Transkript
FORTBILDUNG
Serie: Kompressionstherapie
Das Lymphödem – Die diagnostische Herausforderung
Oftmals vergeht eine lange Zeit bis zur Diagnose eines Lymphödems. Diese aber stellt die Voraussetzung für eine adäquate lebenslange Betreuung der Betroffenen dar. Im Folgenden ein Überblick über die diagnostischen Möglichkeiten.
HAK HONG KEO
Das Lymphödem ist das Ergebnis einer Ansammlung von proteinreicher Flüssigkeit im Interstitium infolge einer anomalen Entwicklung oder Verletzung des lymphatischen Systems. Millionen von Menschen sind weltweit betroffen. In den Entwicklungsländern ist die Filariose die häufigste Ursache, während in den Industrienationen die Tumorbehandlung (Chirurgie, Strahlentherapie) die häufigste Ursache des sekundären Lymphödems darstellt. Das primäre Lymphödem ist selten, und die Prävalenz wird zwischen 1 pro 6000 und 1,5 pro 100 000 Personen geschätzt. Fundierte epidemiologische Daten existieren nicht.
klassische Differenzialdiagnosen des Lymphödems sind Lipödem und Phlebödem (Abbildung 2a und b).
Systemische Ursache ausschliessen Obwohl keine kurative Therapie existiert, ist die genaue Diagnose Voraussetzung für eine lebenslange Betreuung und Behandlung. Mittels Basisdiagnostik (Anamnese, Inspektion, Palpation) kann die Diagnose meistens klinisch gestellt werden. Ist durch die Basisdiagnostik eine Klärung der Diagnose oder eindeutige Klassifizierung nicht möglich, ist eine erweiterte Diagnostik nötig. Dies trifft vor allem beim primären Lymphödem im Stadium I nach Földi/ISL (ISL, international society of lymphology) zu, da wegen des weichen und über Nacht vollständig reversiblen Ödems die Diagnose klinisch schwierig zu stellen ist.
Oft Monate bis Jahre bis zur Diagnose Die Diagnose des Lymphödems stellt nach wie vor eine grosse Herausforderung für die behandelnden Ärzte dar. Studien belegen, dass es Monate bis Jahre dauert, bis die Diagnose eines Lymphödems gestellt wird. Das Stemmer-Zeichen ist hilfreich, wobei nur rund 56 Prozent aller Lymphödempatienten ein positives Stemmer-Zeichen (Abbildung 1) haben. Die
Abbildung 1: Stemmer-Zeichen: Hautfaltentest, bei dem sich infolge Eiweisseinlagerung in das Gewebe v.a. an der proximalen Phalanx Digitus pedis II dorsal keine Hautfalte abheben lässt
Merksätze
O Die Diagnose eines Lymphödems stellt nach wie vor eine grosse Herausforderung dar.
O Das Stemmer-Zeichen ist hilfreich für die Diagnosestellung, jedoch nicht bei allen Lymphödempatienten vorhanden.
O Bei klinischer Unsicherheit muss eine Zusatzdiagnostik mittels Lymphoszintigrafie oder Fluoreszenzmikrolymphografie durchgeführt werden.
O Die Therapie ist lebenslang, und Patienten brauchen eine gute fachärztliche Betreuung.
Abbildung 2a: Lipödem mit Abbildung 2b: Phlebödem
Aussparung des Knöchels und rechts mit den Zeichen der
Fusses
chronisch venösen Insuffizienz
(C4aEPASPR)
ARS MEDICI 23 I 2013 1179
FORTBILDUNG
¨ ¨¨
Bei chronischer Beinschwellung ist als erster Schritt der Abklärung eine systemische Ursache auszuschliessen. Dazu braucht es ein Labor und eine Urinanalyse. Abbildung 3 zeigt eine Anleitung für eine mögliche Vorgehensweise mit erweiterter Differenzialdiagnose.
Chronische Beinschwellung
Labor Nierenwerte, Leberwerte, Eosinophilie, Hypoproteinämie, Schilddrüsenwerte
Urinanalyse (Proteinurie)
Bildgebung (je nach Klinik) Herzecho, Duplexsonografie,
CT-Abdomen, MRI, Lymphoszintigrafie/Fluoreszenz
Mikrolymphografie
¨ ¨
¨
Systemische Ursachen Herzinsuffizienz, Leberzirrhose, Niereninsuffizienz (Glomerulonephritiden), nephrotisches Syndrom, Malnutrition (Hypoproteinämie), Hyper- und Hypothyreose, Dependency-Ödem, allergische Reaktion, idiopathisches zyklisches Ödem, Eklampsie, hereditäres Angioödem, Medikamente (Antihypertensiva, Hormone, NSAR)
Abbildung 3
Lokale/regionale Ursachen akute tiefe Beinvenenthrombose, chronisch venöse Insuffizienz, postthrombotisches Syndrom, Thrombophlebitis, Lipödem, Complex-regional-pain-Syndrom (M. Sudeck), Trauma, Insektenbiss, PostRevaskularisations-Ödem, rheumatoide Arthritis, Hämatom, Hemihyperthrophie, Weichteiltumor (Lipome), Medikamente (Antihypertensiva, Hormone, NSAR)
lymphatische Abflussstörung nachzuweisen. Die diagnostische Genauigkeit der FML wurde in einer vor Kurzem publizierten Studie als gut bewertet. Die Sensitivität und Spezifität liegt bei 79 respektive 83 Prozent; sie dürfte höher liegen, wenn gesunde Personen als Kontrolle untersucht werden. Die Technik der Untersuchung ist einfach und minimalinvasiv. Sie erlaubt die Unterscheidung zwischen lymphogen und nicht lymphogen bedingten Ödemen. Intradermal wird ein Depot des FITC (fluorescein isothiocyanate)-Dextrans injiziert (Abbildung 4). Das ist ein Zuckermolekül von rund 150 000 Dalton, welches hauptsächlich über die Lymphe abtransportiert wird. Die Ausbreitung des Farbstoffes vom Depot wird unter fluoreszierendem Blaulicht nach 5 und 10 Minuten beurteilt (Abbildung 5). Bei Gesunden wird das FITC-Dextran über Präkollektoren und Kollektoren in die Hauptlymphbahnen abtransportiert. Besteht eine Lymphabflussstörung, kann das FITC-Dextran jedoch nicht über die Lymphbahnen abfliessen. Es breitet sich dann in den kapillaren Netzwerken um das Farbdepot aus.
Kompressionstherapie und Lymphdrainagen
Es ist wichtig, dass die Diagnose gestellt wird, da die Patien-
ten lebenslang einer Betreuung und Behandlung bedürfen.
Die Kompressionstherapie als wichtigste therapeutische
Massnahme kann mit Lymphdrainagen ergänzt werden.
Gelegentlich ist ein stationärer Aufenthalt an einem spezia-
lisierten Zentrum notwendig, um eine intensive Entödemati-
sierung zu erreichen. Diuretika bringen keinen zusätzlichen
Nutzen und sollten vermieden werden. Hypertensive Patien-
ten mit Lymphödem sollten keine Kalziumkanalblocker er-
halten, denn diese vermindern die lymphatische Pumpfunk-
tion. Bei Bedarf sollte auf ein anderes blutdrucksenkendes
Medikament gewechselt werden.
O
Dr. med. et MSc. Hak Hong Keo Leitender Arzt Angiologie/Phlebologie Kantonsspital Aarau Facharzt FMH für Angiologie und Allgemeine Innere Medizin Master of Science in Clinical Research, University of Minnesota, USA Tellstrasse, 5001 Aarau Tel. 062-838 47 02, Fax 062-838 47 10 E-Mail: hakhong.keo@ksa.ch Internet: www.gefaessmedizin.ch
Abbildung 4: Intradermale Injektion des FITC-Dextrans
Abbildung 5: Ausbreitung des Dextrans vom Farbdepot
Zusatzdiagnostik zur Bestätigung der Diagnose Besteht klinisch der Verdacht eines Lymphödems, kann eine Lymphoszintigrafie die Diagnose bestätigen. Die Lymphoszintigrafie ist aber eine zeitaufwendige Untersuchung und strahlenbelastend für den Patienten. Das Protokoll der Untersuchung ist von Zentrum zu Zentrum unterschiedlich, und die Beurteilung ist semiquantitativ. In der Schweiz wird als Zusatzuntersuchung häufig die Fluoreszenzmikrolymphografie (FML) angewendet, um die
Interessenskonflikte: keine
Alle Fotos/Abbildungen: Keo
Literatur: Rockson SG, Rivera KK. Estimating the population burden of lymphedema. Ann N Y Acad Sci 2008; 1131: 147–154. Wagner S. Lymphedema and lipedema – an overview of conservative treatment. Vasa 2011; 40: 271–279. Keo HH, Schilling M, Büchel R et al.: Sensitivity and specificity of fluorescence microlymphography for detecting lymphedema of the lower extremity. Vasc Med. 2013; 18:117–121.
Im Rahmen dieser Serie, die auf Anregung der Firma Sigvaris entstand, kommen verschiedene Experten zu Wort. Deren Angaben dienen als Hilfestellung fur die Therapieentscheidung, basierend auf der aktuellen Studienlage und Erfahrungswerten aus der Praxis.
1180
ARS MEDICI 23 I 2013