Transkript
Highlights vom Treffen der schweizerischen Rheumatologen
Präventionsprogramm verhindert viele schwere Stürze
BERICHT
Welche Therapien zeigen die beste Wirkung bei Kniearthrosen? Haben Immunsuppressiva einen Einfluss auf COVID-19-Impfungen? Was könnte hinter nicht entzündlichen Rückenschmerzen stecken? Lassen sich Stürze durch eine einzige Schulung reduzieren? Einige Highlights vom Jahrestreffen der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie in Lausanne.
Jeder dritte ältere Mensch stürzt einmal pro Jahr, in der Mehrheit der Fälle im eigenen Haushalt. Lassen sich solche häufig mit bösen Knochenbrüchen verbundenen Unfälle durch eine Sturzprävention reduzieren? In einer gemeinsamen Studie des Luzerner Kantonsspitals, der Rheumaliga Schweiz und des Instituts für Physiotherapie der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) wollte man evaluieren, ob sich die Zahl der Stürze durch eine entsprechende Schulung vermindern lässt (1).
Deutlich weniger Stürze durch Prävention
Für die Beobachtungsstudie wurden Personen rekrutiert, die im Jahr vor der Studie gestürzt waren (n = 639, Durchschnittsalter 82 Jahre, ²/³ davon Frauen). Diese erhielten in den eigenen vier Wänden von speziell ausgebildeten Physiotherapeuten ein Sturzpräventionsprogramm. Das habe verschiedene Tests zu Stürzen und Sturzangst, das Erkennen potenzieller Sturzgefahren in der Wohnung oder die Detektion fehlender Beleuchtung und Haltegriffe umfasst, berichtete Dr. med. Ralph Melzer, Kantonsspital Luzern. Zudem wurden spezielle körperliche Übungen zur Sturzprävention vorgestellt. Nach dieser Schulung wurden die Teilnehmer über die Dauer eines Jahres alle zwei Monate telefonisch zu Lebensqualität, Sturzangst, physischer Aktivität und möglichen Sturzereignissen befragt. Während für das Jahr vor der Studie noch 855 Stürze erhoben wurden (1,35 pro Person/ Jahr), verminderten sich im Jahr nach der Sturzprävention die Unfälle auf 652 (1,02 pro Person/Jahr), eine Reduktion von knapp 24 Prozent (Tabelle). Auch die Angst vor dem Stürzen, die Lebensqualität und die körperliche Aktivität hatten sich im Untersuchungszeitraum verbessert. Ein noch stärkerer Rückgang war bei schweren Stürzen zu verzeichnen: Vor der Untersuchung waren den Krankenversicherungen 111 Personen mit 124 schweren Sturzereignissen gemeldet worden, danach nur noch 55 Personen mit 67 schweren Stürzen. «Das kommt einer Abnahme von 47 Prozent gleich», freute sich Prof. Dr. Karin Niedermann von der ZHAW in Winterthur am Jahrestreffen der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie in Lausanne. Entsprechend reduzierten sich die Spitalaufenthalte und die direkten medizinischen Kosten. Apropos Kosten: Bislang werden die Kosten
von rund 500 Franken für ein solches Sturzassessment nur von einem kleinen Teil der Kassen übernommen. Derzeit stellt jedoch die Rheumaliga Schweiz bei der Grundversicherung einen Antrag auf Kostenübernahme, was in Anbetracht der guten Studienresultate Erfolg versprechend sein dürfte.
Kniearthrosen: Stärkster Nutzen für PRP-Therapie
Die therapeutischen Möglichkeiten bei Kniearthrosen sind stark limitiert. Gleichzeitig ist der tatsächliche Nutzen der vorhandenen Therapien schwierig zu messen. In einer grossen Metaanalyse untersuchten amerikanische Wissenschaftler, welcher Nutzen von vier unterschiedlichen Behandlungsoptionen hinsichtlich der Reduktion von Schmerz und Verbesserung der Funktion zu erwarten ist: die Injektion von Steroiden, Hyaluronsäure, «plasma rich in growth factors» (PRGF) oder «platelet-rich plasma» (PRP) (2). Von knapp 4000 gescreenten Artikeln wurden 23 randomisierte, kontrollierte Studien in die Auswertung einbezogen. Nach sechs Monaten zeigten die untersuchten Therapien, mit Ausnahme von Kortikosteroiden, eine statistisch signifikante Verbesserung. Die höchste Wahrscheinlichkeit für einen Nutzen ergab die Behandlung mit PRP. Bei diesem Verfahren wird Blutplasma mit eigenen Thrombozyten angereichert und dann direkt ins betroffene Gelenk injiziert. Die PRP-Therapie habe gegenüber Plazebo eine klinisch bedeutsame Verbesserung hinsichtlich des Schmerzes gezeigt (mittlere Differenz [MD]: 0,71), vor allem aber hinsichtlich der Funktion (MD: 1,60), berichtete Dr. med. Lukas Wildi vom Kantonsspital Winterthur. Auch die Injektion von PRGF, bei der das Blutplasma mit Wachstumsfaktoren angereichert wird, wies einen signifikanten Vorteil auf (MD: 0,55 resp. 1,53), danach folgte Hyaluronsäure (MD: 0,21 resp. 0,43). Hingegen sollten Steroide zur Behandlung einer Arthrose nur dann eingesetzt werden, wenn ein relevanter Entzündungsdruck oder Kalziumpyrophosphatdihydrat-(CPPD-)Kristallablagerungen vorliegen, erklärte der Winterthurer Spezialist. Hinsichtlich des Nutzens von PRP sprach der Rheumatologe von einer «sehr erfreulichen Evidenz, die hier in einer sehr sorgfältigen Arbeit zusammengetragen wurde». Allerdings wird deren Einsatz in den meisten Fällen von den Kassen bislang noch nicht vergütet.
ARS MEDICI 21 | 2021
637
BERICHT
Tabelle:
Stürze und Sturzrate vor und nach dem Hausbesuch (1)
Endpunkte
Vor dem Hausbesuch
Summe aller Stürze
855
Sturzrate (Stürze/Personenjahr)
1,35
Absolute Verminderung der Stürze resp.
absolute Verminderung der Sturzrate
Relative Verminderung der Anzahl Stürze
resp. der Sturzrate
Ein Jahr nach dem Hausbesuch 652 1,02
• 203 Stürze • 0,33
• 23,92%
Schwächere COVID-19-Impfantwort bei Immunsupprimierten
Haben immunsuppressive Therapien bei Patienten mit rheumatoider Arthritis (RA) einen Einfluss auf die COVID-19Impfantwort? Für die Beantwortung dieser Frage rekrutierte das Team um Prof. Dr. med. Andrea Rubbert-Roth vom Kantonsspital St. Gallen 73 RA-Patienten und 21 gesunde Kontrollpersonen (3). Die RA-Patienten wurden kontinuierlich mit antirheumatischen Medikamenten (DMARD) behandelt, davon knapp die Hälfte mit Biologika und ein Viertel mit JAK-Inhibitoren. Alle Teilnehmer wurden mit mRNA-Vakzinen der Firmen Moderna oder Biontech geimpft. Bei vier Patienten konnte ein früherer asymptomatischer Kontakt zum Coronavirus nachgewiesen werden, sie wurden aus der Studie ausgeschlossen. Drei Wochen nach der ersten Impfung zeigten die Mitglieder der Kontrollgruppe mit einem SARS-CoV-2-Antikörperlevel von 99,2 U/mL eine gute Impfantwort, zwei Wochen nach der zweiten Impfung waren alle Antikörperlevel über 2500 U/mL. Hingegen erwies sich die Response bei den immunsupprimierten RAPatienten als eher zögerlich. So war nach der ersten Impfung nur ein medianer Wert von 0,4 U/mL und nach der zweiten Impfung ein medianer Wert von 657 U/mL zu beobachten. Anders ausgedrückt: Eine ausreichende Impfantwort von 133 U/mL hatten drei Wochen nach der ersten Impfung nur 1,4 Prozent der RA-Patienten erreicht (Kontrolle 43%), zwei Wochen nach der zweiten Impfung 75 Prozent (Kontrolle 100%). «Immunsupprimierte Patienten brauchen deshalb die zweite Impfung, möglicherweise aber auch eine dritte», erklärte Rubbert-Roth. Zudem sei bei diesen Patienten die Kontrolle der Impfantworten relevant. Die gute Nachricht: Keine der geimpften Personen erkrankte an COVID-19. Für ihre Forschung erhielten Prof. Rubbert-Roth und Prof. Burkhard Ludewig mit ihrem Team am Jahrestreffen der Schweizerischen Gesellschaft für Rheumatologie den SGR-AbstractAward.
Bethesda Spital Basel bei seinem Überblicksvortrag. Bei aku-
ten lumbosakralen Schmerzen liegen häufig Facettengelenk-
dysfunktionen vor, möglich sind aber auch Wirbelkörper-
frakturen oder ein Riss im Anulus fibrosus mit eher zentraler
Ausstrahlung. Eher diffuse Schmerzen im dorsalen Becken-
bereich gehen von Sakrumfrakturen aus, akute Schmerzen
können mit Muskeldekompensationen oder ISG-Dysfunk-
tionen in Verbindung stehen. Zeigt der Einsatz von Medika-
menten überhaupt keine Wirkung, kann das ein Hinweis auf
myofasziale Schmerzen, aber auch auf Nervenkompressions-
syndrome sein. Bei der Anamnese sollten nicht nur die
Schmerzlokalisation, sondern ebenso der Schmerzbeginn
(Seit wann? Akut oder schleichend? Sofort immobilisierend
oder erst nach und nach?) und mögliche Schmerzverstärkun-
gen oder -verbesserungen (Positionen, Belastungen, Medika-
mente) abgefragt werden, erklärte der Experte. Dabei kön-
nen Körperhaltung, Beckenstand, Gangbild, Wirbelsäulen-
form, Muskelatrophien oder Gelenkschwellungen wertvolle
Hinweise geben. «Man sieht schon sehr viel, wenn der Pati-
ent durch die Tür kommt und ein paar Schritte geht», be-
richtete Gadola.
s
Klaus Duffner
Referenzen: 1. https://www.rheumaliga.ch/assets/doc/CH_Dokumente/qui-
sommes-nous/parrains/Sturzpraevention-RLS_Abschlussbericht.pdf 2. Singh H et al.: Relative Efficacy of Intra-articular Injections in the Treat-
ment of Knee Osteoarthritis: A Systematic Review and Network Meta-analysis. The American Journal of Sports Medicine. 2021; https:// doi.org/10.1177/03635465211029659 3. Rubbert-Roth A et al.: Anti-SARS-CoV-2 mRNA vaccine in patients with rheumatoid arthritis. Lancet Rheumatol. 2021;3(7):e470-e472. doi:10.1016/S2665-9913(21)00186-7
Rückenschmerzen mit vielen Ursachen
Facettengelenke, Wirbelkörper, Sakrum, Ileosakralgelenke, Hüft-, Knie- oder Fussgelenke, Nervenwurzeln, Rückenmuskeln, Diskus, Ligamente, Faszien, Ischiasnerven, Glutealmuskulatur, Bursa trochanterica – die Ursachen von nicht entzündlichen Rückenschmerzen können extrem vielfältig sein. Um sie zu verstehen, seien deshalb gute Kenntnisse der Anatomie und eine möglichst präzise Schmerzlokalisation erforderlich, sagte Prof. Dr. med. Stephan Gadola vom
638
ARS MEDICI 21 | 2021