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Titel
Arsenicum
Untertitel
No sports!
Lead
Hochleistungen erbringt der Kollege Beat B., Traumatologe und orthopädischer Chirurg, wenn er über den Sport wettert. Dabei verdankt er Sportlern – inklusive der Freunden des Motorsports – seine Existenzgrundlage. Von Stolpersturzfolgen im Alltagsleben allein könnte er nicht leben – trotz des demografischen Wandels in Richtung höheres Alter und brüchigerer Knochen. Ein langer, kalter, schneereicher Winter aber lässt nicht nur Schenkelhälse brechen, sondern auch Bänder und Menisken reissen, was die Operationssäle und sein Konto füllt. Doch Beat poltert: «Jedes Jahr nimmt die Zahl der Sportverletzten zu! Es sind über 310 000 pro Jahr.
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Rubriken — ARSENICUM
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
No sports!

H ochleistungen erbringt der Kollege Beat B., Traumatologe und orthopädischer Chirurg, wenn er über den Sport wettert. Dabei verdankt er Sportlern – inklusive der Freunden des Motorsports – seine Existenzgrundlage. Von Stolpersturzfolgen im Alltagsleben allein könnte er nicht leben – trotz des demografischen Wandels in Richtung höheres Alter und brüchigerer Knochen. Ein langer, kalter, schneereicher Winter aber lässt nicht nur Schenkelhälse brechen, sondern auch Bänder und Menisken reissen, was die Operationssäle und sein Konto füllt. Doch Beat poltert: «Jedes Jahr nimmt die Zahl der Sportverletzten zu! Es sind über 310 000 pro Jahr. Die Kosten der Unfallfolgen sind astronomisch! Und der Staat fördert diesen groben Unsinn auch noch, obwohl jährlich in der Schweiz fast 200 Menschen durch Sport sterben. Wie viel Schmerzen und Leid durch den Unfug entsteht, ist kaum vollstellbar.» Tatsächlich fragt man sich als Hausarzt täglich, ob Sport wirklich gesund ist ... Besonders graust es einem beim Lesen der BFU-Statistik. Im Ausland sterben beim Sport durchschnittlich 12 Schweizerinnen und Schweizer pro Jahr, wobei die Dunkelziffer vermutlich hoch ist. In der Schweiz kommen jährlich um die 60 Ausländerinnen undj Ausländer durch Sporttreiben ums Leben, sowie mindestens 140 Einheimische. Hauptkiller in unserem Land sind die Berge: Durchschnittlich 83 Bergsportler stürzen jedes Jahr in den Alpen ab. Ungefähr die gleiche Anzahl Berggänger wird durch Herz-Lungen-KreislaufErkrankungen vor Ort dahingerafft, als Folge der zu grossen Anstrengung. Ebenfalls in den Bergen findet der Schneesport statt, der jährlich weitere 40 Todesopfer fordert – die meisten davon sind Variantenfahrer, und einige davon waren blaublütig. Gefährlich ist auch das Element Wasser: Beim Sport ertrinken jährlich um die 50 Menschen, interessanterweise zu 80 Prozent Männer. Bei allen Sportarten zusammen ist der Zahl der männlichen Todesopfer fünfmal höher als die der Frauen, wobei es aber keine verlässlichen Zahlen gibt, wie viel Sport und welche Sportart die beiden Geschlechter ausüben. Im Vergleich zu den Wassersportarten, bei dem die Atemluft nicht aus der Flasche kommt, erscheint einem das Tauchen, bei dem man von Technik abhängig ist, fast harmlos: «Nur» vier Tote pro Jahr. Obwohl es mit nur einer Pferdestärke betrieben wird, sterben beim Reiten jährlich zwei Personen. Mit mehr Pferdestärken, im Strassenverkehr, sind es jedoch 320 Todesopfer. Doch der Blutzoll des Sportes ist hoch. Ist das,

was er gesundheitlich und ökonomisch einbringt, wirklich genug, um seine Kosten und Gefahren zu rechtfertigen? Moderner Sport ist von fragwürdigen Leistungs-, Konkurrenz- und Rekordprinzipien geprägt. Er hat eine Industrie hervorgebracht, in welcher mit ständig wechselnden Moden und Outfits sowie mit Events viel Geld verdient wird. Vermutlich am meisten von dicken alten Männern … Sport hat nichts mehr zu tun mit der spielerischen Freizeitbeschäftigung, die sich in der Etymologie «disportare = sich zerstreuen» noch zeigt. Sport ist ein Wirtschaftszweig. Und immer noch reichen Menschen vorbehalten. Schwer körperlich arbeitende Schlechtverdiener sind nach der Arbeit zu müde, um noch kleine Bälle übers Netz oder das Green zu schlagen. Allenfalls für die Sportschau im Fernsehen reicht ihre Energie noch aus. Viele Menschen aus bitterarmen Umgebungen träumen davon, dank Sport Ruhm und Geld zu erlangen. Gelegentlich gelingt es ihnen sogar, wobei aber auch dort nicht die Läufer aus afrikanischen Armutsländern, die Boxer und Fussballspieler aus Amerikas Slums am meisten verdienen, sondern ihre «Agenten» und «Promoter» oder wie immer sich ihre Ausbeuter auch nennen mögen. Und wer kennt die Zahl all jener jungen Menschen, denen die Kindheit genommen wurde und die keine richtige Ausbildung haben, weil sie auf eine Sportkarriere hofften, die dann nach jahrelanger Quälerei durch bleibende körperliche Schäden abrupt beendet wurde? Ganz aus der Mode gekommen ist die «Leibesertüchtigung» – zu stark sind die Assoziationen mit paramilitärischen, nationalistischen und anderen Interessen Dritter. Da jedoch gemäss eines uralten Kalauers die meisten Menschen im Bett sterben, ist es keine sinnvolle Präventionsmassnahme gegen Sportgefahren, im Bett liegen zu bleiben. Unser Bewegungsapparat braucht Bewegung, unserer Psyche tut sie gut. Und die Sportindustrie? Ganz Radikale boykottieren sie durch Nacktschwimmen in öffentlichen Gewässern oder Barfusswandern im Wald. Ich tanze mit meiner Frau, spiele Ball mit dem Nachbarskind, arbeite im Garten, gehe zu Fuss in die Praxis – aber ohne mich dafür speziell einzukleiden. Zwar verdienen Musik-, Spielwaren- und DIY-Industrie ein wenig an mir, aber weder Sportfunktionäre noch Sportartikelkonzerne, welche Menschen aus Drittweltländern ausbeuten.

ARSENICUM

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ARS MEDICI 22 I 2013