Transkript
Knochendichte schlechter Parameter für Vitamin-D-Effekt
BERICHT
Seit 2012 gibt es für die Schweiz
Empfehlungen zur Vitamin-D-Ver-
sorgung für alle Altersgruppen,
wobei Personen ab 60 Jahren eine
Supplementierung mit 800 IE Vit-
amin D pro Tag empfohlen wird. Vor
Kurzem wurde eine Studie publi-
ziert, wonach Vitamin D die Kno-
chendichte kaum beeinflussen soll.
Was bedeutet das für die Praxis?
RENATE BONIFER
Mit ihrem Statement, dass der «kleine Effekt von Vitamin-D-Supplementen auf die Knochendichte» den weitverbreiteten Gebrauch von Vitamin D gegen Osteoporose nicht rechtfertige, stellen Ian R. Reid, Mark J. Bolland und Andrew Grey von der Universität Auckland die Sinnhaftigkeit einer breiten Vitamin-D-Supplementierung zur Sturz- und Frakturprophylaxe infrage. Die Autoren hatten die Daten von 4082 Probanden aus 23 Vitamin-D-Studien ausgewertet, bei denen zu Beginn und nach 2 Jahren die Knochendichte gemessen worden war. Es handelte sich überwiegend um Frauen (92%) in einem mittleren Alter von 59 Jahren. Die mittlere Serumkonzentration an 25-Hydroxy-Vitamin D lag bei 44 Prozent der Probanden zu Beginn im Mittel unter 50 nmol/l, dem Grenzwert für eine Vitamin-D-Unterversorgung. 56 Prozent der Probanden erhielten in den Studien weniger als 800 IE Vitamin D pro Tag, was gemäss den Schweizer Empfehlungen zu wenig wäre. Falls gleichzeitig Kalzium supplementiert wurde, musste die Kalziumdosis mit oder ohne Vitamin D in den Studienarmen gleich hoch sein. Die Knochen-
dichte wurden in den Studien an 1 bis 5 Stellen gemessen (lumbale Wirbelsäule, Oberschenkelhals, gesamte Hüfte, Trochanter, gesamter Körper oder Unterarm). Die Autoren der Metaanalyse errechneten einen kleinen Nutzen für Vitamin D nur für die Knochendichte am Oberschenkelhals (0,8%; 95%-KI: 0,2–1,4), wobei das Ausmass der Knochendichtezunahme in den einzelnen Studien nicht gleich war; es fand sich kein Unterschied mit oder ohne zusätzliche Kalziumsupplementation.
Knochendichte kein guter Parameter für Vitamin-D-Effekt In einem begleitenden Editorial macht Clifford J. Rosen vom Medical Research Institute Main, USA, darauf aufmerksam, dass die Messung der Knochendichte kein guter Surrogatmarker für die Zusammenhänge zwischen Vitamin D und dem Frakturrisiko sei (2). Er begründet das mit neuen Erkenntnissen aus dem Labor. Dort zeigte sich in Zellkulturen, dass 1,25-DihydroxyVitamin D die Mineralisation von Knochengewebe hemmt. Diesen auf den ersten Blick paradoxen Effekt – schliesslich ist Vitamin D unabdingbar für die Knochengesundheit – erklären Rosen und die Autoren der Metaanalyse folgendermassen: Vitamin D entfaltet seine Wirkung auf den Knochen nicht über eine direkte Mineralisation, sondern über die Bereitstellung von Kalzium und Phosphat. Vitamin D fördert die Kalziumaufnahme aus dem Darm und hat insofern einen «kalziumsparenden» Effekt, das heisst, es braucht bei einem adäquaten Vitamin-D-Spiegel weniger Kalziumzufuhr. Vitamin D sei insofern eher für das Aufrechterhalten des zirkulierenden Kalziumspiegels verantwortlich als für die Knochendichte. Bei Vitamin-D-
oder Kalziummangel oder beidem verschlechtere sich zunächst die Mikroarchitektur des Knochens, was zwar zu einem höheren Frakturrisiko, aber (noch nicht) zu einer messbar verminderten Knochendichte führe. Das Aufrechterhalten ausreichender Vitamin-D-Serumspiegel bei Älteren, zusammen mit einer ausreichenden Kalziumzufuhr über die Nahrung, sei weiterhin eine wirksame Strategie zur Prävention von Hüftfrakturen, schreibt Rosen. Der Surrogatmarker Knochendichte ist auch aus einem anderen Grund nicht gut geeignet, um Aussagen zum Vitamin-DEffekt bezüglich Sturz- und Frakturprävention zu erlauben. Vitamin D wirkt auch direkt auf den Muskel und stimuliert die Muskelproteinsynthese. Möglicherweise sei dieser Zusatzeffekt für die Frakturreduktion unter Vitamin-D-Supplementation entscheidend, da Stürze den primären Risikofaktor für Frakturen darstellten, schrieb Heike A. Bischoff-Ferrari von der Universität Zürich in einem bereits früher erschienenen Übersichtsbeitrag (3).
Vitamin D und das Frakturrisiko Aussagekräftiger als die Knochendichte ist die Frakturrate mit oder ohne Vitamin-D-Supplemente. Doch obwohl es bereits viele Studien dazu gibt, ist insbesondere in den USA ein Ende der Diskussion nicht absehbar. So kommentierte ein US-amerikanischer Arzt die eingangs genannte Metaanalyse online mit den Worten, es sei schade, dass man noch nicht wisse, ob Vitamin D die Frakturrate senke oder nicht. Bereits 2005 publizierte BischoffFerrari eine Metaanalyse, in der eine präventive Wirkung von Vitamin-DSupplementen gezeigt wurde – sofern die Dosis mit 700 bis 800 IE Vitamin D pro Tag hoch genug war (4); das relative
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Tabelle:
Empfehlungen der Eidgenössischen Ernährungskommission zur Vitamin-D-Versorgung Erwachsener
Frakturrisikos jedoch 75 nmol/l nötig seien. Die Bestimmung des Vitamin-DSpiegels ist nur in Ausnahmefällen sinnvoll (6).
Personengruppe
Schweizer Allgemeinbevölkerung Empfohlene Zufuhr pro Tag
19–59 Jahre > 60 Jahre Schwangere/ Stillende
600 IE (15 µg) 800 IE (20 µg)
600 IE (15 µg)
Quelle: Schweiz Zeitschr Ernährungsmed 2012; 5: 31
Personen mit schwerem Vitamin-D-Mangel (Serumspiegel < 25 nmol/l) Empfohlene Zufuhr pro Tag 1500–2000 IE (37,5–50 µg) 1500–2000 IE (37,5–50 µg) Beide Gruppen Tolerierbare Höchsteinnahme 4000 IE (100 µg) 4000 IE (100 µg) 1500–2000 IE (37,5–50 µg) 4000 IE (100 µg) Risiko für eine Hüftfraktur sank hier um 26 Prozent, dasjenige jeglicher nicht vertrebraler Fraktur um 23 Prozent, im Vergleich zu Kalzium alleine oder Plazebo. Seitdem ergaben zahllose weitere Studien, Kohortenbeobachtungen und Metaanalysen verschiedener Autoren inkonsistente Ergebnisse, was von Skeptikern als Argument gegen die breite Supplemenation ins Feld geführt wird. Die widersprüchlichen Studienresultate und Interpretationen vorliegender Daten können jedoch auch auf einer ganzen Reihe von Faktoren beruhen, die nichts mit der Vitamin-D-Wirkung an sich zu tun haben: So werden unterschiedliche Probandenkollektive betrachtet oder Studien unterschiedlicher Qualität in einen Topf geworfen. Die Dosierungen der Vitamin-D-Supplemente sind sehr unterschiedlich, und meist wird nicht dokumentiert, ob der Vitamin-D-Spiegel bei den Probanden durch die Supplementation tatsächlich deutlich genug anstieg, um überhaupt etwas Messbares bewirken zu können. Nicht zuletzt hängt die Messbarkeit eines Effekts vom Niveau der VitaminD-Versorgung in der Vergleichsgruppe ab. In einer 2012 publizierten Metaanalyse (5) berücksichtigte Bischoff-Ferrari einige dieser Punkte und kam zu dem Schluss, dass in der Tat nur eine hohe Einnahme von Vitamin D zu einer signifikanten Reduktion des Frakturrisikos führt. Sie verglich die Gruppe mit der höchsten Dosis (792 bis 2000 IE pro Tag) mit derjenigen mit der niedrigsten Dosis (0 bis 360 IE pro Tag) und fand eine relative Risikominderung um 30 Prozent bei den Hüftfrakturen und um 14 Prozent bei allen nicht vertebralen Frakturen. Bei der üblichen Intention-to-treat-Analyse der gleichen Studien sah es anders aus: Der Unterschied zwischen allen Vitamin-D-Supplementierten (alle Dosierungen) und den Nichtsupplementierten war nicht nur kleiner (-10% Hüftfrakturen, -7% alle nicht vertebralen Frakturen), sondern auch statistisch nicht signifikant – mithin ein typisches Ergebnis für Metaanalysen, wie sie von Kritikern als Argument gegen eine allgemeine Supplementierungsempfehlung genannt werden. Die internationale Diskussion über die Notwendigkeit der Vitamin-D-Supplementation und deren Dosis als Primärprävention für gesunde Personen dürfte auch künftig weitergehen, genauso wie man es von anderen präventiven Massnahmen kennt. Für die Praxis kann man sich an den 2012 publizierten Richtlinien der Eidgenössischen Ernährungskommission (6) orientieren. Aktuelle Empfehlungen in der Schweiz Als Minimalwert für den Vitamin-DSpiegel im Serum wurden 50 nmol/l festgelegt. Man geht davon aus, dass 600 bis 800 IE Vitamin D pro Tag (ausreichend Sonnenexposition beachten, ggf. Supplemente) ausreicht, um diesen Zielwert bei 97 Prozent der Bevölkerung (inkl. Schwangere und Stillende) zu erreichen (Tabelle). Die Experten der Eidgenössischen Ernährungskommission weisen ausdrücklich darauf hin, dass der Wert von 50 nmol/l zwar als ausreichend erachtet wird, um einem Vitamin-D-Mangel vorzubeugen, für eine Minderung des Sturz- und Und das Kalzium? Bis 2010 wurde Vitamin D zur Frak- turprävention immer zusammen mit Kalzium supplementiert. Diese Praxis änderte sich, als Mark J. Bolland in einer Metaanalyse mit 11 plazebokon- trollierten Studien herausfand, dass Kalziumtabletten in einer Dosis von täg- lich 600 bis 1200 mg das Herzinfarkt- risiko um 30 Prozent erhöhten (7). Der «Kalziumschock» erschütterte die Osteoporose-Community nachhaltig. Kalzium, bis zu diesem Punkt eine «hei- lige Kuh» der Osteoporoseprävention, wurde zunehmend kritisch betrachtet, und man forderte eine Überarbeitung der damals geltenden Richtlinien (8). Für Personen im Alter von 19 bis 50 Jah- ren wird nun eine Aufnahme von 1000 mg Kalzium pro Tag empfohlen, bei den älteren sind es 1200 mg, wobei das für Frauen schon ab 51, für Männer erst ab 70 Jahren gilt. Gemeint ist immer die gesamte Kalziumaufnahme aus der Nahrung plus allfällige Supplemente. Für die Praxis bedeutet das, dass Supplemente mit mehr als 500 mg Kal- zium pro Tag nur sehr selten indiziert sind (3). O Renate Bonifer Quellen: 1. Reid IR, Bolland MJ, Grey A: Effects of vitamin D sup- plements on bone mineral density: a systematic review and meta-analysis. Lancet 2013; published online october 11, 2013; http://dx.doi.org/10.1016/S0140-6736 (13)61647-5. 2. Rosen CJ: Vitamin D supplementation: bones of contention. Lancet 2013; published online october 11, 2013; http://dx.doi.org/10.1026/S0140-6736(13) 61721-3. 3. Bischoff-Ferrari HA, Staehelin HB: Kalzium und Vitamin D. Neues in Sachen Knochengesundheit. Schweiz Zeitschr Ernährungsmed 2011; 2: 9–14. 4. Bischoff-Ferrari HA et al.: Fracture prevention with vitamin D supplementation: a meta-analysis of randomized controlled trials. JAMA 2005; 293(18): 2257–2264. 5. Bischoff-Ferrari HA et al.: A pooled analysis of vitamin D dose requirements for fracture prevention. N Engl J Med 2012; 367: 40–49. 6. Vitamin-D-Bericht der EEK. Eine Zusammenfassung. Schweiz Zeitschr Ernährungsmed 2012; 5: 29–31. 7. Bolland MJ et al.: Effect of calcium supplements on risk of myocardial infarction and cardiovascular events: meta-analysis. BMJ 2010; 341: c3691. 8. Beise U: Osteoporose: Kalziumsupplemente erhöhen das Infarktrisiko. Experten fordern nun eine Überarbeitung der bestehenden Empfehlungen. ARS MEDICI 2010; 17: 673. 14 ARS MEDICI 1 I 2014