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SGR
Schweizer Sturzpräventionsprogramm zeigt Erfolge
Weniger Stürze durch weniger Sturzfallen
Jeder dritte Mensch über 65 Jahre stürzt einmal pro Jahr. Lassen sich solche Unfälle und ihre Folgen durch eine Sturzprävention vermindern? In einer Schweizer Studie konnte gezeigt werden, dass eine Reduktion um 24 Prozent möglich ist, wie Prof. Karin Niedermann von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) und Dr. Ralph Melzer vom Luzerner Kantonsspital (LUKS) am SGR-Kongress in Lausanne in einer gemeinsamen Session von SGR und Rheumaliga Schweiz darlegten.
In der Schweiz leben derzeit ungefähr 2 Millionen Menschen im Alter über 65 Jahre. Jeder dritte von ihnen stürzt einmal pro Jahr, allein im Kanton Luzern sind das rund 23 000 Stürze. Rund 5 Prozent von ihnen erleiden eine Fraktur. Je älter die Verunfallten sind, desto schwerere Konsequenzen haben die Knochenbrüche. Sie verursachen in der Schweiz pro Jahr Kosten von etwa 1,5 Milliarden Franken. «Wir haben also eine Verpflichtung, spätestens nach einem ersten Sturz die Risikofaktoren für weitere Unfälle zu erkennen», so die Einschätzung von Melzer. Dazu gehören intrinsische wie auch extrinsische Faktoren. Kommt es schon bei Stürzen aus Stehhöhe zu Knochenbrüchen, sollte eine unerkannte Osteoporose in Betracht gezogen werden.
Gefährdete Patienten erfassen
Allerdings werden nach einem gut verheilten ersten Bruch in den meisten Fällen keine weiteren Massnahmen hinsichtlich weiterer Sturzgefährdung oder Osteoporosediagnostik unternommen. Aus diesem Grund habe der Rheumatologe Dr. Lukas Schmid schon vor über 20 Jahren am LUKS damit begonnen, das Sturz- und Frakturrisiko von gefährdeten Patienten gezielt zu erfassen, berichtete Melzer. Dazu besucht eine Physiotherapeutin die Gestürzten auf der Station und motiviert sie zur Durchführung einer ambulanten Osteoporoseabklärung oder eines Sturzassessments. Im Jahr 2020 wurden so am LUKS 342 Patienten über 50 Jahre mit Frakturen nach Bagatellstürzen erfasst, wobei sich immerhin etwa
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die Hälfte einer DXA-Messung unterzog. Zu dem empfohlenen Sturzassessment sei jedoch letztlich nur ein kleiner Teil der Patienten erschienen, möglicherweise, so Melzer, weil ältere Menschen nur ungern später noch einmal ins Spital kämen oder weil sie die erlebten Stürze schlicht bagatellisierten.
Pilotstudie aus Luzern
Bereits 2011 entwickelte die Rheumaliga Schweiz das multifaktorielle Sturzpräventionsprogramm «Sicher durch den Alltag», das dann ab 2015 national implementiert wurde. So konnte 2016 in einer retrospektiven Analyse von 671 Seniorinnen und Senioren, die an diesem Programm teilgenommen hatten, nachgewiesen werden, dass sich die Sturzangst, die als ein wichtiger Prädiktor für kommende Stürze gilt, signifikant reduzieren liess. In einer von Gesundheitsökonomen durchgeführten Kostenanalyse bei den Studienteilnehmern konnte überdies festgestellt werden, dass sich auch die Be-
«Wir haben also eine Verpflichtung, spätestens nach einem ersten Sturz die Risikofaktoren für weitere Unfälle zu erkennen»
handlungskosten substanziell reduziert hatten, was vor allem auf die geringeren stationären Kosten zurückgeführt wurde. Tatsächlich hatte sich die Anzahl schwerer Stürze verringert, nicht jedoch die absolute Zahl der Stürze. Deshalb wollten Forschende des Instituts für Physiotherapie und des Winterthurer Instituts für Gesundheitsökonomie der ZHAW in Kooperation mit der Rheumaliga Schweiz und dem LUKS untersuchen, ob sich auch die absolute Zahl der Stürze durch ein entsprechendes Präventionsprogramm vermindern lässt. Dafür besuchten speziell ausgebildete Physio- oder Ergotherapeuten die Senioren bei sich zu Hause und führten verschiedene Tests zu Stürzen und zur Sturzangst durch. In einer «Tour durch die Wohnung» wurden potenzielle Sturzgefahren zusammen analysiert und so weit wie möglich auch gleich korrigiert. Dazu zählten z. B. fehlende Beleuchtung, fehlende Haltegriffe oder Hindernisse und Bodenbeläge mit Ausrutschgefahr. Zudem stellten die Fachkräfte spezielle körperliche Übungen zur Sturzprävention vor. Nach diesem Besuch wurden die Teilnehmer von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Rheumaliga Schweiz über die Dauer eines Jahres alle 2 Monate telefonisch zur Lebensqualität, Sturzangst, physischen Aktivität und zu möglichen Stürzen befragt. Insgesamt konnten die vollständigen Daten von 639 Personen (Durchschnittsalter 82 Jahre, 2/3 Frauen) ausgewertet werden.
Rückgang der schweren Stürze um 47 Prozent
Für das Jahr vor der Untersuchung wurden für die Teilnehmenden insgesamt 855 Stürze berechnet (1,35 pro Person/ Jahr). Am Ende der Studie waren das innerhalb eines Jahres 652 (1,02 pro Person/Jahr). «Diese 203 Stürze weniger be-
«Diese 203 Stürze weniger bedeuten eine relative Reduktion von 24 Prozent»
deuten eine relative Reduktion von 24 Prozent», berichtete Niedermann. Auch die Angst vor dem Stürzen, die Lebensqualität und die körperliche Aktivität hatten sich im Untersuchungszeitraum verbessert. Ein bemerkenswerter Rückgang war bei den schweren Stürzen zu verzeichnen. Wie aus den Analysen der Daten der Krankenversicherer hervorgeht, wurden unter den Teilnehmenden vor der Untersuchung 111 Personen mit 124 schweren Ereignissen identifiziert. Im Studienzeitraum kam es hingegen bei 55 Personen zu 67 schweren Stürzen, was einer Abnahme um 47 Prozent gleichkommt. Das war mit einer substanziellen Kostenersparnis verbunden. «Schon diese einmalige niederschwellige Sturzprävention erreichte eine substanzielle Sturzratenreduktion», kommentierte die Studienleiterin.
Antrag auf Kostenübernahme
Trotz dieser klaren Erfolge des Sturzpräventionsprogramms
«Sicher durch den Alltag» bleiben Herausforderungen be-
stehen. So würden die meisten Senioren es unnötig finden, ein
Sturzpräventionsprogramm zu absolvieren, oder sie ver-
schwiegen Stürze aus Angst vor Heimeinweisungen, erklärte
Niedermann. Auch die Unterstützung der Ärzte sei notwen-
dig, denn sie seien die Schlüsselpersonen, um die Senioren zu
einer Sturzprävention zu motivieren.
Schliesslich können auch die Kosten von rund 500 Franken
durchaus für manche Menschen ein Hinderungsgrund sein,
sich an dem Programm zu beteiligen. Sie werden bislang nur
von einem kleinen Teil der Krankenkassen übernommen.
Derzeit werde von der Rheumaliga Schweiz bei der Grund-
versicherung ein Antrag auf Kostenübernahme gestellt, be-
richtete Valérie Krafft von der Rheumaliga. Zwar seien die
Erfolgsaussichten offen, die Resultate des Sturzpräventions-
programms seien jedoch so gut, dass man zuversichtlich in
die Zukunft blicke.
s
Klaus Duffner
Quelle: Session «Neue Wege in der Patientenversorgung, gemeinsam gegen Stürze» beim Jahreskongress der SGR am 3. September 2021 in Lausanne.
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