Transkript
EDITORIAL
Frau P. lebt zwar seit vielen Jahren in der Schweiz, ihre Kinder sind längst gute Eidgenoss(inn)en geworden, sie
aber spricht noch immer nur gebrochen Deutsch. Sie ist keine wehleidige Frau, aber als Italienerin haftet ihr ein wenig der Makel des «Mamma-mia-Syndroms» an. Sie hat ja auch schon das eine oder andere nicht leicht einzuordnende Leiden gehabt: Epikondylitis, Morton-Neuralgie, Migräne. Zum Kollegen K. geht sie diesmal wegen (ungefähr ins Deutsche übersetzt) «Problemen mit der Nase»; sie sei «wie verstopft», und sie könne deswegen schlechter riechen als vorher. Kollege K. sucht nach Polypen, diagnostiziert eine chronische Rhinitis und behandelt mit topischen Steroiden. Über ein Jahr lang zieht sich das
vollständig; die bleibenden olfaktorischen Defizite sind auszuhalten. Warum dauerte es bis zur Diagnose bei Frau P. fast zwei Jahre, während bei Herrn M. gerade mal zwei Wochen zwischen Erstkonsultation und Verdachtsdiagnose lagen? Lag es an den Patienten und daran, wie sie die Symptome beschrieben («Nase verstopft» versus Riechstörung), an der Anamnese (wiederholt diffuse Krankheitsbilder versus blande KG), an der Sprache (Italienisch, gebrochenes Deutsch versus gebildetes Deutsch), an der sozialen Schicht? Am Geschlecht? Lag es am Hausarzt, der auf all das reagierte oder eben nicht reagierte? Der im einen Fall «Nase» hörte und im andern Riechstörung? Der im einen Fall hörte, was er hören wollte oder (vielleicht aus Zeitmangel, vielleicht aus Unaufmerksamkeit) nicht hörte, was er nicht hören wollte, im andern Fall hörte, was nicht zu überhören war? Der den Spardruck der Politik und der Kranken-
Der kleine Unterschied
hin, ohne dass sich der Zustand bessert. Nach eineinhalb Jahren meldet der Hausarzt Frau P. beim ORLKollegen an. Der findet nichts Pathologisches und will in zwei Monaten einen Kontrolltermin vereinbaren, fragt aber am Schluss die Patientin, ob es ihr denn lieber sei, man mache noch eine Röntgenaufnahme. Frau P. nickt. Das MRT zeigt ein grosses frontales Meningeom, das rasch und erfolgreich operiert wird. Zurück bleiben Visusstörungen und ein totaler Verlust der Riechfunktion. Herr M. ist Architekt. Mittvierziger und ausser bei Sportunfällen kein Arztgänger. Zum Kollegen F. geht er, weil er seit ein paar Monaten «kaum mehr riechen kann, was er isst oder wie der Labrador nässelt, wenn er im Regen war». Bei Kollege F. schrillen die Alarmglocken. Riechstörungen bei einem jungen Patienten. Sicher ein neurologisches Problem. Das MRT eine Woche später klärt die Situation. Ein Tumor, vermutlich ein Meningeom. Der Neurochirurg entfernt den Tumor
kassen im Nacken verspürte und nicht zu denen gehören wollte, die willfährig jeden diagnostischen oder therapeutischen Unsinn mitmachen, der ihnen von den Patienten aufgedrängt wird, und deshalb im einen Fall die Kosten einer möglicherweise überflüssigen MRT-Abklärung vermeiden wollte? Wir wissen es nicht. Wir wissen bloss: Irgendwo wirkte sich ein kleiner Unterschied entscheidend – zum Glück nicht lebensentscheidend, aber das ist wohl eher Zufall – aus. Und der Arzt (wie auch die Patientin, die man nicht dafür verantwortlich machen darf) war Teil dieses Unterschieds. Und: Es hätte (fast) jedem von uns passieren können. Auch wenn es eigentlich nicht passieren darf und wir jeden Tag an diesen kleinen Unterschied denken und ihn eigentlich nicht entscheidend – schon gar nicht lebensentscheidend – werden lassen sollten.
Richard Altorfer
ARS MEDICI 15/16 I 2013
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