Transkript
GASTROENTEROLOGIE
Obstipation bei Kleinkindern
Eltern darauf ansprechen und Zeit für die Beratung nehmen
Bei der Obstipation im Kleinkindesalter handelt es sich oft um eine funktionelle Störung, die zwar nicht gefährlich ist, aber die Lebensqualität des Kindes und seiner Eltern massiv beeinträchtigen kann. An der Frühjahrstagung der Kinderärzte Schweiz erläuterte Dr. med. Marc Sidler, was in der Praxis bei der Behandlung von obstipierten Kleinkindern zu beachten ist.
Probleme beim Stuhlgang sind nach wie vor ein Tabu: «Wir müssen lernen, dieses Thema mit den Eltern und den Kindern anzusprechen», sagte der Referent. Man solle nicht darauf warten, bis die Eltern darauf zu sprechen kämen, sondern regelmässig nach dem Stuhlgang des Kindes fragen. Sofern keine Alarmzeichen bestehen (Tabelle), handelt es sich meist um eine funktionelle Obstipation, wenn sie > 1 Monat andauert und mindestens 2 der folgenden Kriterien erfüllt sind:
Motivation zum regelmässigen Toilettengang – die App PLOP
Die Gratis-App PLOP ist in Deutsch,
Französisch und Italienisch verfüg-
bar. Hier wird zum einen erklärt, wie
die Stuhlentleerung funktioniert,
und zum anderen spielerisch zu ei-
nem regelmässigen Toilettentrai-
ning motiviert. Toilettengänge,
Stuhlkonsistenz anhand der Bris-
tol-Skala und allfällige Schmerzen
beim Stuhlgang können mit einer
Tagebuchfunktion aufgezeichnet
werden. Für das Mitmachen wird
das Kind mit einer Spielfunktion und mit Anerkennungsdiplomen be-
lohnt. Die Tagebuchdaten werden nur auf dem Smartphone oder dem
Tablet des Patienten gespeichert. Das Tagebuch
kann ausgedruckt oder per E-Mail an den behan-
delnden Arzt übermittelt werden. PLOP ist keine
Therapie, sondern die App dient lediglich zu deren
Unterstützung, und sie ersetzt weder das aufklä-
rende Gespräch mit den Betroffenen noch die laxa-
tive Therapie.
RBO
Die Entwicklung der App erfolgte in Zusammenarbeit mit der Stiftung Pro-UKBB und mit finanzieller Unterstützung von Zambon Schweiz AG.
▲ schmerzhafter oder harter Stuhlgang ▲ Rückhaltemanöver ▲ ≤ 2 Defäkationen pro Woche ▲ Entleerung von grossen Stuhlmassen ▲ Stuhlmassen im Rektum oder Abdomen ▲ Stuhlschmieren 1-mal pro Woche.
Frequenz, Form und Farbe: Was ist normal?
Die Stuhlfrequenz hängt vom Alter ab, und sie kann individuell sehr unterschiedlich sein: ▲ gestillter Säugling: 10 ×/Tag bis 1 × alle 10 bis 14 Tage ▲ formulaernährter Säugling: 1 × bis 3 ×/Tag ▲ Kleinkind < 4 Jahre: 3 ×/Tag bis 2 ×/Woche ▲ Erwachsener: 3 ×/Tag bis 3 ×/Woche. Die Stuhlkonsistenz wird anhand der Bristol-Skala beurteilt. Diese Skala sollte man auch im Gespräch mit den Eltern verwenden, weil die Auskunft, der Stuhl des Kindes sei «normal», ohne Abbildung im Grunde nichts aussagt.
Beratung der Eltern und der Kinder
Die chronische Obstipation im Kleinkindesalter ist ein Teufelskreis. Weil die Stuhlentleerung schmerzhaft ist, kommt es zu Retentionsmanövern, die wiederum zu einer weiteren Verhärtung des Stuhls und damit zu einer noch schmerzhafteren Entleerung führen. Diesen Teufelskreis könne man Eltern und Kindern gar nicht oft genug erklären, sagte Sidler und wies auf Hilfsmittel für die Beratung hin. Kindgerecht erklärt wird die Obstipation beispielsweise in dem Video «The Poo in You», das die Gesellschaft für Pädiatrische Gastroenterologie und Ernährung e. V. auf Deutsch übersetzt hat (https:// www.gpge.eu/elternkinder). Ein sinnvolles Hilfsmittel für die Beratung und zur Unterstützung der Therapie ist die App PLOP, die spielerisch zum Toilettentraining motiviert. Am wichtigsten aber sei es, sich wirklich Zeit für die Beratung der Eltern zu nehmen, betonte Sidler. Er empfahl, dafür einen Termin abzumachen: «Das geht nicht zwischen Tür und Angel!»
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GASTROENTEROLOGIE
Ernährung wird überschätzt
Die Bedeutung der Ernährung werde im Zusammenhang mit der Obstipation im Kindesalter überschätzt, entscheidender für den Erfolg seien die Beratung der Eltern und die medikamentöse Therapie, sagte Sidler. Selbstverständlich sollten die Kinder ausreichend trinken. Als adäquat gelten bei einem 4- bis 8-jährigen Kind zirka 1½ Liter pro Tag. Eine mangelnde Flüssigkeitszufuhr erhöht das Obstipationsrisiko. Einem obstipierten Kind hilft es aber nicht, noch mehr als die empfohlene Menge zu trinken. Dasselbe gilt für die Nahrungsfasern. Sie gelten als gesund und verdauungsfördernd, aber es gibt keine Evidenz dafür, dass die Zufuhr von Nahrungsfasern über den normalen Bedarf hinaus bei Obstipation im Kindesalter hilfreich ist. Als normaler Tagesbedarf gelten ab 2 Jahren 5 g plus das Alter in Jahren. Für ein 5-jähriges Kind sind es demnach 10 g Nahrungsfasern pro Tag. Diese Menge ist zum Beispiel enthalten in 20 g Weizenkleie, 150 g Himbeeren oder 150 g Weizenvollkornbrot.
Schritt 1: Desimpaktion
Für das initiale Abführen, die Desimpaktion, sind orale Laxanzien die erste Wahl. Einläufe oder Suppositorien seien allenfalls im Notfall eine Option, «nur wenn es nicht anders geht und das Kind grosse Schmerzen hat», sagte Sidler. Er betonte, dass bei diesen Kindern generell keine unnötigen rektalen Manipulationen erfolgen sollten, auch nicht bei der Untersuchung. Die Desimpaktion dauert 3 bis 6 Tage. Sie erfolgt mit hoch dosiertem Macrogol (2 g/kg Körpergewicht an 2 aufeinanderfolgenden Tagen; die Wirkung tritt nach 24 bis 48 Stunden ein).
Schritt 2: Erhaltungstherapie
Auch in der Erhaltungstherapie ist Macrogol die erste Wahl. Für Kleinkinder sind in der Schweiz Produkte mit und ohne Elektrolyte zugelassen (PEG 3350: Macrogol-Mepha Junior, Movicol® Junior, Transipeg®; PEG 4000: Laxipeg®). Macrogole binden Wasser im Darm und vergrössern so das Stuhlvolumen. Ihre Wirkung ist dosisabhängig. Zu den Nebenwirkungen gehören Meteorismus, Bauchschmerzen, Durchfall (bei Überdosierung), Übelkeit, Erbrechen und Stuhlinkontinenz. Selten kann es zu Überempfindlichkeitsreaktionen kommen. Einige Mythen ranken sich um diese seit Jahrzehnten eingesetzten Abführmittel. So sollen sie angeblich abhängig machen, mit der Zeit in der Wirkung nachlassen, den Darm erlahmen lassen oder neuropsychiatrische Leiden bewirken. Nichts davon sei bis anhin nachgewiesen worden, sagte Sidler. Eine Alternative sind flüssige Lactulosepräparate (Duphalac®,
Tabelle:
Alarmsignale bei Obstipation
▲ Beginn im 1. Lebensmonat ▲ Blut im Stuhl ▲ Erbrechen ▲ Gedeihstörung ▲ Mekoniumabgang verzögert (> 48 Stunden) ▲ dünne Stuhlform (ribbon stool)
Gatinar®, Rudolac®). Die Lactulose ist ein nicht resorbierbares Disaccharid, das die Darmmotilität anregt. Die Dosis beträgt 1 bis 3 ml/kg/Tag. Als Nebenwirkungen treten Blähungen, Flatulenz und Bauchschmerzen auf. Aus Sicht des Referenten ist Lactulose eher für Kinder im Säuglingsalter geeignet, weil man es bei grösseren Kindern allzu hoch dosieren müsste. Auch Milchzucker wird als Mittel gegen Obstipation angeboten. Sidler riet davon ab, weil dieser Zucker die Prägung auf einen extrem süssen Geschmack fördert und dem Kind überflüssige, zusätzliche Kalorien zuführt.
Erhaltungstherapie langfristig durchhalten
Der häufigste Fehler, der bei der Behandlung von Kindern mit chronischer Obstipation gemacht wird, ist ein abruptes Absetzen der Laxanzien. Wenn die Beschwerden nicht mehr bestehen, muss die Behandlung mindestens 1 Monat lang weitergeführt und erst danach langsam (!) ausgeschlichen werden. Wenn die Obstipation im Zusammenhang mit dem Toilettentraining steht, darf die Behandlung erst dann ausgeschlichen werden, wenn das Kind selbstständig und regelmässig Stuhl entleeren kann. Ein zu frühes Toilettentraining ist übrigens auch ein Risikofaktor für das Entwickeln einer Obstipation. Der richtige Zeitpunkt für das Toilettentraining ist individuell sehr unterschiedlich. Erst wenn das Kind von sich aus Interesse daran zeige, solle man damit beginnen, sagte der Referent und empfahl gestressten Eltern: «Hören Sie auf das Kind, nicht auf die gut gemeinten Ratschläge von Grosseltern.» ▲
Renate Bonifer
Quelle: Vortrag von Dr. med. Marc Sidler: «Von verstopften Rohren und wie man sie entstopft», Frühjahrstagung Kinderärzte Schweiz, 18. März 2021, online.
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