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KONGRESS AKTUELL
SGPP 2021
ADHS bei Erwachsenen: Diagnostizieren und auch behandeln
Weil das Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) so gravierende Auswirkungen auf die Biografie einer Person haben kann, ist es enorm wichtig, diese Erkrankung zu diagnostizieren und dann auch zu behandeln. Was dabei bedeutsam ist, erklärte Prof. Nader Perroud, Hôpitaux Universitaires Genève, am PSY-Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie.
A DHS sei keine Modeerscheinung, denn Beschreibungen darüber stammten bereits aus dem 18. Jahrhundert, berichtet Perroud. Die Störung ist häufig. Bei Kindern beträgt die Prävalenz 5 bis 7 Prozent, und bei etwa 60 bis 70 Prozent von ihnen persistiert sie bis ins Erwachsenenalter. Bei Erwachsenen kann die Hyperaktivität fehlen. Mit steigendem Alter wird die Störung schwächer, verschwindet aber nicht, nur vermeintlich. Die Störung kann auch vererbt werden. ADHS kann zu erheblichen Einschnitten im Leben eines Patienten führen. Schulische Misserfolge oder Ausschlüsse, Beziehungsschwierigkeiten (75% mehr Scheidungen), Arbeitsstellenverlust, Arbeitslosigkeit, Kriminalität und erhöhtes Risiko für Verkehrsunfälle können die Konsequenzen eines ADHS sein. Todes- und Komorbiditätsrisiko sind ebenfalls 2- bis 3-mal höher als in der Normalbevölkerung. Deshalb müsse diese Erkrankung nicht nur diagnostiziert, sondern auch behandelt werden, betonte Perroud. Gemäss der NICE-Guideline, der laut Perroud zurzeit besten Leitlinie für ADHS (1), soll die Diagnose durch einen auf ADHS spezialisierten Psychiater oder Pädiater erfolgen, auf der Basis eines klinischen Befunds und eines psychologischen Assessments. Auf die Sichtweise der Betroffenen soll dabei unbedingt eingegangen werden. Die Symptome sollten den diagnostischen Kriterien des DSM-5 oder der ICD-10 entsprechen. Im DSM-5 (2) sind je 9 Kriterien zur Aufmerksamkeit und zur Hyperaktivität aufgelistet, von denen bei Jugendlichen ab 17 Jahre und bei Erwachsenen 5 Symptome gefordert sind. Zusammen mit einer Persistenz von über 6 Monaten, einer Funktionalitätseinbusse und dem Einfluss auf Schule, Arbeit oder andere Aktivitäten kann die Diagnose gestellt werden. Wichtig sei die
Abgrenzung von anderen häufigen psychiatrischen Komorbiditäten wie Autismus, Insomnie, Psychose, Angststörungen sowie bipolare und depressive Störungen, die, falls vorhanden, vor Beginn einer ADHS-Therapie behandelt werden sollten, so Perroud. ADHSSymptome können variieren, die Erkrankung unterliegt einer Fluktuation, verschiedene Trigger können die Symptome verstärken. Ein Beispiel dafür ist die plötzliche unfallbedingte Aufgabe von sportlicher Aktivität. Sport kann beispielsweise die Hyperaktivität gut kanalisieren. Fällt das weg, steigt das Risiko für eine Dekompensation. In der Therapie kommt Methylphenidat gemäss NICE-Guideline (1) als Medikament erster Wahl zum Einsatz. Bei Unverträglichkeit oder unbefriedigender Wirkung nach 6 Wochen kann auf Lisdexamphetamin, Atomoxetin oder weitere umgestellt werden. Entgegen immer wieder gehörter Befürchtungen erhöhten Therapien mit Methylphenidat oder Lisdexamphetamin das Risiko für spätere Substanzabhängigkeiten nicht, so Perroud. Im Gegenteil, diese Therapien schützten davor, seien sehr wirksam und sehr viel verträglicher als andere in der Psychiatrie eingesetzte Therapien wie beispielsweise Neuroleptika. Die Dosis der ADHS-Therapie soll wöchentlich bis zu einer klinischen Antwort oder dem Auftreten von Nebenwirkungen auftitriert werden. Die Behandlung ist eigentlich als Dauertherapie angelegt. Wenn der Patient sich allerdings selbst gut kennt, kann die Medikation auch nach Bedarf eingesetzt werden. Um sich davon allerdings ein Bild zu machen, sollte die Einschätzung von Nahestehenden eingeholt werden, so der Tipp des Experten. Eine Reevaluation der Therapie empfiehlt er alle 6 bis 12 Monate, auch wegen der Nebenwirkun-
gen. Das können je nach Präparat beispielswei-
se Gewichtszunahme, Blutdruckerhöhung
oder -senkung, sexuelle oder Schlafstörungen
oder Tics sein. Eine Einnahme zu einer anderen
Tageszeit, eine Dosissenkung oder ein Wechsel
auf ein anderes Präparat könnten die Lösung
sein, so Perroud.
Wenn die Pharmakotherapie die Symptome
nicht oder nicht vollständig beseitigt sowie bei
Unverträglichkeiten oder bei Ablehnung, kann
eine nicht medikamentöse Therapie erwogen
werden. Die kognitive Verhaltenstherapie sei
hierfür die einzige validierte Behandlung im
Zusammenhang mit einer medikamentösen
Therapie, so Perroud. Psychoedukation, Neuro-
feedback und spezielle Computerspiele kön-
nen weitere Optionen sein. Regelmässige
sportliche Betätigung und Ernährungsbera-
tung sind laut Perroud aber am hilfreichsten.
Von einer Vermeidung von Lebensmittelfarb-
stoffen rät der Experte jedoch ab, vielmehr soll-
ten Patienten oder ihre Nahestehenden darauf
achten, welche Nahrungsmittel mit einer
Hyperaktivität in Zusammenhang stehen. Von
einer Zugabe von Omega-3/6-Fettsäuren sei
ebenfalls abzusehen. Dafür gebe es zwar Evi-
denz für eine kurzzeitige Einnahme, für die
Langzeiteinnahme fehle sie aber. Unterstüt-
zung bei der Therapie sei wichtig, denn viele
Patienten stoppten die Medikation innerhalb
von 12 Monaten, und nur wenige wollten
diese wieder aufnehmen. Werde ein Coach
hinzugezogen, müsse dieser sorgfältig ausge-
sucht werden, denn es gebe tatsächlich nur
wenige, die die Voraussetzungen für eine
ADHS-Begleitung erfüllten, so der Experte
abschliessend.
l
Valérie Herzog
Quelle: «TDAH chez l’adulte – conseils et astuces pour les psychiatres». PSY-Kongress der Schweizerischen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie (SGPP), 25. bis 27. August 2021, virtuell.
Referenzen: 1. National Institute for Health and Care Excellence (NICE):
Attention deficit hyperactivity disorder: diagnosis and management. NICE guideline [NG87] Published: 14 March 2018 Last updated: 13 September 2019. https:// www.nice.org.uk/guidance/ng87/chapter/ Recommendations. Letzter Zugriff: 28.9.21 2. American Psychiatric Association: Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM–5). https:// dsm.psychiatryonline.org/doi/abs/10.1176/appi. books.9780890425596.dsm01. Letzter Zugriff: 28.9.21
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PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE
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