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BERICHT
COVID-19
Haben wir die Pandemie bald überstanden?
Foto: vh
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Einige Länder haben die Pandemie für beendet erklärt und alle Massnahmen sistiert. Ob und wann die Schweiz das auch kann, hänge von der Immunisierungsquote der Bevölkerung ab, erklärte der Mikrobiologe Prof. Martin Ackermann von der Swiss National COVID-19 Science Task Force. Er informierte am Herbstkongress der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin über Entwicklung, Strategie und den Stand der Dinge in der Coronapandemie. Ein Update zur Impfung lieferte der Präsident der Schweizer Kommission für Impffragen (EKIF), Prof. Christoph Berger. Die verfügbaren Impfstoffe schützen seiner Meinung nach sehr effizient vor schwerer Erkrankung, was sich auch in den Zahlen der hospitalisierten COVID-19-Patienten widerspiegelt.
Während die meisten der 100 Billionen Viren
auf und in uns unauffällig sind, können verein-
zelte zu grossen Problemen führen und sich in
rasanter Geschwindigkeit verbreiten. SARS-
CoV-2 hat sich innerhalb weniger Monate über
die ganze Welt verteilt und in den letzten 19
Monaten für grosse Probleme gesorgt. Prekär
daran ist, dass die Übertragung auch ohne
Symptome erfolgen kann, die Krankheitsver-
Martin Ackermann
läufe schwerer sind als bei der saisonalen Influenza und die Bevölkerung anfänglich nicht im-
munisiert war.
Das respiratorische Virus wies in seiner ersten
Variante (Wuhan-Stamm [Alphavariante]) eine
Infektionsmortalität von etwa 0,5 Prozent auf
und war mit einer Reproduktionszahl von
zirka 3 bis 4 etwa so infektiös wie das Polio-
myelitis-Virus. Die stetige Veränderung des
Virus habe, so Ackermann, leider nicht zu einer
Abnahme der Mortalität geführt. Im Gegenteil,
die Sterblichkeit der derzeitigen Deltavariante
Christoph Berger
liegt bei rund 1 Prozent, und die Reproduk-
tionszahl ist auf etwa 5 bis 8 gestiegen. Die
Lösung dieses Problems sei deshalb die Immunisierung der
Schweizer Bevölkerung, um das Gesundheitssystem in der
Schweiz nicht zu überlasten, berichtete der ehemalige Task-
Force-Präsident.
Der kurvenreiche Weg dorthin
Die Task Force ist interdisziplinär zusammengesetzt und hat im Verlauf der Zeit an einer Vielzahl verschiedener Themen gearbeitet. Während der ersten Welle hat sie sich zum Beispiel mit nicht pharmakologischer Infektionsprävention auseinandergesetzt, unter anderem mit Fragen zur Rezyklierbarkeit von Masken, die zu dieser Zeit Mangelware waren. Zwischen Mai und September 2020 wurden Optionen zum Abbau der Staatsschulden im Zusammenhang mit der COVID-19-Krise erarbeitet, psychologische Auswirkungen der Coronarestriktionen zusammengetragen sowie Daten zu Medikamenten
zur Therapie von COVID-19 analysiert. Während der zweiten Welle im Herbst 2020 wurden Überlegungen zur Skalierbarkeit der TRIQ-Strategie (Testen, Rückverfolgen, Isolieren, Quarantäne) angestellt und Daten zu möglichen Langzeitfolgen von COVID-19 zusammengetragen. Im März 2021, in der dritten Welle, präsentierte die Task Force Analysen zu den wirtschaftlichen Vorteilen einer beschleunigten Impfkampagne. Sie zeigte auf, dass es sich aus der Sicht der Allgemeinheit lohne, in eine umfassende Impfkampagne zu investieren, so Ackermann. Im Frühjahr 2022 ist die Auflösung der Task Force geplant.
Derzeitige Situation
Bis Juni 2021 war vor allem die Alphavariante in der Schweiz aktiv. Seit den Sommermonaten ist jedoch die sehr ansteckende Deltavariante stark verbreitet und hat der Pandemie neuen Schub verliehen, die Alphavariante tritt nur noch marginal auf. Man müsse sich darauf einstellen, dass dieses Virus nicht verschwinden werde, so Ackermann. Es sei zu erwarten, dass die meisten Menschen durch Krankheit oder Impfung immunisiert würden. Derzeit (Stand September 2021) seien in der Schweiz über 2,3 Millionen Menschen noch nicht immunisiert. Das bedeute, dass im besten Fall eine Impfung dieser Menschen die zusätzliche Krankheitslast tief halten würde, im schlechtesten Fall eine Infektion dieser nicht immunisierten Personen wegen der Deltavariante zu einer grösseren Krankheitslast führen könnte als in den vergangenen Wellen, so die Überlegungen der Task Force. Während in Grossbritannien, Portugal und Dänemark über 95 Prozent der > 50-Jährigen doppelt geimpft sind, liegt die Schweiz erst bei 75 Prozent. Der Anteil der Nichtimmunisierten ist in der Schweiz derzeit etwa 5- bis 8-mal grösser als in den erwähnten Ländern, sodass die Schweiz noch nicht wie zum Beispiel Dänemark alle Coronamassnahmen aufheben und die Epidemie für beendet erklären kann. Trotz des guten Schutzes der mRNA-Impfung könne es zu einer spitalpflichtigen Erkrankung sowie zu Todesfällen kommen, denn keine Impfung schütze zu 100 Prozent, so Ackermann. Je mehr Menschen geimpft seien, desto häufiger
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Tabelle:
Infektionen trotz vollständiger Impfung
Geimpfte Ungeimpfte
Asymptomatische +++ ++++++
Infektionen
Milde Infektionen
++
++++++
Schwere Infektionen/ –
> 90% der Hospitalisierten
Hospitalisierung
Quelle: C. Berger, SGAIM-Herbstkongress 2021
würden mit der Zeit Impfdurchbrüche auftreten, auch weil bei den vulnerabelsten Gruppen die Impfabdeckung am höchsten sei. Bleibe dieser Umstand unberücksichtigt, werde die Impfwirkung unterschätzt, so Ackermann. Schweizer Daten zeigen, dass die Impfung einen Schutz vor Hospitalisierung bei Personen bis zum Alter von 79 Jahren zu 95 Prozent bietet, ab 80 Jahren zu 91 Prozent.
Was zu erwarten ist
SARS-CoV-2 wird nicht verschwinden. Die Epidemiewellen werden jedoch nach Einschätzung von Ackermann aufhören, sobald die Immunisierung der Bevölkerung hoch ist. Der Weg dorthin bestehe aus einem niederschwelligen Zugang zur Impfung, gepaart mit einer Information aus vertrauenswürdiger Quelle wie beispielsweise durch den Hausarzt, so Ackermann. Überzeugte Impfgegner lassen sich dadurch zwar nicht motivieren. Bei noch Unentschlossenen oder Ängstlichen dagegen könnte auch die Aussicht auf eine Nicht-mRNAImpfung und die Tatsache, dass eine Immunisierung durch Impfung weniger gesundheitliche Konsequenzen hat als durch Erkrankung, eine Überzeugungshilfe darstellen.
Impfung extrem wirksam
«Die uns verfügbaren mRNA-Impfstoffe sind extrem wirksam. Das wusste man so nicht von Anfang an», eröffnete Prof. Christoph Berger, Infektiologie und Spitalhygiene, Universitäts-Kinderspital Zürich, und Präsident der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF), sein Plädoyer für die Impfung. Das treffe nicht nur für gesunde Personen zu, sondern auch für ältere und chronisch erkrankte. Die Impfstoffe seien altersunabhängig wirksam gegen asymptomatische, milde oder schwere Infektionen. Gegen die derzeit grassierende Infektion mit der Deltavariante betrage der Schutz gemäss Daten aus England, Kanada und Israel 85 bis 95 Prozent, so Berger. Daten aus den USA zeigen für die Periode von April bis Ende Juli 2021 eine sehr tiefe Hospitalisierungsrate bei Geimpften im Gegensatz zu Ungeimpften (2, 3), sodass das amerikanische Center of Disease Control (CDC) von
Argumentationshilfen für den Hausarzt
▲ Eine Immunisierung durch eine Impfung hat weniger gesundheitliche Konsequenzen als eine Immunisierung durch Erkrankung.
▲ Eine Impfung schützt vor schwerer Erkrankung. ▲ Doppelt Geimpfte sind 3-mal weniger empfänglich für eine Infek-
tion und geben weniger Viren weiter.
einer Risikoreduktion um das 5-Fache für eine Infektion und mehr als das 10-Fache für Hospitalisierung und Tod gegenüber Ungeimpften spricht (3). Diese Beobachtungen decken sich mit Daten aus der Schweiz, wonach seit Juli 2021 mehr Spitaleintritte bei ungeimpften (> 90%) als bei geimpften Personen verzeichnet wurden (4).
COVID-Auffrischimpfung wann und für wen?
Während in den ersten beiden Wellen vermehrt ältere Personen erkrankt sind, sind jetzt vor allem jüngere Erkrankte in der Mehrheit, weil die älteren inzwischen mehrheitlich geimpft sind. Ziel einer breiten Impfung ist die Verminderung von schweren Krankheitsfällen. Ob eine Boosterimpfung derzeit notwendig sei, sei vor allem eine politische Diskussion, denn die wissenschaftliche Evidenz dazu fehle noch, um eine Impfempfehlung auszusprechen, so der EKIF-Präsident. Bei Zirkulation der Deltavariante kommt es nun mit zunehmendem Intervall seit der Impfung zu Infektionen bei Geimpften, diese sind fast immer mild. Im Rahmen einer Abnahme der neutralisierenden Antikörper in den oberen Atemwegen war das, wie auch bei anderen Impfungen, zu erwarten. Doch schützt hier das immunologische Gedächtnis, das innert Tagen nach Viruskontakt reaktiviert wird, die Geimpften weiterhin noch rechtzeitig vor schweren Infektionen. Eine erste Studie aus Israel weist nun darauf hin, dass mit einer Boosterimpfung bei > 60-Jährigen mindestens 5 Monate nach der 2. Impfung die Rate schwerer Erkrankungen zumindest kurzfristig gesenkt werden konnte (5). Inwiefern die israelischen oder amerikanischen Zahlen auf die Schweiz übertragbar sind, wird überprüft. Es muss genau und evidenzbasiert festgelegt werden, bei wem (Immundefiziente? Hohes Alter? Ab welchem Alter?) und wann eine Auffrischimpfung wie den erwarteten Schutz bringt. Zurzeit sei es jedenfalls wirksamer, die Ungeimpften vollständig zu impfen und damit schwere Erkrankungen zu verhindern, so der EKIF-Präsident. Antikörpertiterbestimmungen empfiehlt Berger nicht generell, sondern nur bei schwer immunsupprimierten Personen. Zudem können sie, sofern vor der Impfung vorhanden, zur Festlegung des Impfschemas hilfreich sein (Genesene brauchen nur 1 Impfung).
Argumente für eine Impfung für den Hausarzt
Doppelt geimpfte Personen sind gemäss der britischen
REACT-Studie 3-mal weniger empfänglich für eine Infektion
mit SARS-CoV-2, auch wenn sie mit einer coronapositiv ge-
testeten Person in Kontakt gekommen sind (6). Das bedeutet,
dass die Geimpften weniger Viren weitergäben, so Berger.
«Die geimpften Personen leisten hier einen wesentlichen Bei-
trag, dass wir weniger Viruszirkulation haben», so Berger.
Dass die Impfung nicht vor Infektion, aber vor schwerer Er-
krankung schütze, müsse klar kommuniziert werden (Ta-
belle).
s
Valérie Herzog
Quelle: «Science under fire: 18 Monate mit SARS-CoV-2/Covid-Impfungen: Auffrischimpfungen wann und für wen?», SGAIM-Herbstkongress, 16. bis 17. September 2021, virtuell.
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Referenzen: 1. Swiss National COVID-19 Science Task Force. https://sciencetaskforce.
ch 2. Rosenberg E et al.: New COVID-19 cases and hospitalizations among
adults, by vaccination status – New York, May 3–July 25, 2021. MMWR Morb Mortal Wkly Rep. 2021;70(34):1150-1155. Published 2021 Aug 27. doi:10.15585/mmwr.mm7034e1 3. Scobie HM et al.: Monitoring incidence of COVID-19 cases, hospitalizations, and deaths, by vaccination status – 13 U.S. Jurisdictions, April 4 – July 17, 2021. MMWR Morb Mortal Wkly Rep. 2021;70(37):1284-1290. Published 2021 Sep 17. doi:10.15585/mmwr.mm7037e1 4. https://www.srf.ch/news/schweiz/taeglich-aktualisierte-grafikenso-entwickeln-sich-die-corona-zahlen-in-der-schweiz. Letzter Zugriff: 24.9.21 5. Bar-On YM et al.: Protection of BNT162b2 vaccine booster against Covid19 in Israel. N Engl J Med. 2021;10.1056/NEJMoa2114255. doi:10.1056/ NEJMoa2114255 6. https://www.imperial.ac.uk/news/227713/coronavirus-infectionsthree-times-lower-double/. Letzter Zugriff: 24.9.21
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