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Titel
Arsenicum
Untertitel
Nackte Tatsachen
Lead
Kümmern Sie sich um ärztliche Kernthemen!», rügte ein Leser den Schreibenden am Jahresende. «Ein Kantonsarzt, der von SUVA-Chefärzten plagiiert, ist nun wirklich extrem selten!» Das ist richtig – Asklepios sei Dank! Daher im neuen Jahr wie gewünscht ein ärztliches Kernthema. Nein, nicht Geld. Etwas weniger Erregendes: Nacktheit. Sie ist dem Hausarzt bestens vertraut. Bei uns gibt sich jede(r) eine Blösse, und niemand nimmt daran Anstoss.
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Rubriken — ARSENICUM
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5721
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN

Nackte Tatsachen
K ümmern Sie sich um ärztliche Kernthemen!», rügte ein Leser den Schreibenden am Jahresende. «Ein Kantonsarzt, der von SUVA-Chefärzten plagiiert, ist nun wirklich extrem selten!» Das ist richtig – Asklepios sei Dank! Daher im neuen Jahr wie gewünscht ein ärztliches Kernthema. Nein, nicht Geld. Etwas weniger Erregendes: Nacktheit. Sie ist dem Hausarzt bestens vertraut. Bei uns gibt sich jede(r) eine Blösse, und niemand nimmt daran Anstoss. Für Patienten ist Nacktheit oft unangenehm – psychisch und physisch. Den historischen dunkelgrünen WachstuchUntersuchungsschragen gibt es zwar nicht mehr, aber in der Hektik des Praxisalltags wird schon mal das hygienische Arztliegenpapier ab Rolle vergessen, und der Patient liegt dann fröstelnd auf dem blutten Plastik, vor der kalten Welt nur durch ein dünnes Leintuch geschützt. Meistens ist das Untersuchungszimmer dann noch frisch gelüftet und der Doktor länger am Telefon ... Der Hausarzt inspiziert, auskultiert und palpiert den Patienten abschnittweise, deckt immer wieder mit dem Leintuch ab, um das Gefühl des Ausgeliefertseins zu mildern. Hingegen kennen die Spezialärzte keinerlei Schicklichkeit. Füdliblutte Patienten werden beim Dermatologen von Hilfspersonen aus Kabinen getrieben und vom Meister dann schweigend unter grellem Licht inspiziert. Allerdings nur wenige Sekunden, denn die Zeit des Hautarztes ist kostbar. Aus eigener Erfahrung und von Kollegen weiss ich, dass unser lokaler exzellenter Orthopäde (Spezialgebiet untere Extremitäten) seine Patienten so effizient durch die Röntgenanlage schleust, dass sie routinemässig in Unterhosen in sein Wartezimmer beordert werden und dort bibbern, bis sie eingegipst werden. In unserem Job ist Nacktheit etwas so Alltägliches, dass uns vielleicht die Sensibilität abhanden gekommen ist, dass andere damit Probleme haben. Zum Beispiel die jetzt 30- bis 40-Jährigen. Wie viktorianische höhere Töchter kreischen sie, wenn Bluttes live aufblitzt. Vermutlich eine folgerichtige Reaktion auf die rücksichtslose Exposition mit Nacktheit, welche meine Generation diesen Menschen im Kindes- und Jugendalter zugemutet hat und immer noch zumutet. Gegen die

«sex sells»-Werbeplakate sind die meisten Menschen inzwischen immun. Oder vielleicht vergessen sie angesichts der mit Photoshop perfektionierten Models, dass reale Nacktheit meist weniger schön ist. In den Achtzigern war es noch recht dralles Fleisch, das in Woodstock gezeigt wurde, unter Batikhemden und Patchworkfähnchen, oft mit Sonnenbrand oder regenüberströmt. Mit zunehmendem Alter meiner Generation nahm unsere Attraktivität ab – doch augenscheinlich blieb uns das verborgen. Sonst wäre es nicht erklärbar, warum wir Oldies unser welkendes Fleisch nicht diskret unter Textilien verbergen, wie es die Generationen vor uns taten. Nein, gnadenlos legen wir faltige Hälse, knittrige Dekolletés, schlaffe Waden und schlabbernde Oberarme bloss. Der Schreibende, ein Altachtundsechziger, wundert sich daher nicht über die heftigen Abwehrreaktionen der jungen Menschen. Vielleicht ist es nicht Schamhaftigkeit, sondern verletztes Ästhetikgefühl? Erstaunlich ist es aber, dass sich alle schockiert zeigen, wenn attraktive junge ShowbizLeute sich entblättern. Meist aus kühlem Kalkül, um in die Klatschblätter zu kommen – in diesem Beruf ein Karrierekick. Seit jeher müssen Schauspieler, Tänzer und Sänger ihre Haut zu Markte tragen. Wie das Beispiel von «wrecking ball» zeigt, ist das oft erfolgreich. Eine durchaus ansehliche junge Frau schaukelt im Video auf einer Abrissbirne hin und her, küsst einen Vorschlaghammer und stiefelt mit SUVA-konformem Schuhwerk über dekorative Betontrümmer. Warum aber regen sich alle auf? Und das in einer Zeit des Flashings und Moonings? Nach intensivem Studium des Bildmaterials – selbstverständlich nur aus rein wissenschaftlichen Zwecken – kann ich die Leserschaft beruhigen: Nichts Anstössiges ist sichtbar. Die junge Dame sonnt sich sonst sogar mit Bikinioberteil, wie aus dem weniger gebräunten Hautkolorit der Regio pectoralis gefolgert werden muss. Destruktiv ist die Abrissbirne der Vergänglichkeit. Sie demoliert auch den schönsten Körper, was vielen unseren Patienten zu schaffen macht. Als tröstlich empfinden es viele, wenn sich der Hausarzt nicht vor dem Verfall und der krankheitsbedingten Entstellung ekelt, sondern Wunden säubert, Effloreszenzen inspiziert und hagere alte Hände drückt. Das Vertrauen, welches uns Patienten entgegenbringen, wenn sie sich uns in ihrer verletzlichen Nacktheit zeigen, berührt mich immer wieder.

ARSENICUM

8 ARS MEDICI 1 I 2014