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Bitte weiterstottern!
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Kollege T., HNO-Arzt und Hals- und Gesichtschirurg, hat meinen Patienten S. ärgerlich und mich froh gemacht, denn er hat es abgelehnt, die Nase von Herrn S. einer Schönheitsoperation zu unterziehen. Gerne, so sagte er Herrn S., würde er ihm innerlich die Nasenscheidewand begradigen und die Muscheln kürzen, damit er besser Luft bekäme. Aber die Nase verkleinern, verkürzen und den Höcker wegmeisseln – das lehne er ab.
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Rubriken — ARSENICUM
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5632
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Bitte weiterstottern!

K ollege T., HNO-Arzt und Hals- und Gesichtschirurg, hat meinen Patienten S. ärgerlich und mich froh gemacht, denn er hat es abgelehnt, die Nase von Herrn S. einer Schönheitsoperation zu unterziehen. Gerne, so sagte er Herrn S., würde er ihm innerlich die Nasenscheidewand begradigen und die Muscheln kürzen, damit er besser Luft bekäme. Aber die Nase verkleinern, verkürzen und den Höcker wegmeisseln – das lehne er ab. Denn diese grosse, leicht gebogene Nase passe wunderbar in das markante Gesicht von Herrn S. Sie sei eine Charakternase, und wenn man sie verstümmle, seien die Gesichtszüge nicht mehr balanciert. Empört fragt mich Herr S., was ich dazu meine. Und ob man den HNO-Arzt verklagen könne. Nein, sage ich Herrn S., verklagen könne er ihn nicht. Eigentlich verdiene Kollege T. den Prix Courage des «Beobachters», denn er habe den Mut, nicht auf die körperdysmorphen Wünsche seiner Patienten einzugehen. Er ist kein «nip and tuck» Frevler, der mit dem Skalpell liebenswerte kleine Varianten wegschneidet. Keine leichte Sache in unserer Welt, in der schon Zwölfjährige für die Augmentationsplastik ihrer Brüste sparen, weil sie einem Standard entsprechen wollen, der vermutlich dem Hirn von Leuten entspringt, die dort Silikon haben. Dabei gibt es genügend Gegenbeispiele, dass anders schön ist. Topmodels, die nicht ihren Nävus über der Lippe operieren oder ihre Zahnlücke überkronen lassen, sondern dies als Markenzeichen pflegen. Noch häufiger ist der «Silberblick» bei Prominenten in Film und Fernsehen: Dieses ganz leichte Schielen, das sehr reizvoll wirkt. Nicht auszudenken, wenn dort ein Ophthalmologe intervenieren würde. Vermutlich gäbe es eine FanRevolte im Internet. Sehr liebenswert kann auch Stottern sein. Mani Matters Lied über «Hemmige» macht durch die Pause vor dem zweiten M hörbar, was Hemmungen sind. Bei Rolf, einem Kollegen, der ab und zu nach Konsonanten ringt oder sie verdoppelt, könnte das Stottern ebenfalls ein Kunstgriff sein, so gerne hört man es. Eigentlich sind es Synkopen, die völlig unvorhersehbar in seinem Redefluss auftauchen und daher sein Sprechen spannend machen. Obwohl ihm angst und bange wird, wenn er öffentliche Vorträge halten muss, geht genau dies mit seinem Job einher, und er stellt sich dieser Herausforderung. Mit

grösstem Erfolg: Die Zuhörer waren begeistert, ihre Beurteilungen Höchstnoten. Und das lag nicht nur daran, dass Rolf sich perfekt vorbereitete und fachlich top war, sondern auch an seinem Stottern. Geradezu lebensgefährlich hörte es sich an, wenn er ein Koronarsyndrom beschrieb – man hörte förmlich die Thrombusbildung und den Verschluss des Herzkranzgefässes, wenn der tonische Stopp vor dem K auftrat. Man litt mit der Patientin mit, deren Alkoholkrankheit er in einer Kasuistik schilderte, spürte ihre Schamgefühle und die Sch-sch-tigm-at-isierung – durch die Pausen und das explosive Herausplatzen der Konsonanten. Anders als bei der flüssigen Suada anderer Redner, die ab und zu wie irrelevante Hintergrundgeräusche dahinplätschert und wo man nicht mehr hinhört, hält einen ein stotternder Redner stets im Bann. Schafft er es, das schwierige Wort Volkswirtschaft auszusprechen, was jetzt kommen muss, und wird es wie Vo-vo-volks-w-irtsch-schaft tönen? Und wieder überrascht er uns, denn nach einer kleinen Pause vor dem schwierigen Wort kommt stattdessen «Ökonomie» – ohne jegliches Stocken! Der clevere Kerl hatte in Bruchteilen von Sekunden ein leichteres Wort gefunden. Nicht nur bei Vorträgen, sondern auch im Kontakt mit Menschen war sein Stottern hilfreich. Menschen, die Übles im Schilde führten, hielten ihn wegen des Sprachfehlers für naiv bis doof – und erfuhren später, dass sie sich fürchterlich in ihm geirrt hatten, als er ihnen gezeigt hatte, wo der Hammer hing. Schüchterne Menschen hingegen, ängstliche Patienten, ratlose alte Leute oder minderwertigkeitskomplexbeladene Teenager entspannten sich beim stotternden Doktor. Der konnte so gut zuhören und textete sie nicht mit unnützen Ratschlägen voll. Sondern liess sie ihre Sorgen in aller Ruhe erzählen, nickte und sagte dann mit tiefer Empathie: «Ja, da hatten Sie wirklich P-pech!» Rolf ist glücklich verliebt. Er hat jetzt plötzlich aufgehört zu stottern. «Das geht nicht!», redete ich ihm ins Gewissen. «Das kannst du deinen Patienten und Freunden nicht antun. Ein Scatman redet auch nicht auf einmal langsam und gleichförmig. Wir lieben deine Tempo- und Betonungswechsel, die dynamischen Längen und Synkopen. Du musst eine Logopädin finden, die dir das Stottern wieder antrainiert!» Rolf grinste und sagte herzlich zu mir: «B-blödmann!»

ARSENICUM

1048 ARS MEDICI 21 I 2013