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STUDIE REFERIERT
«Ich komme mir dumm vor, weil ich die richtige Antwort nicht weiss»
Qualitative Studie zur Schmerzerfassung bei geriatrischen Patienten
Sehr viele alte Menschen haben Schmerzen. Aus welcher Perspektive sehen eigentlich alte Patienten ihre Schmerzen? Im Rahmen einer Befragungsstudie haben englische Forscher dies thematisch analysiert.
BMC GERIATRICS
Chronische Schmerzen begleiten mehr als die Hälfte der in der Gemeinschaft lebenden älteren Erwachsenen, und sie nehmen bis zum Alter von 80 Jahren noch zu. Vor allem sind dies muskuloskelettale Schmerzen in Rücken, Hüfte, Knie und anderen Gelenken. Sie haben einen eingreifenden Einfluss auf die individuelle Lebensqualität. Die oft zitierten Häufigkeitsraten chronischer Schmerzen dürften sogar noch zu tief sein, da viele Schmerzzustände nicht erkannt oder von den Betroffenen nicht
Merksätze
geäussert werden. Die wenigen vorliegenden Studien bei älteren Schmerzpatienten deuten auf eine Tendenz hin, Schmerzen geradezu zu erwarten, ein «guter Patient» zu sein und Schmerzen nur ungern zuzugeben. Interviews bei Patienten mit schweren Arthrosen ergaben eine gewisse Resignation, aber auch die stereotype Ansicht, dass ältere Menschen ständig über Schmerzen und Krankheiten sprechen. Die vorliegende Studie hatte zum Ziel, mehr darüber zu erfahren, wie alte Menschen mit nicht durch Krebs bedingten chronischen Schmerzen diese beschreiben und wie dies am besten erfasst werden kann.
Methodik Die Autoren rekrutierten über Radio, Fernsehen, Zeitungen und Beratungsund Patientenorganisationen Teilnehmer ab 65 Jahren, die zu einem Einzeloder Gruppeninterview bereit und kognitiv fähig waren. Die Interviews wurden transkribiert und die Daten in mehreren Durchläufen analysiert und in einem multidisziplinären Team, dem auch ältere Schmerzpatienten angehörten, besprochen.
O Als multidimensionale und konzeptuelle Erfahrung erfordert die Schmerzerfassung ein ganzheitliches Vorgehen.
O Eine erzählende Herangehensweise erleichtert das Verständnis der Schmerzkonzepte einer älteren Person und der Auswirkungen des Schmerzes auf ihr Leben.
O Narrative Methoden der Schmerzerfassung sollten Routinepraxis sein. Dazu gehören Fragen nach der Auswirkung des Schmerzes auf Alltagsaktivitäten und die Ermunterung, Geschichten zu erzählen und Gleichnisse oder Metaphern zu gebrauchen.
Ergebnisse 16 Frauen und 7 Männer zwischen 66 und 89 Jahren erklärten sich zur Teilnahme bereit. 16 waren Kaukasier, die übrigen chinesischer Abstammung, alle bis auf einen Mann waren pensioniert, 15 lebten alleine, 8 mit Partnern. Nach Eigenangaben litten die Teilnehmer am häufigsten an Arthritis. Aus der Analyse schälten sich drei klare Themenkreise heraus. Unterschiede bei der Verwendung einer numerischen Skala: Alle Interviewten wurden aufgefordert, ihre Schmerzen auf einer Skala von 0 bis 10 einzuordnen. Eine 86-Jährige mit Kniearthrose antwortete ohne zu zögern «Ganz
klar 10, es tut unerträglich weh.» Oft kamen aber auch zögernde Antworten: «8 bis 10», oder eine längere Erzählung: «Wenn ich im Bett bin, geht es, aber sowie ich am Morgen aufstehe, geht es wieder los. Es bleibt dann mehr oder weniger, bis es abklingt, wissen Sie, etwa nach 14 Tagen.» Unter denjenigen, die Schwierigkeiten hatten, dem Schmerz eine Zahl zuzuordnen, ergab sich im Gespräch, dass sie eine einzige Zahl als inadäquat empfanden, um ihren Beschwerden gerecht zu werden, die im Lauf der Zeit, von Tag zu Tag oder von Stunde zu Stunde schwankten. Bemerkenswerterweise bezeichneten alle chinesischen Teilnehmer ohne zu zögern eine Zahl für ihren Schmerz. Da für sie Englisch Zweit- und Fremdsprache sei, falle es ihnen leichter, ihre Schmerzen mit einer Zahl als sprachlich zu beschreiben: «Wenn wir Schmerzen haben, gehen wir zwar zum Hausarzt, aber selbst dann, bei schlimmen Schmerzen, können wir sie wegen der Sprachbarriere nicht beschreiben. Aber in Hongkong sagen wir dem Arzt nur ‹Ich will diesen Arm weg haben, ich will ihn wirklich weg haben›» (lacht). Unter den anderen Befragten, für welche die Sprache kein Problem war, trat dennoch eine Präferenz zutage, Schmerzen eher verbal als numerisch zu beschreiben. Personalisierung der Bedeutung des Schmerzes durch Geschichten, Gleichnisse und Metaphern: Auf die Aufforderung «Erzählen Sie mir von ihren Schmerzen», antworteten die Teilnehmer gern und beschreibend, etwa zur Schmerzqualität («nagend», «unangenehm», «unerträglich»). Öfter als durch einzelne Worte erzählten sie jedoch eine Art Geschichte über ihren Schmerz und benutzten manchmal Vergleiche und Metaphern («zwei Knochen, die aneinander reiben», «wie fliessendes, kaltes Wasser», «es tut unerträglich weh, wie die Folter der Hexen im Mittelalter, heutzutage sollten wir doch nicht mehr so zu leiden haben»). Ähnlich wie mit der numerischen Skala hatten aber manche Schmerzpatienten auch mit der verbalen Beschreibung Mühe, weil es so schwierig sei, die Variabilität und Unvorhersehbarkeit in Worte zu fassen: «Ich komme mir dumm vor, weil ich die richtige Antwort nicht weiss. Ich habe nämlich nicht die
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Fachsprache, um auszudrücken, was ich fühle.» Dank dem zeitlichen Raum des Interviews fand der betroffene 68-Jährige mit Fussschmerzen dann doch eine Metapher: «Ich habe früher in der Milchwirtschaft gearbeitet, und da wurde viel gekühlt. Wenn man zuhört, wie die Rohre gekühlt werden, das ist genau dasselbe Gefühl wie in meinen Füssen, es blubbert.» Schmerzzusammenhang in Bezug auf die Alltagsaktivitäten: In der erzählenden Antwort betraf die «Geschichte» oft den Aspekt, wie chronischer Schmerz ein normales Funktionieren und normale Aktivitäten einschränkt oder völlig verhindert. Die Beschreibung der Einschränkung körperlicher, sozialer Aktivitäten wurde oft benützt, um die Schmerzintensität zu beschreiben: «Manches braucht viel länger als früher. Ich kann nur beschränkt im Garten arbeiten, etwa Gras schneiden, das geht bloss in winzigen Abschnitten.» Auch im Zusammenhang mit den Auswirkungen auf die Alltagsaktivitäten betonten die Befragten wieder die Variabilität des Schmerzes im Tagesverlauf. Die Teilnehmer erwähnten auch ausführlich die Einschränkung sozialer Aktivitäten wie Einkaufen, Kegeln oder Besuche bei Freunden, und sie sprachen auch über die schmerzbedingte Beeinträchtigung von Freundschaften: «Ich bringe meinen Freunden nichts mehr, die sind alle aktiv und wollen wandern gehen, aber ich kann nicht.» Als weiteren wichtigen Aspekt sahen die Schmerzpatienten die Einschränkungen bei eigentlich selbstverständlichen Verrichtungen wie Kleider anziehen oder Make-up auftragen. Oft kam auch die stetige Verschlechterung durch die zunehmenden Schmerzen zur Sprache, etwa in präzisen Erzählungen zur laufend abnehmenden Gehstrecke.
Diskussion Wie in dieser Studie wurde auch schon in anderen Untersuchungen festgestellt, dass die Variabilität und Unvorhersagbarkeit von Schmerzen es schwierig macht, diese numerisch zu fassen, und zwar nicht nur bei älteren Patienten. Deshalb ist die numerische Schmerzskala auch schon infrage gestellt worden. Dennoch wird der Gebrauch solcher Schmerzskalen allgemein empfohlen und hat viele wertvolle Informationen geliefert.
Allen Schmerzskalen, auch solchen mit verbalen Deskriptoren, ist gemeinsam, dass sie nur einen Aspekt des Schmerzes erfassen, nämlich die Intensität. Um der Komplexität des Schmerzerlebens gerecht zu werden, ist daher eine ganzheitliche, multidimensionale Erfassung notwendig. Dies versucht beispielsweise das Konzept des «totalen Schmerzes» von Cicely Saunders, das die Betonung auf die betroffene Person und ihr Krankheitserleben legt. Danach kann Schmerz nicht nur auf dem Körper und seinen Krankheitssymptomen beruhen, sondern auch von körperlichem, psychosozialem, spirituellem oder sozialem Stress herrühren. Ziel der Evaluation der individuellen Schmerzerfahrung ist ein besseres Management und eine bessere Anpassung der Therapie. Beides kann auf der Strecke bleiben, wenn die Schmerzexploration inadäquat bleibt. Für ältere Patienten erscheint es als typisch, dass sie selbst auf geschlossene Fragen zum Schmerz mit einer Erzählung reagieren, welche den Schmerz in einen Zusammenhang stellt und ihm eine Bedeutung gibt. Zur besseren Abschätzung der Auswirkungen des Schmerzmanagements kann die Erkundigung nach dem Effekt auf alten Menschen wichtige Alltagsaktivitäten mit entsprechend gezielten Fragen hilfreich sein: «Können Sie mit Ihrem Hund wieder weitere Spaziergänge machen?», «Treffen Sie Freunde zum Wandern?» Die medizinische Betreuung chronischer Schmerzpatienten kann von der Palliativmedizin lernen. Diese hat schon lange auf die zentrale Aussage in den Geschichten eines Patienten gehört, um dessen Bedürfnisse gesamthaft zu erfassen. Ein solches Vorgehen braucht jedoch Zeit und die Bereitschaft zuzuhören. In einem randomisierten, doppelblinden Experiment konnte gezeigt werden, dass die Art der Fragestellung die von Arthrosepatienten zum Schmerz gelieferten Informationen entscheidend beeinflusst. Eine offene Aufforderung («Erzählen Sie mir von Ihren Schmerzen, Beschwerden, von dem, was Sie stört») erzielte mehr schmerzrelevante Informationen als die Aufforderung, den Schmerz auf einer Skala von 0 bis 10 einzustufen. Zu Beginn einer Schmerz-anamanese sollten Praktiker daher immer offene Fragen wählen.
Gerade älteren Patienten sollte man helfen, ihren Schmerz möglichst effektiv zu kommunizieren. Wie bei vielen anderen qualitativen Erhebungen sollten die Ergebnisse ihrer Studie als illustrativ und weniger als statistisch repräsentativ aufgefasst werden, schreiben die Autoren. Auch die gewählte Methodik – durch Anzeigen rekrutierte Schmerzpatienten – dürfte Individuen bevorzugt haben, die bereit waren, über ihren Schmerz zu sprechen, und keine einfache vorgefasste Erklärung für ihre Erkrankung hatten. In dieser Untersuchung traten Unterschiede bei Schmerzpatienten mit fremdem ethnischem Hintergrund hervor, denen Rechnung zu tragen ist. Sprachbarrieren sind in der Schmerzanamnese ein grosses Problem. Manchmal können dann numerische Schmerzskalen noch am ehesten Informationen liefern, wenn es an beschreibenden Worten fehlt. O
Halid Bas
Clarke A et al.: «I feel so stupid because I can’t give a proper answer…» How older adults describe chronic pain: qualitative study. BMC Geriatrics 2012; 12: 78.
Interessenlage: Die Autoren des Beitrags im «Journal of Clinical Interventions of Aging» deklarieren, keine Interessenkonflikte zu haben.
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