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Leitliniengerechte Diagnostik und Behandlungsplanung bei Insomnie
FORTBILDUNG
Die Insomnie gehört neben den depressiven und Angststörungen zu den häufigsten psychiatrischen Erkrankungen. Nach internationalen epidemiologischen Studien leiden etwa 17 bis 32 Prozent der Bevölkerung unter Schlafstörungen. Die Diagnosekriterien für die chronische Insomnie erfüllen in westlichen Ländern zirka 6 Prozent. Frauen sind häufiger betroffen, und die Häufigkeit nimmt mit dem Alter zu (1). Als Folgen von Schlafstörungen treten neben Tagesbefindlichkeitsstörungen Konzentrations- oder Gedächtnisprobleme, Unruhe, Gereiztheit, Tagesmüdigkeit bis zu Angst und Depression auf. Schlafstörungen stellen eine bedeutende Ursache für krankheitsbedingte Absenzen am Arbeitsplatz sowie für müdigkeitsbedingte Unfälle dar.
Foto: zVg
Foto: Ursula Markus
Thorsten Mikoteit Martin Hatzinger
von Thorsten Mikoteit1 und Martin Hatzinger1
D ie Insomnie ist nach ICD-10 definiert als nicht erholsamer Schlaf, mit Störung des Einschlafens, Durchschlafens oder schlechter Schlafqualität, über einen Zeitraum von mindestens 1 Monat und mit subjektiver Beeinträchtigung der Tagesbefindlichkeit. Der genaue Wortlaut ist in Kasten 1 wiedergegeben (2). Typisch für die Insomnie ist ein Hyperarousal: Die Betroffenen leiden tagsüber unter einer Fatigue und fühlen sich in ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit beeinträchtigt. Während bei Schlafdeprivation eine erhöhte Schläfrigkeit typisch ist, besteht bei Insomnie eine übersteigerte Wachheit. Auch wenn die Betroffenen erschöpft sind, haben sie Mühe einzuschlafen (3). Die Diagnose wird nach ICD-10 rein klinisch anamnestisch gestellt, eine Untersuchung im Schlaflabor ist dafür grundsätzlich nicht nötig, dient aber dem Ausschluss wichtiger Differenzialdiagnosen (4). Versucht man, den gestörten Schlaf bei Insomnie zu objektivieren, beispielsweise durch eine Aktigrafie oder eine Polysomnografie, überrascht, dass die Gesamtschlafzeit häufig nicht verkürzt ist und die Wachzeit allenfalls leicht erhöht ist (5). Während auch normale Schläfer im Verlauf der Nacht Wachzeiten haben, sich an diese aber nicht erinnern oder nicht darunter leiden, wird das von den Insomniepatienten als quälend erlebt. Nur bei schweren Insomnien ist auch die Gesamtschlafzeit verkürzt. Insomnien mit objektiver Verkürzung der Gesamtschlafzeit scheinen gravierendere gesundheitliche Folgen zu haben, zum Beispiel ein signifikant erhöhtes Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen (6). Die Diskrepanz zwi-
1 Universität Basel und Psychiatrische Dienste Solothurn
schen subjektivem Leiden und objektiver Schlafstörung legt nahe, dass bei Insomnie der Schlaf nicht zwangsläufig quantitativ, aber vielmehr qualitativ gestört ist, sodass der tatsächliche Schlaf nicht als erholsam wahrgenommen wird. Bis anhin gibt es noch keine für die klinische Praxis etablierten Biomarker, die die klinische Insomnie objektivieren könnten. Die Forschung diesbezüglich konzentriert sich unter anderem auf Variablen, die das Hyperarousal und einen qualitativ gestörten Rapid-Eye-Movement-(REM-)Schlaf abbilden können. Ausserdem scheint die Neuroplastizität im Schlaf bei der chronischen Insomnie gestört zu sein: Der Nervenwachstumsfaktor «brain-derived neurotrophic factor» (BDNF) ist im Serum erniedrigt, und es gibt Hinweise, dass die Störung des REM-Schlafs mit Störungen der emotionalen Gedächtnisverarbeitung verbunden ist (5, 7).
Diagnostischer Algorithmus Für die klinische Praxis liefert die S3-Leitlinie «Nicht erholsamer Schlaf/Schlafstörungen» der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin (DGSM) einen hilfreichen evidenzbasierten Algorithmus für das diagnostische und therapeutische Vorgehen (Abbildung) [4]. Bei Schlafstörungen und bei Tagesschläfrigkeit, die zusätzlich mit erheblicher Leistungsminderung am Tag einhergehen, müssen folgende 4 Fragen geklärt werden: 1. Besteht ein adäquater Umgang mit Schlaf (Schlaf-
hygiene)? 2. Besteht eine Störung des zirkadianen Rhythmus (z. B.
Schichtarbeit)? 3. Werden schlafstörende Substanzen eingenommen
(z. B. Medikamente oder Genussmittel)?
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Erwachsene(r) mit Ein- und/oder Durchschlafstörungen/frühmorgend-
lichem Erwachen und assoziierter Tagesbeeinträchtigung
1 Erhebliche Beeinträchtigung durch
Symptomatik?
Nein
Ja
Information, Prävention
2
Angepasst an zirkadianen Rhythmus?
Ja
3
Einnahme von Substanzen, die
den Schlaf stören?
4
Umstellung, Ja Abstinenz,
Entwöhnung
Nein Nein
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Komorbide Schlafstörung, organische
oder psychische Erkrankung?
Behandlung der
Ja
komorbiden Erkrankung
UND der Insomnie
Nein
7
Behandlung der Insomnie mit KVT-I als
erster Option. Kurzfristig: BZ, BZRA,
sedierende Antidepressiva
Abbildung: Klinischer Algorithmus der Leitlinie Insomnie (mod. nach [4]). Abkürzungen: KVT-I: kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie; BZ: Benzodiazepine; BZRA: Benzodiazepinrezeptoragonisten
4. Ist der nicht erholsame Schlaf das Symptom einer psychiatrischen und/oder anderen organischen Erkrankung?
Aus der Beantwortung dieser Fragen ergeben sich entsprechende Diagnosen und daraus die geeigneten therapeutischen Interventionsmöglichkeiten.
Inadäquate Schlafhygiene und Schlafmangelsyndrom Insomnische Symptome können durch ein Fehlverhalten verursacht werden, das als inadäquate Schlafhygiene zusammengefasst wird. Sie bezeichnet Verhaltensweisen, die mit erholsamem Nachtschlaf und voller Funktionsfähigkeit am Tag unvereinbar sind (z. B. stark unregelmässige Schlafzeiten, erhöhter Koffeinkonsum usw.). Das kann anamnestisch und durch Schlaftagebücher erfasst werden. Eine Verhaltensänderung mit Beachtung der Regeln der Schlafhygiene (Kasten 2) bringt meist Erfolg.
Umweltbedingte Schlafstörungen Hier führen störende Umweltfaktoren wie Lärm, Licht, und anderes zu Insomnie und/oder Schläfrigkeit am Tag. Die Schlafstörungen können auch durch Mitmenschen, beispielsweise den schnarchenden Bettpartner, bedingt sein. Ferner wird zudem vom abendlichen Gebrauch von Bildschirmen mit blauem Licht sowie Smartphones abgeraten, da das mit der zirkadianen Rhythmik interferiert. Therapeutisch führt der Wegfall der störenden Faktoren zur Wiederherstellung des normalen Schlafs.
Störungen des zirkadianen Rhythmus Bei diesen Störungen weist der Patient eine Unfähigkeit auf, zur gewünschten Zeit schlafen zu können. Das kann durch Überqueren von Zeitzonen wie beim Jetlag, soziale Zeitgeber wie Nacht- und Schichtarbeit verursacht oder durch genetische Faktoren moduliert sein, wie bei Patienten mit dem Syndrom der verzögerten Schlafphase. Die Störungen des zirkadianen Rhythmus lassen sich anamnestisch feststellen und bei komplexen Fällen polysomnografisch erfassen. Die Therapie zielt darauf ab, die Schlafphasenlage zu ändern oder zu stabilisieren. Das geschieht durch Verstärkung externer Zeitgeber (Aktivität, Soziales, Licht) sowie gegebenenfalls medikamentös (Hypnotika, Antidepressiva, Melatonin, Stimulanzien).
Substanzinduzierte Schlafstörungen Genuss- und Suchtmittel können Schlafstörungen verursachen. Auch viele Hypnotika sind mit dem Risiko für eine Abhängigkeitsentwicklung und Aufrechterhaltung von Schlafstörungen verbunden. Zudem kann eine Vielzahl von Medikamenten Schlafstörungen als Nebenwirkung verursachen. Therapeutisch empfiehlt sich bei entsprechendem Verdacht ein Ab- beziehungsweise Umsetzen der Medikation auf eine andere Substanzklasse. Bei Missbrauch und Abhängigkeit kommen Methoden der Entzugs- und Entwöhnungsbehandlung zum Einsatz.
Schlafstörungen bei psychiatrischen Erkrankungen Bei Schlafstörungen sowie Tagesmüdigkeit muss immer an die Möglichkeit gedacht werden, dass eine psychia-
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Kasten 1:
Diagnostische Kriterien für die nicht organische Insomnie (F 51.0) nach ICD-10 (2)
● Es liegen Einschlafstörungen, Durchschlafstörungen oder eine schlechte Schlafqualität vor.
● Die Schlafstörungen treten wenigstens 3-mal pro Woche über einen Zeitraum von 1 Monat auf.
● Die Betroffenen denken vor allem nachts viel an ihre Schlafstörung und machen sich während des Tages übertriebene Sorgen über deren negative Konsequenzen.
● Die unbefriedigende Schlafdauer oder -qualität verursacht entweder einen deutlichen Leidensdruck oder wirkt sich störend auf Alltagsaktivitäten aus.
Kasten 2:
Die Regeln der Schlafhygiene (8)
1. Stehen Sie jeden Tag um dieselbe Zeit auf. 2. Gehen Sie nur schlafen, wenn Sie wirklich müde und schläfrig sind. 3. Üben Sie entspannungsfördernde Schlafrituale vor dem Zubettgehen. 4. Treiben Sie regelmässig Sport. 5. Nehmen Sie in den 4 Stunden vor dem Zubettgehen keine koffeinhaltigen
Getränke oder Medikamente ein. 6. Rauchen Sie nicht kurz vor dem Schlafengehen. 7. Vermeiden Sie einen Mittagsschlaf. 8. Reduzieren Sie Ihren Alkoholkonsum, oder verzichten Sie im Fall von Schlafstö-
rungen auf Alkohol. 9. Meiden Sie Schlaftabletten oder gehen Sie vorsichtig und sparsam damit um.
trische Erkrankung zugrunde liegt. Beeinträchtigungen des Schlafs können bei fast allen psychiatrischen Erkrankungen auftreten und sind nicht selten auch ein frühes Symptom (9, 10). Tabelle 1 fasst die typischen Schlafstörungen bei verschiedenen Krankheiten zusammen. Bei der Depression sind Schlafstörungen wie Ein- und Durchschlafstörungen ein häufiges und frühes Begleitsymptom, können jedoch dieser auch als Risikofaktor bereits Jahre vorausgehen. Polysomnografisch lässt sich bei depressiven Patienten ein hoher REM-Schlafdruck feststellen. Ebenfalls als frühes Symptom sind Schlafstörungen nach Traumatisierung zu beobachten. Diese können zur Entwicklung einer posttraumatischen Belastungsstörung (PTBS) beitragen, da durch häufige Schlafunterbrechungen wichtige Emotionsregulationsprozesse gestört werden. Merkmal einer PTBS ist beispielsweise eine Fragmentierung des REM-Schlafs. Schlafstörungen können auch nach Besserung der PTBS-Symptomatik fortbestehen und sind ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Vollbildstörung. Schlafstörungen sind ebenfalls bei Angstpatienten nicht selten und neigen zu Chronifizierung. Des Weiteren sind Schlafstörungen häufig Vorboten von beginnenden psychotischen Episoden und können selbst nach Abklingen der Symptomatik weiterbestehen. Die Therapie der Schlafstörung bei psychiatrischen Erkrankungen wird in erster Linie durch die Behandlung der Grunderkrankung abgedeckt. Andererseits kann die gleichzeitige Behandlung der Insomnie den Heilungsverlauf der psychiatrischen Krankheit erleichtern.
Indikationen für eine Abklärung im Schlaflabor Obwohl die Insomnie eine klinische Diagnose ist, kann bei längerem Bestehen und Therapieresistenz eine Abklärung im Schlafzentrum sinnvoll sein. Hier geht es vor allem um den Ausschluss von spezifischen Schlafstörungen, nämlich den schlafbezogenen Atmungsstörungen, den schlafbezogenen Bewegungsstörungen und anderen Parasomnien.
Schlafbezogene Atmungsstörungen Die schlafbezogenen Atmungsstörungen gehören zu den häufigsten schlafmedizinischen Krankheiten. Die Prävalenz von behandlungsrelevanten Fällen beträgt 2 bis 4 Prozent der Erwachsenen im Alter von 30 bis 60 Jahren (11). Man unterscheidet 3 Formen: das obstruktive Schlafapnoesyndrom (OSAS), die zentrale Schlafapnoe und das Hypoventilationssyndrom. Das OSAS, die häufigste Form der schlafbezogenen Atmungsstörungen, ist gekennzeichnet durch periodisch wiederkehrende Obstruktionen der oberen Atemwege während des Schlafs, die ein Absinken des Sauerstoffgehalts im Blut zur Folge haben (12). Betroffen ist mindestens 1 Prozent der Gesamtbevölkerung, überwiegend die Altersgruppe der 40- bis 65-jährigen Männer. Klinische Zeichen sind: übermässige Tagesschläfrigkeit, die zu Unfällen führen kann, Schnarchen, beobachtete Atemstillstände sowie häufiges nächtliches Erwachen. Der fragmentierte, nicht erholsame Schlaf und die Tagesmüdigkeit können einer Insomnie ähneln, sodass es sich hier um eine wichtige Differenzialdiagnose handelt. Häufigste Risikofaktoren für OSAS sind Übergewicht sowie andere mechanische Obstruktionen des Oropharynx. Weitere Faktoren, die beim OSAS eine Rolle spielen, sind der Atemantrieb, die Aktivität und die Reaktionsbereitschaft der Muskulatur der oberen Atemwege und die unterschiedliche Neigung zu Weckreaktionen (Arousals). Das zentrale Schlafapnoesyndrom ist gekennzeichnet durch repetitiven Stillstand der Atmung oder Unterbleiben der ventilatorischen Anstrengungen im Schlaf, gewöhnlich verbunden mit Sauerstoffentsättigung. Die Symptome sind bis auf das Schnarchen verwandt mit jenen des OSAS. Die Pathogenese ist heterogen. Am häufigsten kommen sie in Form einer periodischen Atmung bei zerebral- und/ oder herzkreislaufinsuffizienten Patienten vor. Die Diagnose der schlafbezogenen Atmungsstörungen wird bei Verdacht durch kardiorespiratorische Polygrafie (PG) oder kardiorespiratorische Polysomnografie (PSG) gestellt.
Restless-Legs-Syndrom und Periodic Limb Movement Disorder Beim Restless-Legs-Syndrom (RLS) imponieren unangenehme Sensationen in den Beinen, die mit starkem Bewegungsdrang der Beine einhergehen und auf Bewegung sofort mit Besserung reagieren. Die Symptomatik tritt besonders am Abend und in der ersten Nachthälfte auf. Die Diagnose kann anhand dieser klinischen Kriterien gestellt werden. Die Prävalenz in der Allgemeinbevölkerung liegt bei 5 bis 10 Prozent. Die Beinbewegungen im Schlaf bei der Periodic Limb Movement Disorder (PLMD) werden von den Patienten selbst in der Regel nicht wahrgenommen. Beide Störungen verursachen Schlafunterbrechungen, die mit den
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Tabelle 1:
Veränderungen polysomnografischer Parameter bei untersuchten psychischen Störungen (nach [9])
Psychische Störung
Schlafkontinuität
Schlafstadien
REM-Schlaf
SE SL AE N1 N2 N3 REM % REML REMD
Depression
↓ ↓ ↑ n.s. ↑ n.s. ↑ ↓ ↑
PTBS
↓ n.s. ↑ n.s. n.s. ↓ n.s. ↓
↑
Panikstörung
↓ n.s. n.s. – n.s. n.s. n.s. n.s. –
Generalisierte Angststörung – – – – – – – – –
Zwangsstörung
– – – – – – – – –
Schizophrenie
↓
↑
↑ n.s. ↑
↓ n.s. ↓ n.s.
Borderline-
↓ n.s. ↑ n.s. n.s. n.s. n.s. ↓ n.s.
Persönlichkeitsstörung
Anorexia nervosa
↓ n.s. – ↑ n.s. n.s. n.s. n.s. –
ADHS
n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. n.s. –
Abkürzungen: SE: Schlafeffizienz; SL: Schlaflatenz; AE: Aufwachereignisse; REML: REM-Latenz; REMD: REM-Dichte; PTBS: posttraumatische Belastungsstörung; ADHS: Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung; n.s.: nicht signifikant; ↑: Zunahme; ↓: Abnahme; – : keine Daten für die Auswertung vorhanden.
Beinbewegungen einhergehen. Neben der idiopathischen Form treten RLS und PLMD symptomatisch bei Eisenmangel sowie bei Niereninsuffizienz auf und können auch als Nebenwirkung einer Pharmakotherapie, beispielsweise mit Antidepressiva, vorkommen.
Parasomnien und im Schlaf auftretende Epilepsie Parasomnien sind charakterisiert durch im Schlaf und aus dem Schlaf heraus auftretende auffällige Verhaltensweisen und sind zumeist harmlos. Sie umfassen Aufwachstörungen wie Schlaftrunkenheit, Schlafwandeln, Bruxismus und Pavor nocturnus, Störungen des Schlafwach-Übergangs wie Sprechen im Schlaf sowie auch REM-Schlaf-assoziierte Parasomnien wie Schlaflähmungen und Verhaltensstörungen im REM-Schlaf. Vor allem bei rhythmisch auftretenden motorischen Phänomenen im Schlaf ist differenzialdiagnostisch eine im Schlaf auftretende Epilepsie abzuklären.
Therapieplanung bei Insomnie Die Behandlung der Insomnie sollte sich an einem Stufenschema orientieren, dabei sind nicht pharmakologische Interventionen prioritär zu berücksichtigen (1, 13, 14). Die wesentlichen Bausteine der nicht pharmakologischen Insomnietherapie können grob in die Psychoedukation und in psychotherapeutische beziehungsweise verhaltenstherapeutische Massnahmen eingeteilt werden. Die Psychoedukation zielt vor allem auf die Aufklärung über schlafinkompatible Verhaltensweisen und deren Beseitigung ab. Schlafinkompatible Verhaltensweisen der Patienten entspringen oft vergeblichen Selbstbehandlungsversuchen des erhöhten psychovegetativen Anspannungsniveaus und können als Symptom der zugrunde liegenden psychischen Störung aufgefasst werden. Um den Patienten zum Fachmann in eigener Sache zu machen, werden ihm grundlegende Informationen über den Schlaf und die Regeln der Schlafhygiene vermittelt. Schlafhygienische Massnahmen sollten die Beseitigung von schlafstörenden und den Aufbau von
schlafförderlichen Massnahmen begünstigen. Geeignete Massnahmen sind: Schlaftagebücher, beschränkte Schlafzeiten, Bett nur zum Schlafen gebrauchen, Rituale vor dem Schlafen, eine schlafförderliche Schlafumgebung schaffen und Uhren im Schlafzimmer vermeiden. Die Prinzipien sind den Patienten oft bereits bekannt, die Anwendung im Alltag fällt ihnen aber schwer. Deshalb sollte der Therapeut bei der Einhaltung dieser Verhaltensweisen gleichermassen motivierend wie auch kontrollierend wirken. Durch die aktive Mitarbeit des Patienten und mit dem Wissen um adäquate Modifikationen der Verhaltensweisen reduzieren sich die Hilflosigkeitsgefühle des Patienten, was für das Therapieziel einer entspannten Grundhaltung zur Schlafsituation förderlich ist. Bei den psychotherapeutischen beziehungsweise verhaltenstherapeutischen Massnahmen kommen vor allem, aber nicht ausschliesslich, Elemente der kognitiven Verhaltenstherapie zum Einsatz (14). Die Bemühungen richten sich insbesondere auf das psychophysiologische Anspannungsniveau der Insomniepatienten, das sich auf kognitiver, emotionaler und vegetativer Ebene manifestiert. Ziel jeder Intervention ist es, eine entspannte Situation auf allen drei Merkmalsebenen in der Bettsituation herzustellen. Auf kognitiver Ebene herrschen eine erhöhte Grübelneigung bezüglich Alltagsereignissen und die Fokussierung auf das eigene Unvermögen einzuschlafen. Die Beschäftigung mit den kognitiven Faktoren führt auf der Emotionsebene zu einer verstärkten emotionalen Auslenkung. Auf der vegetativen Ebene kann eine erhöhte Erregung (motorische Unruhe, Herzrasen und Schwitzen) beobachtet werden. Als wesentlicher Schlüssel für den Therapieerfolg gilt die Auflösung des charakteristischen «Teufelskreises der Insomnie». Dieser sich selbst verstärkende Kreislauf aus Einschlafschwierigkeiten, Grübeln und Erwartungsangst über die Konsequenz, der wiederum zur Verstärkung der Einschlafschwierigkeiten führt, sollte mit dem Patienten identifiziert und aufgelöst werden. Zur Therapiemethode der ersten Wahl zählt die kognitive Verhaltenstherapie für Insomnie (KVT-I). Sie ist für
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Erwachsene jeden Lebensalters konzipiert und aufgrund lang anhaltender therapeutischer Effekte einer medikamentösen Behandlung vorzuziehen. Auf medikamentöse Behandlungen sollte nur bei ineffektiver oder nicht vorhandener KVT-I zurückgegriffen werden. Die KVT-I besteht zusammengefasst aus Edukation über Schlaf, Entspannungsmethoden, Psychoedukation, Verhaltensmodifikation und kognitiver Therapie. Obwohl die Wirksamkeit nachgewiesen und die KVT-I nicht zu komplex ist, wird sie in der Praxis selten angewendet. Viele Fachpersonen wissen zu wenig über die KVT-I und greifen auf medikamentöse Behandlungen zurück, was eigentlich den Leitlinien widerspricht. Auch wenn die KVT-I mit einer 75-Prozent-Rate die Befindlichkeit von Patienten zufriedenstellend verbessert, gibt es immer noch Patienten, die von der Behandlung nicht genügend profitieren. Beispielsweise verbessert sich zwar der Schlaf, die Tagesbefindlichkeit bleibt aber schlecht. Dabei kann die Akzeptanz- und Commitmenttherapie (ACT) eine geeignete Alternative oder Addition zu nicht effektiv wirkenden Therapien sein. Die ACT beinhaltet Achtsamkeitsübungen und lehrt den Umgang mit negativen Gefühlen. Ebenfalls werden die Werte und Ziele im Leben des Patienten gemeinsam ausgearbeitet. Danach wird versucht, das Leben des Patienten gemeinsam nach diesen Werten auszurichten, was unabhängig vom Schlaf zu einer verbesserten Tagesbefindlichkeit führen kann. Eine neuere Möglichkeit in der Behandlung der Insomnie stellt die internetbasierte Therapie dar. Die Psychoedukation erfolgt mittels Smartphone oder Computer. Dabei können Tipps zur Schlafhygiene und Entspannungsübungen über Videos oder Grafiken vermittelt und Daten zum eigenen Schlafverhalten verfolgt und dargestellt werden. Vorteile der internetbasierten Therapien sind vor allem die Unabhängigkeit von Zeit und Ort sowie die Reichweite der Programme. Die medikamentöse Therapie der Insomnie ist vor allem in der Langzeitbehandlung obsolet, das aufgrund des Abhängigkeits- und Gewöhnungspotenzials von Hypnotika. Substanzen, die allenfalls für die kurzzeitige Therapie infrage kommen, sind Phytotherapeutika, niedrig dosierte sedierende Psychopharmaka wie Antidepres-
Merkpunkte:
● Häufig besteht das Problem bei der Insomnie nicht in einer Störung der Quantität, sondern der Qualität des Schlafs.
● Um eine adäquate Behandlung anbieten zu können, ist es wichtig, die verschiedenen ätiologischen Faktoren zu berücksichtigen und entsprechend zu explorieren (mangelnde Schlafhygiene, störende Umwelteinflüsse, zirkadiane Besonderheiten, dysfunktionaler Substanzkonsum).
● Schlafstörungen können als (frühes) Symptom einer psychischen Krankheit auftreten, oder aber einen Risikofaktor für die Entstehung einer psychischen Erkrankung (v.a. affektive Störungen) darstellen.
● Bei längerem Bestehen einer Schlafstörung oder bei Therapieresistenz ist eine Differenzialdiagnostik besonders wichtig, um spezifische (u. a. somatisch bedingte) Schlafstörungen ausschliessen bzw. diagnostizieren zu können.
● Zur Behandlung einer Insomnie sollten primär nicht pharmakologische Interventionen wie z. B. Psychoedukation und kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen eingesetzt werden.
siva und nur in ausgeprägten Fällen Hypnotika wie Zolpidem oder Zopiclon (Z-Drugs) oder kurz wirksame Benzodiazepine. Hypnotika sollten nie ohne die oben genannte Psychoedukation und nur innerhalb eines Gesamtkonzepts eingesetzt werden, da die Gefahr für Programmierung, Abhängigkeit und Aufrechterhaltung der Insomnie besteht.
Zusammenfassung Schlafstörungen sind häufige, klinisch relevante Probleme mit zum Teil schwerwiegenden Konsequenzen. Die Frage nach gestörtem Nachtschlaf und Tagesschläfrigkeit gehört in jede Systemanamnese. Entsprechende Beschwerden bedürfen einer sorgfältigen Abklärung und Therapie. Bei Hinweisen auf eine spezifische Schlafstörung, wie zum Beispiel obstruktives Schlafapnoe-Syndrom, Restless-Legs-Syndrom oder Narkolepsie, ist die Überweisung an ein zertifiziertes schlafmedizinisches Zentrum indiziert (www.swiss-sleep.ch). Bei der Behandlung von Schlafstörungen sollte nach einem Stufenschema vorgegangen werden: Am Anfang stehen Aufklärung und Einhaltung der Schlafhygiene. Erst nach Ausschöpfung der nicht medikamentösen Strategien kommen Medikamente zum Einsatz. l
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Thorsten Mikoteit Psychiatrische Dienste Solothurn Kliniken für Psychiatrie, Psychotherapie und
Psychosomatik Weissensteinstrasse 102
4503 Solothurn E-mail: thorsten.mikoteit@spital.so.ch
Interessenlage: Die Autoren deklarieren keine Interessenkonflikte.
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