Transkript
SGGG-EXPERTENBRIEF NR. 75 (ersetzt Nr. 29)
In der GYNÄKOLOGIE werden – nach Auswahl der Herausgeber – an dieser Stelle aktuelle Expertenbriefe publiziert (verifizierte Printform).
Expertenbrief Nr. 75
(siehe auch: http://sggg.ch/de/members_news/1005)
Kommission Qualitätssicherung Präsident Prof. Dr. med. Daniel Surbek
Der Beckenboden während Schwangerschaft, Geburt und postpartal
Durch Schwangerschaft und Geburt kommt es bei vielen der Frauen zu Schädigungen des Beckenbodens mit Folgen wie Harn- oder Stuhlinkontinenz, Senkungen (u. a.). Der aktualisierte Expertenbrief gibt ein Update zu Präventionsmöglichkeiten mit prä-, intra- und postpartalen Massnahmen.
Ia/A IIa/B
IIa/B IIa/B Ia/A
IIa/A IV/A
Evidenzlevel
V. Viereck, S. Meyer, D. Faltin, D. Perucchini, N. Kimmich, C. Betschart
Arbeitsgemeinschaft Urogynäkologie (AUG) und Akademie feto-maternale Medizin (AFMM)
Beeinträchtigungen der Funktionalität des Beckenbodens – sei es durch ein direktes Trauma des Beckenbodenmuskels (M. levator ani) oder durch eine geschädigte Innervation des Beckenbodens (v. a. des N. pudendus) – treten sehr häufig nach Schwangerschaften und Geburten auf. Zu den Folgen gehören neben Harn- oder Stuhlinkontinenz auch Pollakisurie, Harndrangsym-
Zusammenfassung
n Eine systematische Episiotomie während der Geburt bringt gegenüber der indizierten Episiotomie keine Vorteile für den Beckenboden.
n Bei Notwendigkeit einer vaginal-operativen Geburt wird die Vakuumgeburt als beckenbodenschonender beurteilt als eine Forzepsentbindung. Bei beiden Varianten ist die richtige Technik entscheidend und sollte wiederholt trainiert werden. Eine mediolaterale Episiotomie reduziert das Risiko für einen höhergradigen Dammris, insbesondere bei Primipara, und sollte mit einem Winkel von mindestens 60° durchgeführt werden.
n Die Suche nach Analsphinkterläsionen sollte systematisch nach einer vaginalen Geburt erfolgen, und im Falle einer Läsion sollte diese unmittelbar von einem darin erfahrenen Geburtshelfer unter adäquaten Bedingungen (gute Analgesie, Lichtquelle und Instrumentarium) operativ versorgt werden.
n Die Periduralanästhesie scheint gegenüber der Geburt ohne Periduralanästhesie einen schonenden Effekt auf den Levator ani zu haben.
n Während der Schwangerschaft scheint das durch eine geschulte Physiotherapeutin oder Hebamme angeleitete Beckenbodentraining bei kontinenten Frauen vorteilhaft zu sein. Auch das Beckenbodentraining in der postpartalen Phase scheint zur Prävention und Therapie von Urin- und Stuhlinkontinenz Vorteile zu haben, auch wenn sich der Effekt in den Folgejahren abschwächt. Eine Beckenbodenrehabilitation sollte gezielt unter Anleitung erfolgen.
n In allen Studien weist die elektive Kaiserschnittentbindung zum Schutz des Beckenbodens gegenüber der Spontangeburt signifikant geringere Inzidenzen von Senkungszuständen und Urininkontinenz auf.
n Prinzipiell sollten alle schwangeren Frauen über die möglichen Folgen von Schwangerschaft und Geburt auf den Beckenboden informiert werden. Das geschieht idealerweise mit einer entsprechenden Informationsbroschüre. Die individuelle Aufklärung sollte risikoadaptiert erfolgen.
ptome, Senkungen, Dyspareunie, Schmerzsyndrome oder repetitive Operationen, welche dann mit hohen Kosten für das Gesundheitssystem verbunden sind. In diesem Expertenbrief wird eingegangen auf: n Inzidenz von Beckenbodenbeschwerden nach der Geburt n Primär- und Sekundärprävention von Beckenbodenschädi-
gungen n Beratung der Schwangeren vor der Geburt n Bedeutung der intrapartalen Massnahmen zur Minderung
von Geburtstraumata n Empfehlungen zum Geburtsmodus im Fall einer Folge-
geburt nach einem symptomatischen Geburtstrauma n postpartale Nachsorge und Therapie bei Beckenbodenpro-
blemen. Vorbestehende Probleme des Harntraktes, insbesondere Inkontinenzbeschwerden, sollten zu Beginn der Schwangerschaft anamnestisch erfragt werden, da sie ein erhöhtes Risiko für eine postpartale Inkontinenz darstellen.
Inzidenz von Beckenbodenschädigungen nach Spontangeburt
Die Symptome und die Beschwerden sind sehr variabel, je nach Studienkohorte und Zeitpunkt der Symptomerfassung nach der Geburt, und hängen von der Methode der Erfassung ab. So wird die Inzidenz der Harninkontinenz nach Spontangeburt mit 3 bis 50% angegeben. Die Inzidenz einer Analsphinkterverletzung nach einer vaginalen Entbindung liegt bei 1 bis 11%, wobei zusätzlich okkulte Defekte zu 10 bis 35% nicht diagnostiziert werden. Eine Flatus-/Stuhlinkontinenz tritt bei bis zu 10% der Frauen nach Spontangeburt auf. Dass die Spannbreite der Symptome in verschiedenen Studien variiert, zeigen auch die folgenden Zahlen: Die Stuhlinkontinenzrate nach Sectio betrug 0,22%, nach Vaginalgeburt 0,37% (p < 0,0001), in der Kontrollgruppe von nulliparen Frauen dagegen 0,17% (p < 0,0001). Die Inzidenz eines sonografisch detektierten Levator-ani-Muskel-Traumas (LAM) liegt bei Frauen nach Spontangeburt bei 6 bis 16%, nach Vakuumextraktionen bei 9 bis 35% und nach Forzepsextraktionen bei 35 bis 63%. Levator-ani-Avulsionen scheinen vor allem unmittelbar vor der Geburt zu entstehen, wenn der fetale Kopf die Interspinalebene Hodge +4 passiert, da hier die Überdehnung der Levator-ani-Muskeln sowie die Öffnungsfläche des Hiatus genitalis am grössten sind. Risikofaktoren für einen Levator-ani-Abriss sind ein erhöhtes maternales Alter bei
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der Geburt, ein geringer BMI, ein erhöhtes fetales Gewicht re- Schwangerschaft ≥ 35 Jahre, einem BMI vor der Schwanger-
spektive ein grösserer Kopfumfang, eine protrahierte Austrei- schaft ≥ 25 kg/m2 und leichtgradiger Inkontinenz hatten signi-
bungsphase, eine Forzepsgeburt und eine okzipito-posteriore fikant häufiger eine stärkere De-novo-Harninkontinenz in der
Einstellung. Ein Dammriss Grad III/IV kann ein Indikator bzw. ein Schwangerschaft. Faktoren mit Möglichkeiten zur Veränderung
Hinweis für eine begleitende Levatoravulsion sein. Letztlich (BMI und Inkontinenz) gilt es, vor der Schwangerschaft anzu-
sind die Geburtsmechanik und die technische Durchführung sprechen und die Patientin zu motivieren, diese anzugehen,
der Entbindung (v. a. vaginal-operative Entbindung) aber ent- zum Beispiel mit Ernährungsumstellung (-beratung) und Phy-
scheidend, nicht das Vorhandensein der Einzelfaktoren per se. siotherapie.
Das Levator-ani-Trauma ist signifikant mit Deszensusbeschwer- Die Beckenbodenphysiotherapie im Einzelunterricht ab der
den assoziiert.Problematisch ist, dass die Risikofaktoren (ab- 18. Schwangerschaftswoche verhindert bei primär kontinenten
gesehen vom mütterlichen Alter und kindlichen Gewicht/Kopf- Frauen das Risiko für eine Harninkontinenz in der Spätschwan-
umfang) erst nach der Geburt bekannt sind. Knöcherne Be- gerschaft und nach der Geburt. Der Langzeiteffekt eines Be- Ia/A
ckenringläsionen sind seltener, werden jedoch in protrahierten ckenbodentrainings auf die postpartale Urin- und Stuhlinkonti-
Geburtsverläufen mit einem Kindsgewicht über 4000 Gramm nenz ist ungewiss und am ehesten bei Risikogruppen mit
ebenfalls bei bis zu 45% beschrieben. An Dyspareunie leiden Adipositas und bei selektivem Training zu erwarten. Durch die
ein Jahr postpartum gemäss einer Fragebogenstudie mit 198 Beckenbodenübungen wurden keine vorzeitigen Kontraktio-
Erstgebärenden 37,4% der Mütter nach Spontangeburt, 40% nen ausgelöst. Gezielte Übungen zur Stärkung des Beckenbo-
nach Vakuumgeburt, 43,6% nach sekundärer Sectio und 23,8% dens in der Schwangerschaft unter Anleitung/Physiotherapie
nach elektiver Sectio.
(z. B. einer Hebamme) im Rahmen der Geburtsvorbereitung
Ia/A Diese Probleme nach Spontangeburt sind signifikant häufiger sind zu empfehlen.
als nach einer Entbindung durch Sectio, und zwar unabhängig Bei Deszensusbeschwerden in der Schwangerschaft können
davon, ob es sich um einen elektiven Kaiserschnitt oder einen bei Bedarf spezielle Pessare (z. B. Restifem®) angewendet wer-
sekundären Kaiserschnitt handelte.
den. Zuvor sollten vorzeitige Wehen oder eine vorzeitige Zer-
Inzidenz von Beckenbodenschädigungen nach Sectio
15 Jahre nach einer Kaiserschnittgeburt wurden die folgenden
vixverkürzung als Ursache der Beschwerden ausgeschlossen werden.
Beratung der Schwangeren vor der Geburt
Beckenbodenbeschwerden festgestellt, wobei darauf hinzu- Gemäss neuen Untersuchungen von Moossdorff-Steinhauser
weisen ist, dass unabhängig davon auch altersbedingte Verän- und Kollegen berichten zwei Drittel der Frauen auf Nachfrage
derungen zu den Schädigungen beitragen können: An Belas- über eine leichte bis mittelschwere Inkontinenz im Verlauf ihrer
tungsinkontinenz litten 17,5% der Frauen, an hyperaktiver Blase Schwangerschaft, jedoch sucht nur jede achte Frau deswegen
14,6%, an Analinkontinenz 25,8% und an Senkungsbeschwer- Hilfe. Die meisten Schwangeren glauben, dass es sich um ein
den 9,4%. Die Inzidenz einer Harninkontinenz beträgt in vorübergehendes Phänomen handle. Deshalb ist es wichtig,
Post-Sectio-Studien mit einem Follow-up von 6 Wochen bis dass schwangere Frauen in der Konsultation auf Kontinenz an-
48 Monate 3 bis 10%. Nach elektiver Sectio werden keine klas- gesprochen werden.
sischen Levator-ani-Avulsionen am Ursprung, dem Os pubis, Prinzipiell sollten alle schwangeren Frauen über die möglichen
beschrieben. In einer Auswertung des schwedischen Gebur- Folgen von Schwangerschaft und Geburt auf den Beckenbo-
tenregisters mit 1,4 Millionen Frauen zeigte eine Sectio einen den informiert werden. Das geschieht idealerweise mit einer
protektiven Effekt auf einen Genitaldeszensus. Erfolgte in der Informationsbroschüre, welche unter anderem zwischen gege-
Austreibungsperiode eine sekundäre Sectio, stieg in der Stu- benen Faktoren (z. B. Familienanamnese) und modifizierbaren IV/A
die von Rogers und Kollegen die Stuhlinkontinenzrate auf Faktoren der Mutter unterscheidet. Die individuelle Aufklärung
13%.
sollte risikoadaptiert unter Einbezug der kindlichen sonografi-
Die Number Needed to Treat (NNT) beträgt 10 bis 15 Sectiones schen Parameter, des Körperbaus der Frau, der anamnesti-
zur Verhinderung einer milden und 110 zur Vermeidung einer schen Risikofaktoren, des Geburtsmodus der vorangegange-
schweren Harninkontinenz. Der Vorteil der Sectio zur Verhinde- nen Geburten und der vorbestehenden Beckenbodensym-
rung einer Harninkontinenz scheint sich im Laufe der Jahre zu ptome geschehen. Grundsätzlich ist das Ansprechen möglicher
verlieren, das wird besonders in der Postmenopause beobach- Beckenbodentraumata während der Schwangerschaft zu emp-
tet. fehlen und je nach Sicherheits- und Wissensbedürfnis der Pati-
Im Rahmen dieses Expertenbriefs wird nicht auf die weiteren entin durch eine Abklärung bei Spezialistinnen/Spezialisten zu
Probleme nach Sectio in Bezug auf Folgeschwangerschaften ergänzen. Mit dem Kalkulationstool UR-CHOICE lässt sich die
und Uterusläsionen eingegangen.
Beratung spezifizieren: https://riskcalc.org/UR_CHOICE/
Primär- und Sekundärprävention
Die Expertinnen/Experten sind sich einig, dass die Patientinnenaufklärung über postpartale Beckenbodenprobleme sinn-
Körperliches Beckenbodentraining respektive Sport vor und voll ist. Eine kürzlich durchgeführte Umfrage zeigte jedoch
während der Schwangerschaft wirken sich weder positiv noch eine andere Praxis: Selbst fast 40% der urogynäkologischen
negativ auf den vaginalen Geburtsverlauf aus. Frauen mit prä- Fachleute verzichten auf eine solche Aufklärung der Schwan-
konzeptionellen Risikofaktoren wie einem Alter bei der ersten geren.
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Bedeutung prä- und subpartaler Massnahmen zur Minderung von Geburtstraumata
Eine präpartale Bildgebung von maternalen Knochen- oder Weichteilstrukturen ist bisher nicht hilfreich, da keine Normund Grenzwerte für eine problematische Geburt existieren. Entscheidender scheint das Verhältnis von Kindsgrösse zum Geburtskanal und dessen Dynamik unter der Geburt zu sein, was jedoch im Vorfeld einer Geburt nur bedingt abschätzbar ist. Prä- und intrapartale Interventionen wie Dammmassage, Ballondilatation, warme Kompressen, Geburtspositionen und Pressstrategien, die sich auf eine Verminderung der Beckenbodentraumata auswirken können, werden kontrovers diskutiert. Die Auflage warmer Kompressen und gegebenenfalls eine Dammmassage in der Austreibungsperiode zeigen eine günstige Wirkung auf Dammverletzungen. Die präpartale Anwendung des Dammtrainers Epi-No® hingegen vermag Geburtsverletzungen (v. a. höhergradige Dammrisse) nicht zu reduzieren. Die Periduralanästhesie verminderte hingegen das Risiko für ein Levatortrauma, allerdings führte diese, verglichen mit der Opioidgabe, vermehrt zu Harnretentionen nach der Geburt. Verschiedene Pressstrategien zeigen keinen Unterschied bezüglich der Dammriss- und Episiotomierate, auch nicht hinsichtlich der Indikationsstellung von Kaiserschnitt oder instrumenteller Geburtsbeendigung und ebenfalls nicht in den neonatalen
Endpunkten. Für eine prophylaktische Episiotomie gibt es (ausser bei der vaginal-operativen Geburt) keine Evidenz. Unmittelbar vor Kopfdurchtritt ist es sinnvoll, nicht aktiv zu pressen, sondern lediglich zu atmen, denn damit kann die Rate der Analsphinkterverletzungen auf ein Drittel reduziert werden. Ein verzögertes Pressen führt dabei letztlich zu einer Verkürzung der eigentlichen Presszeit und zu einer erhöhten Rate vaginaler Spontangeburten. Eine längere Austreibungsphase ist ein Risikofaktor für Beckenbodentraumata. Bei protrahierter Austreibungsperiode und Fehleinstellung (hintere Hinterhauptslage) ist es zudem unter Umständen sinnvoll, den Fetus unter Geburt ideal im Geburtskanal auszurichten, zum Beispiel durch Rotation einer dorsoposterioren in eine dorsoanteriore Position. Die ideale Dauer der Austreibungsperiode bleibt weiterhin unklar. Eine protrahierte Geburt führt über Mikrotraumata und Nervenschäden zu Überdehnungen des Beckenbodens, eine zu schnelle Geburt erhöht das Risiko für Avulsionen. Hinsichtlich der Geburtsposition ist die Rückenlage im Vergleich zum Vierfüsslerstand, zur Seitenlage oder zur aufrechten Position ungünstig. Muss aus kindlicher oder mütterlicher Indikation eine vaginaloperative Geburtsbeendigung erfolgen, ist – zum Schutz des Beckenbodens – die Vakuumgeburt (Cup-System nicht relevant) einer Forzepsgeburt vorzuziehen. Entscheidend ist bei beiden Varianten allerdings die korrekte Technik. Das Risiko für
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einen Dammriss Grad III oder Grad IV kann bei einer vaginal-operativen Geburt gemäss neueren Studien durch eine prophylaktische mediolaterale oder laterale Episiotomie vermindert werden, insbesondere bei Primiparen. Wenn eine Episiotomie durchgeführt wird, ist die mediolaterale Schnittrichtung mit einem Winkel von mindestens 60% vorzuziehen. Auf Levatorüberdehnungen und -avulsionen hat die Episiotomie keinen Einfluss. Kontrovers diskutiert wird auch, ob Massnahmen zum Dammschutz die Rate der Geburtsverletzungen reduziert. Gross angelegte Schulungsprogramme zum Dammschutz in Skandinavien konnten eine deutliche Reduktion höhergradiger Dammverletzungen von 4 bis 7% auf 1 bis 2,5% durch einen adäquaten Dammschutz mit Abbremsen des kindlichen Kopfes bei Geburt zeigen. Ob zusätzliche Hilfsmittel am Damm (z. B. BabySlide®), die niedriggradige Dammrisse und Vaginalrisse zu reduzieren vermögen, auch zu einer niedrigeren Rate an Darmrissen der Grade III und IV führen, muss in Studien überprüft werden. Postpartal gilt es, durch eine rektale Palpation die Intaktheit des Analsphinkters bei jeder Frau zu überprüfen und im Falle einer Läsion diese direkt peripartal zu versorgen.
Empfehlungen zum Geburtsmodus für die Folgegeburt nach Geburtstrauma
Der Schaden am Beckenboden entsteht in den allermeisten Fällen bei der ersten Geburt. Im Falle von Deszensus kann dieser sich nach jeder weiteren Geburt verstärken, jedoch nicht mehr in dem Masse wie bei der ersten Geburt. Gemäss den S2k-Leitlinien der AMWF hat die elektive Sectio in der Folgeschwangerschaft einzig bei Status nach Dammriss der Grade III und IV und postpartaler intermittierender Stuhlinkontinenz eine Bedeutung von moderater Evidenz, um eine bleibende Stuhlinkontinenz zu verhindern. Liegt nach einem Dammriss Grad III keine Stuhlsymptomatik vor, kann die Patientin sich erneut für eine vaginale Geburt entscheiden, ohne ein erhöhtes Risiko für eine Stuhlinkontinenz einzugehen. Das
wurde in einer kürzlich publizierten, randomisierten, kontrollierten Studie mit asymptomatischen Zweitgebärenden nachgewiesen. Die Frauen wurden in eine Gruppe mit elektiver Sectio und eine Gruppe mit Spontangeburt nach erlittenem Dammriss Grad III bei der ersten Geburt randomisiert. Das Wiederholungsrisiko für einen erneuten Darmriss der Grade III und IV lag zwischen 4 und 8%. Eine postpartale Harninkontinenz ist aus medizinischen Gründen keine Indikation für eine elektive Sectio zur Prävention weiterer Inkontinenz. Dennoch ist den Vorstellungen der Frau Rechnung zu tragen und diese müssen in die Entscheidung zum Geburtsmodus einbezogen werden.
Postpartale Konsultation und Nachsorge
Diese sind wichtig, um die Auswirkung der Spontangeburt auf die Funktionen des kleinen Beckens zu erfassen und gegebenenfalls rechtzeitig therapieren zu können. Die Anamnese über die Funktion des Beckenbodens, des Harntrakts sowie des Anorektums hat dabei einen zentralen Stellenwert, weil allenfalls weitere Untersuchungen und Behandlungen folgen: n urogynäkologische Diagnostik (Pelvic-Floor-Sonografie,
2-D- oder 3-D/4-D-translabiale Perinealsonografie des Levator ani und des Analsphinkters, Beckenbodentesting, urodynamische Abklärung, MRI) n gezielte Beckenbodenrehabilitation n sofern Operation erfolgen soll, Einbezug urogynäkologischer Fachpersonen: Bei jungen Patientinnen sollen uteruserhaltende, autologe Verfahren bevorzugt werden. Beckenbodentraining und Sport können postpartal graduell und nach Massgabe der Wöchnerin wieder aufgenommen werden. Gemäss neuesten Empfehlungen ist eine frühe oder kontinuierliche körperliche Aktivität für die Beckenbodengesundheit und das allgemeine Wohlbefinden von Vorteil.
Datum des Expertenbriefs: 19. April 2021
Literatur bei den Autoren.
Deklaration von Interessenkonflikten: V. Viereck: keine; S. Meyer: keine; D. Faltin: keine; D. Perucchini: keine; N. Kimmich: keine; C. Betschart: keine.
* Evidenzlevel und Empfehlungsgrade der Therapieangaben
Evidenzlevel Ia Evidenz durch die Metaanalyse von randomisierten, kontrollierten
Untersuchungen Ib Evidenz durch mindestens eine randomisierte, kontrollierte
Untersuchung IIa Evidenz durch mindestens eine gut angelegte, kontrollierte
Studie ohne Randomisierung IIb Evidenz durch mindestens eine gut angelegte andere quasi-
experimentelle Studie III Evidenz durch gut angelegte, beschreibende Studien, die nicht
experimentell sind, wie Vergleichsstudien, Korrelationsstudien oder Fallstudien IV Evidenz durch Expertenberichte oder Meinungen und/oder klinische Erfahrung anerkannter Fachleute
Empfehlungsgrad A Es ist in der Literatur, die gesamthaft von guter Qualität und
Konsistenz sein muss, mindestens eine randomisierte, kontrollierte Untersuchung vorhanden, die sich auf die konkrete Empfehlung bezieht (Evidenzlevel Ia, Ib). B Es sind zum Thema der Empfehlung gut kontrollierte, klinische Studien vorhanden, aber keine randomisierten, klinischen Untersuchungen (Evidenzlevel IIa, IIb, III). C Es ist Evidenz vorhanden, die auf Berichten oder Meinungen von Expertenkreisen basiert und/oder auf der klinischen Erfahrung von anerkannten Fachleuten. Es sind keine qualitativ guten, klinischen Studien vorhanden, die direkt anwendbar sind (Evidenzlevel IV). ✔ Good-Practice-Punkt Empfohlene Best Practice, die auf der klinischen Erfahrung der Expertengruppe beruht, die den Expertenbrief/die Guideline herausgibt.
Übersetzt aus dem Englischen (Quelle: RCOG Guidelines Nr. 44, 2006)
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