Transkript
Chronisch entzündliche Darmerkrankungen
Was können und sollen wir den Patienten zukünftig anbieten?
BERICHT
20. United European Gastroenterology Week
Amsterdam, 20. bis 24. Oktober 2012
Anlässlich der UEG-Week 2012 setzte sich in der Opening Session Dr. Jean Frédéric Colombel, Lille, mit den chronisch entzündlichen Darmerkrankungen auseinander, die sich in den nächsten Jahren weltweit zu einem dringenden Problem entwickeln könnten – und die damit zu Recht gleich zum Auftakt der UEG-Week Thema waren.
CHRISTINE MÜCKE
Schon jetzt liegt die Prävalenz in Nordamerika und einigen europäischen Ländern bei 1 Prozent, mit einer steigenden Rate an Morbus-CrohnErkrankungen. Steigende Inzidenzen sind auch in Japan, Südkorea, Australien, Neuseeland sowie in Teilen von Indien und China zu verzeichnen. Der Experte befasste sich mit der Frage, welche Optionen heute angeboten werden und welche wichtigen Trends zu verzeichnen sind. Zunächst einmal interessierte ihn die Patientenperspektive. In einer europäischen Umfrage unter fast 5000 Patienten mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen litten 63 Prozent an Morbus Crohn (CD) und 33 Prozent an Colitis ulcerosa (CU). 18 Prozent warteten mehr als fünf Jahre auf eine Diagnose, 64 Prozent bedurften bereits in dieser Zeit einer Notfallintervention, 53 Prozent beklagten, dass sie wichtige Aspekte nicht diskutieren konnten, und 21 Prozent gaben an, dass sie aufgrund ihrer Erkrankung diskriminiert wurden.
Problematik oft unterschätzt Der Einfluss der Erkrankung auf die Arbeitsfähigkeit wurde bis anhin häufig unterschätzt. Aktuelle Zahlen zeigen, dass von den CD-Patienten unter den 40- bis 59-Jährigen fast 25 Prozent der Betroffenen eine Invalidenrente beziehen, unter den 60- bis 67-jährigen sind es über 40 Prozent. Unter den CUPatienten beziehen schon im Alter zwischen 30 und 39 an die 8 Prozent eine solche Rente. Auch die Mortalität der Erkrankungen ist höher als gedacht, wie eine dänische Studie jüngst zeigen konnte. Die Mortalität ist in den ersten 5 Jahren nach Diagnose erhöht, auf mittlere und lange Sicht bei CU um 10 Prozent und bei CD um 50 Prozent;
wobei der Wert bei CU in den letzten 30 Jahren gesenkt werden konnte, bei CD jedoch nicht. Mögliche Erklärungsansätze sind vielfältig. Ob regelmässige endoskopische Kontrollen oder eine medikamentöse Prophylaxe tiefer Venenthrombosen – die Guidelines würden leider nicht ausreichend befolgt, bedauerte der Experte. Auch die Therapieadhärenz nehme erfahrungsgemäss im Laufe der Jahre ab, und es sei festzustellen, dass die aktuellen Therapiealgorithmen den natürlichen Verlauf der Erkrankung nicht wirklich verändern konnten, so der Referent weiter. Behandeln wir zu spät?
Morbus Crohn: Höhere Remission durch frühe Anti-TNF-Behandlung
Anteil der Patienten (%)
Quelle: nach Schreiber S et al., JCC 2012
100 90 80 70
64* 60 56*
Adalimumab 40 mg wöchentlich Adalimumab 40 mg alle 2 Wochen Plazebo
50 45 45* 40 35 37*
30 25
20 17
10 4/23 14/25
0 <2
p < 0,05 versus Plazebo
14
9/14
9/36 9/26 14/31
16/111 45/121 50/112
2 bis < 5 Dauer der Behandlung (Jahre)
>5
Abbildung: In der CHARM-Studie erreichten Patienten, die in den ersten beiden Jahren ihrer Erkrankung Adalimumab erhielten, deutlich häufiger eine klinische Remission.
ARS MEDICI 22 I 2013 1119
BERICHT
MUSIC-Studie: Korrelation zwischen Plasmakonzentration und endoskopischer Response
In der MUSIC-Studie profitierten Patienten mit aktivem Morbus Crohn von einer Behandlung mit Certolizumab Pegol (CZP). Verbesserungen der endoskopisch nachweisbaren Läsionen waren bereits in Woche 10 zu verzeichnen und hielten im Allgemeinen bis Woche 54 an. Retrospektiv wurden nun von Colombel et al. der Zusammenhang zwischen dem Plasmalevel von Certolizumab Pegol und endoskopisch nachweisbarem Ansprechen sowie die Remission untersucht. Eingeschlossen in diese Subanalyse waren 89 Erwachsene, die bereits länger als 3 Monate an Morbus Crohn erkrankt waren und in 2 oder mehr Segmenten signifikante endoskopisch nachweisbare Läsionen sowie einen Crohn’s Disease Activity Score (CDEIS) ≥ 8 aufwiesen. Sie erhielten subkutan 400 mg CZP in Woche 0, 2 und 4 zur Induktion und danach alle 4 Wochen bis Woche 54. Bei zu geringer Wirksamkeit oder einem Verlust derselben konnte nach Woche 10 die Frequenz auf alle 2 Wochen verkürzt werden. Die Plasmakonzentrationen wurden in Woche 8 und Woche 54 gemessen und Quartilen zugeteilt. Die endoskopisch nachweisbare Response (Abnahme des CDEIS > 5) und Remission (CDEIS < 6) wurde in Woche 10 und 54 ermittelt. Bei 45 Patienten konnten die Plasmakonzentrationen in Woche 8 und bei 18 in Woche 54 ermittelt werden. Dabei zeigten diejenigen mit höheren Plasmakonzentrationen höhere endoskopisch nachweisbare Response- beziehungsweise Remissionsraten, so das Fazit der Autoren. Gut 2012; 61 (Suppl 3): A81.
Aktuelle Entwicklungen Pariente et al. schlagen vor, CD als progressive Erkrankung zu begreifen und sich nicht allein auf die Entzündung zu fokussieren, sondern bereits zum Zeitpunkt der Diagnose das Fortschreiten der Erkrankung und dadurch bedingte Schädigungen zu hemmen. Anstelle einer symptomatischen Behandlung könnte in Analogie zu den Rheumatologen auch hier das Treat-to-TargetKonzept immer mehr an Bedeutung gewinnen. Das Ziel könnte zum Beispiel die endoskopisch nachweisbare Heilung sein. Die ACCENT-Studie konnte deutlich belegen, dass die Crohn-Patienten mit endoskopisch belegter Heilung in Woche 10 und 54 oder zumindest zu einem dieser beiden Zeitpunkte deutlich seltener hospitalisiert oder operiert werden mussten als diejenigen, die zu keinem Zeitpunkt eine endoskopisch nachweisbare Heilung erreichten. Deutlich bessere klinische Ergebnisse für Patienten mit endoskopisch nachweisbarer Heilung beschreibt auch die ACT-Studie, in der Infliximab bei Patienten mit CU verabreicht wurde. Patienten, die in Woche 8 einen endoskopisch nachweisbaren Heilungsscore von 0 oder 1 erzielten, waren am Ende deutlich häufiger in klinischer Remission (p < 0,0001).
Frühe Intervention, enge Kontrolle Früh im Krankheitsverlauf gibt es ein Window of Opportunity, das genutzt werden sollte. «Das heisst, die Diagnose sollte möglichst früh gestellt, und es sollte so früh wie möglich eine Behandlung eingeleitet werden. Und zwar mit dem Besten, was wir haben», unterstrich der Experte. Diesen Aspekt belegen Daten der CHARM-Studie mit Adalimumab, die den Impact der Krankheitsdauer auf die Wirksamkeit der Behandlung bei Patienten mit CD untersuchte. Patienten, bei denen bereits früh – Erkrankungsdauer unter 2 Jahre – eine Therapie eingeleitet worden war, erzielten deutlich bessere Resultate als diejenigen, bei denen die Erkrankung bei Therapiebeginn bereits seit mindestens 5 Jahren bestand. Ebenfalls von den Rheumatologen stammt das Konzept der engen Kontrolle, das heisst des konsequenten Monitorings des Therapieerfolgs. Der Einfachheit halber werden dafür zunehmend Biomarker wie beispielsweise das CRP eingesetzt. Dass besser kontrollierte Patienten bessere Ergebnisse erzielen, belegen wiederum Daten der ACT-Studie, die zeigen konnten, dass klinische Response und Mukosaheilung bei den Patienten mit höheren Konzentrationen des Wirk-
stoffs im Blut deutlich besser ausfielen. Dieses Konzept bedarf der Bestätigung durch weitere Studien. Zur guten Kontrolle gehört es natürlich auch, die Sicherheit der Therapien im Auge zu behalten.
Betreuung in spezialisierten Zentren
Ein weiteres Konzept, das erwähnt
werden muss, betrifft das Profiling.
«Wir müssen die beste Therapie für
jeden einzelnen Patienten finden, bis
anhin waren wir dafür häufig auf unser
klinisches Gespür angewiesen.» In Zu-
kunft werden mehr und mehr hand-
feste Kriterien zur Verfügung stehen
wie zum Beispiel persönliche Charakte-
ristika, Phänotypen der Erkrankung,
serologische, genetische und bakterio-
logische Daten. Und last, but not least
müssen wir uns mit kommenden,
neuen Optionen vertraut machen. Für
die Behandlung der CU seien einige
Substanzen zu erwarten, die viel Anlass
zu Hoffnung gäben, aber die Behand-
lung auch viel komplexer machten, so
Colombel.
Ein weiterer sehr wichtiger Aspekt
zur Optimierung der Versorgung ist
nach Meinung des Referenten die Be-
treuung in Zentren, in denen ein Team
von Experten, bestehend aus Ärzten,
Krankenschwestern, Diätassistentin-
nen, Psychologen und Sozialarbeitern,
in enger Verbindung zu Pathologie,
Chirurgie, Radiologie und Pädiatrie,
zur Verfügung steht, die auf chronisch
entzündliche Darmerkrankungen spe-
zialisiert sind. Noch weiter ginge ein
Zusammenschluss in Zentren für im-
munvermittelte Erkrankungen – zur
Nutzung aller Ressourcen wird es un-
umgänglich werden, sich zukünftig
bestmöglich zu vernetzen. «Und nicht
zuletzt müssen wir die Kommunikation
mit den Patienten verbessern, sie in
Entscheidungen einbeziehen, um durch
eine verbesserte Akzeptanz eine verbes-
serte Adhärenz und letztlich bessere
Ergebnisse zu erzielen», unterstrich
Colombel abschliessend.
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Christine Mücke
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ARS MEDICI 22 I 2013