalter von Klein- oder Grosswüchsigkeit geplagt sein könnte. Etwa 5 Prozent aller Kinder zeigen einen auffälligen Wachstumsverlauf, dessen Ursache abgeklärt und bei Bedarf behandelt werden kann. Das Buch «Zu klein – zu gross» enthält die wichtigsten Informationen zum Wachstum der Kinder und wendet sich an Eltern und Ärzte. Es kann direkt beim PEZZ bestellt werden und kostet 5 Franken zuzüglich Porto: www.pezz.ch
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