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SGR
Lumbosakrale und gluteale Schmerzen
Eine Volkskrankheit mit vielen Ursachen
Die Ursachen von nicht entzündlichen Rückenschmerzen sind extrem vielfältig. Zur Diagnose sind nicht nur ausführliche Anamnesen und Erstuntersuchungen notwendig, sondern auch gute anatomische Kenntnisse, erklärte am diesjährigen SGR-Treffen Prof. Stephan Gadola vom Bethesda Spital in Basel.
«Patienten mit lumbosakralen und glutealen Schmerzen sehen wir täglich in unserer Praxis, sie sind sicher eine Hauptgruppe unserer Patienten, nicht nur ambulant, sondern auch stationär», berichtete Gadola. Tatsächlich verursachen Rückenschmerzen mit jährlich 1,6 bis 2,5 Prozent des Schweizerischen Bruttoinlandprodukts enorme Kosten. Häufig seien die jahrelangen Therapieversuche sehr frustrierend für die Betroffenen, so der Experte. Bis heute existieren zu lumbosakralen und glutealen Schmerzen keine Therapierichtlinien; möglicherweise habe das mit den sehr komplexen Ursachen und den unterschiedlichen Behandlungskonzepten zu tun. Die Ursachen für lumbosakrale und gluteale Schmerzen können unter anderem in den Facettengelenken, den Wirbelkörpern, dem Sakrum, den Iliosakralgelenken, den Hüftgelenken, den Nervenwurzeln, den Rückenmuskeln, den Bandscheiben, den Ligamenten, Faszien, peripheren Nerven (z.B. durch Kompression des Ischiasnervs beim Durchtritt durch die Muskulatur), der Glutealmuskulatur oder der Bursa trochanteria lokalisiert sein. Die Beschwerden sind oft einseitig, manchmal beidseitig und zeigen vielfach Ausstrahlungen in die Oberschenkel. Um sie zu verstehen, seien gute Kenntnisse der Anatomie, eine sorgfältige Anamnese und klinische Untersuchung mit möglichst präziser Schmerzlokalisation erforderlich, sagte Gadola.
können auf eine spontane Sakrumfraktur hinweisen; akute Schmerzen können auch mit Muskeldekompensationen und Muskelrissen oder Dysfunktionen der Iliosakralgelenke in Verbindung stehen. Auch die Medikamentenanamnese kann Hinweise auf die Schmerzursachen geben. Wenn Medikamente überhaupt keine Wirkung zeigen, kann dies ein Hinweis auf myofasziale Schmerzen, aber auch auf periphere Nervenkompressionssyndrome sein. Oft haben solche Patienten eine jahrelange Ärzte-Odyssee hinter sich. Hier braucht es eine gute Physiotherapie oder andere Massnahmen. Bei chronischen Schmerzen kommt es häufig zu einer sekundären Schmerzausweitung, was die Festlegung der Lokalisation des primären Schmerzortes erschwert. Bei der Anamnese sollten nicht nur die Schmerzlokalisation, sondern auch der Schmerzbeginn (seit wann, akut oder schleichend, sofort immobilisierend oder erst nach und nach) und mögliche Schmerzverstärkungen oder -verbesserungen (Positionen, Belastungen, Medikamente) abgefragt werden. Dabei können auch Körperhaltung, Beckenstand, Gangbild,
«Man sieht schon sehr viel, wenn der Patient ein paar Schritte geht»
Diagnose oft nicht einfach
«Nehmen Sie sich Zeit bei der Schmerzlokalisation und ziehen Sie dabei den Betroffenen möglichst mit ein», so der Rat des Basler Rheumatologen. Bei akuten lumbosakralen Schmerzen liegen häufig Fazettengelenksdysfunktionen vor, möglich sind aber auch Wirbelkörperfrakturen oder ein Riss im Annulus fibrosus (der bindegewebige Teil der Bandscheibe) mit eher zentraler Ausstrahlung. Diskushernien, welche sich als radikuläre Schmerzen manifestieren, sind zwar relativ einfach zu erkennen, die exakte Zuordnung zu einem bestimmten Dermatom ist jedoch nicht immer trivial, insbesondere bei den Dermatomen L3, L4 und L5. Jedenfalls zeigen die zur Verfügung stehenden Dermatomkarten, über die die Patienten möglichst genau die Schmerzausstrahlung beschreiben sollen, teilweise erhebliche Unterschiede, gab Gadola zu bedenken. Eher diffuse Schmerzen im dorsalen Beckenbereich
Wirbelsäulenform, Muskelatrophien oder Gelenkschwellungen wertvolle Hinweise geben. «Man sieht schon sehr viel, wenn der Patient ein paar Schritte geht», berichtete Gadola. Zudem seien Funktionstests der Wirbelsäule respektive des Beckens angezeigt. Auch sollten die Gelenke überprüft werden, denn manchmal liege das primäre Problem bei lumbosakralen Schmerzen im Knie oder im Fuss. Wenn zudem mögliche Druck- oder Triggerpunkte lokalisiert werden, welche die Schmerzen reproduzieren, habe man schon viel gewonnen.
Beispiel: Piriformis-Syndrom
Eine 79-jährige Frau stellte sich aus voller Gesundheit mit plötzlichen, linksseitigen, glutealen Schmerzen vor. Diese
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sehr starken Schmerzen strahlten in den linken dorsolateralen Oberschenkel bis zum Knöchel aus und führten bis zur Immobilisation. Für die sportliche Frau, die regelmässig joggte, waren sowohl das Sitzen als auch das Stehen mit starken Beschwerden verbunden. Die vorangegangene Therapie mit NSAR erwies sich als wirkungslos. Ihre Vorerkrankungen mit Spondylarthrose, Knieprothese, Osteopenie, Osteochondrose, Beckenschiefstand und Spinalkanalstenose liessen eine komplizierte Ursache vermuten. Dies war jedoch nicht der Fall, denn die Dame litt unter einem Piriformis-Syndrom. Nachdem die Diagnose klinisch gestellt und sie behandelt worden war, konnte die Patientin bereits nach vier Tagen komplett schmerzfrei nach Hause entlassen werden. Der Musculus piriformis ist ein wichtiger Aussenrotator der Hüfte. Durch Gesässtraumen, Überlastung (z. B. übertriebenes Jogging, «Cowboysitz»), Hypertrophie des M. piriformis oder Nerven-Entrapment des Ischiasnervs beim Durchtritt durch den Muskel kann es zu einer Reizung des Ischiasnervs kommen. Eine solche Kompression ist für 5 bis 10 Prozent aller «Ischias-Schmerzen» verantwortlich. Wichtigste therapeutische Massnahme ist die Physiotherapie mit Muskelstretching, Beckenbodentraining und Triggerpunktbehandlung. Bei sehr hartnäckigen Manifestationen ist eine Infiltration,
beispielsweise mit Glucocorticoiden oder Botulinumtoxin,
möglich. Als letzte Möglichkeit kann bei jahrelangen schwe-
ren, therapierefraktären Beschwerden auch eine chirurgische
Neurolyse, also eine Spaltung des M. piriformis, Schmerzfrei-
heit bringen. Die Detektion von Triggerpunkten ist dabei sehr
hilfreich für die spätere Therapie. Auch die Nervi clunei – das
sind Äste der Rückenmarksnerven, welche die Gesässregion
sensibel innervieren – können beim Durchtritt durch Faszien,
Ligamente und Muskeln komprimiert werden und den Be-
troffenen dann heftige und lang anhaltende Schmerzen be-
reiten. «Wenn Sie eine Lokalanästhesie machen und der
Schmerz verschwindet für eine Weile komplett, um dann
wiederzukommen, haben Sie möglicherweise die Diagnose
bestätigt.» Die nächsten Schritte wären dann eine Lokal-
infiltration mit Steroiden, gegebenenfalls eine Kryotherapie
und – wenn sich bis dahin keine Besserung eingestellt hat –
eventuell eine chirurgische Neurolyse. Manche Patienten, die
zuvor jahrelang mit Opiaten behandelt wurden, seien dann
komplett schmerzfrei geworden, so Gadola.
s
Klaus Duffner
Quelle: Session: «Lumbosakrale und gluteale Schmerzen» beim Jahreskongress der SGR, 2. September 2021 in Lausanne.
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