Transkript
Periphere Mechanismen beim Reizdarmsyndrom
Hoffnung auf individualisierte Behandlungsoptionen
FORTBILDUNG
An der Entstehung des Reizdarmsyndroms sind verschiedene periphere Mechanismen wie abnormer Kolontransit, intraluminale intestinale Irritanzien, veränderte Mikrobiota oder ein Überschuss an Gallensäuren beteiligt. Ein besseres Verständnis dieser Faktoren könnte zu individualisierten Therapien für betroffene Patienten führen.
NEW ENGLAND JOURNAL OF MEDICINE
Das Reizdarmsyndrom (RDS) betrifft 10 bis 20 Prozent der Bevölkerung in industrialisierten Ländern. Für die bekannten RDS-Symptome werden spezifische periphere Mechanismen verantwortlich gemacht: ❖ abnormer Kolontransit und abnorme rektale Entleerung ❖ intraluminale intestinale Irritanzien wie beispielsweise un-
vollständig verdaute Kohlenhydrate (die kurzkettige Fettsäuren produzieren) oder Fette, ein Überschuss an Gallensäuren sowie Glutenintoleranz ❖ Alterationen der Mikrobiota (Darmflora) ❖ enteroendokrine Zellprodukte ❖ genetische Empfänglichkeit für Inflammation oder veränderte Gallensäurensynthese.
Diese luminalen und mukosalen Irritanzien verändern die Schleimhautpermeabilität und verursachen eine Immunaktivierung oder Entzündungsvorgänge, die ihrerseits lokale Reflexe aktivieren, welche die intestinale Motilität oder Sekretion verändern. Die Irritanzien stimulieren auch sensorische Mechanismen, was zu viszeraler Hypersensitivität und Schmerzen führt. Ein besseres Verständnis dieser Mechanismen kann individualisierte, spezifische Behandlungsmöglichkeiten für RDS-Patienten fördern.
Diagnose und konventionelle Mechanismen Die Diagnose des RDS basiert traditionell auf den Symptomen rezidivierende abdominelle Beschwerden oder Schmerzen, die in den vorausgegangenen drei Monaten während mindestens dreier Tage pro Monat bestanden, plus mindestens zwei der folgenden Kriterien: ❖ Besserung der Beschwerden nach Defäkation ❖ Änderung der Stuhlfrequenz mit Beginn der Beschwerden ❖ Änderung der Stuhlbeschaffenheit mit Beginn
der Beschwerden.
Früher ging man davon aus, dass Anomalien der glatten Darmmuskulatur, eine viszerale Hypersensitivität sowie eine zentralnervöse Hypervigilanz die wichtigsten Pathomechanismen bei RDS seien.
Merksätze
❖ Das RDS wird nicht mehr als idiopathische Darmdysfunktion betrachtet, die ausschliesslich auf psychischen Stress oder eine Hirnfunktionsstörung zurückzuführen ist.
❖ Nach heutigem Verständnis tragen beim RDS verschiedene periphere Mechanismen zu einer Störung motorischer und sensorischer Funktionen bei.
❖ Wenn RDS-Patienten weder auf Lebensstil- und Ernährungsmodifikationen noch auf symptomatische Medikamente ansprechen, sollten entsprechende Tests durchgeführt werden, um kausale Faktoren zu identifizieren (z.B. Untersuchung des Kolontransits bei obstipationsdominantem RDS oder Untersuchung auf eine Kohlenhydrat- oder Fettmaldigestion bei Patienten mit diarrhödominantem RDS).
❖ Experten erwarten für die Zukunft die Entwicklung spezifischerer, individualisierter Behandlungsoptionen.
Eine zerebrale Dysfunktion und abnorme Interaktionen des peripheren und zentralnervösen Systems sind potenzielle Mechanismen, die zur Hypersensitivität beim RDS führen, doch nicht alle Patienten mit RDS weisen eine Hypersensitivität und eine zentralnervöse Dysfunktion auf. Demnach spielt sich das RDS also nicht bei allen Patienten «nur im Kopf» ab, auch wenn bei einigen Patienten persistierende nozizeptive Mechanismen aktiviert sind. Man geht heute davon aus, dass die RDS-Symptome nicht als Reaktion auf einen einzigen ätiologischen Faktor auftreten, sondern dass es sich um Manifestationen verschiedener peripherer Mechanismen handelt, welche die motorischen und sensorischen Funktionen stören.
Abnormer Kolontransit und Entleerungsstörungen Etwa 25 Prozent der Patienten mit RDS vom Obstipationstyp haben einen langsamen Kolontransit. Die Behandlung mit intestinalen Sekretagoga wie Lubiproston und Linaclotid oder mit Prokinetika wie Tegaserod führt zu einer Besserung der Obstipation und der damit assoziierten RDS-Symptome wie Schmerzen und Blähungen.
ARS MEDICI 12 ■ 2013
647
FORTBILDUNG
Störungen der rektalen Entleerung (z.B. Spasmus des Musculus puborectalis oder Anismus) führen zu obstipationsdominanten RDS-Symptomen wie Obstipation, Anstrengung während der Defäkation, Gefühl der inkompletten rektalen Entleerung, Blähungen und linksseitigen Bauchschmerzen, die sich nach Defäkation bessern. Die Behandlung der Entleerungsstörung führt zu einer Linderung der obstipationsdominanten RDS-Beschwerden. An eine Entleerungsstörung sollte gedacht werden, wenn Patienten mit Obstipation nicht auf die Erstlinientherapie (z.B. ballaststoffreiche Ernährung oder osmotisch wirksame Laxanzien) ansprechen. Das RDS vom Diarrhötyp geht bei 15 bis 45 Prozent der Patienten mit einem beschleunigten Kolontransit einher. Verschiedene Erkrankungen imitieren ein diarrhödominantes RDS oder führen zu einem beschleunigten Kolontransit und sollten ausgeschlossen werden (z.B. Lebensmittelallergie oder -intoleranz, Zöliakie u.a.).
An der Darmirritation beteiligte Mechanismen Luminale und Schleimhautfaktoren aktivieren motorische, sensorische und Immunmechanismen im Dünn- oder Dickdarm. Diese «Irritation» führt zu den Symptomen und pathophysiologischen Merkmalen des RDS.
Luminale Faktoren Bei RDS-Patienten besteht ein zeitlicher Zusammenhang zwischen Nahrungsaufnahme und Schmerz, insbesondere bei Patienten mit diarrhödominantem RDS, die wiederholte starke Kolonkontraktionen aufweisen. Patienten mit diarrhödominantem RDS haben im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen auch einen beschleunigten ileokolischen Transit, der typischerweise von fetthaltigen Mahlzeiten mit mindestens 500 kcal induziert wird. Die Malabsorption von Zucker wie Laktose, Fruktose und Sorbitol kann RDS-Symptome imitieren. Die Maldigestion komplexer Kohlenhydrate ist bei RDS-Patienten wahrscheinlich häufiger zu beobachten als eine Malabsorption. Im Stuhl von Patienten mit diarrhödominantem RDS finden sich vermehrt kurzkettige Fettsäuren, die weniger als sechs Kohlenstoffatome enthalten. In tierexperimentellen Studien konnte gezeigt werden, dass kurzkettige Fettsäuren zu einer intraluminalen Freisetzung von 5-Hydroxytryptamin (5-HT) aus enteroendokrinen Zellen führen, was den Kolontransit und die Kolonmotilität stimuliert. FODMAP (fermentierbare Oligosaccharide, Disaccharide, Monosaccharide und Polyole) werden im Dünndarm schlecht absorbiert, was zur Bildung von kurzkettigen Fettsäuren und zu entsprechenden Auswirkungen auf die Kolonmotilität und -sekretion führt. Eine eingeschränkte Zufuhr an FODMAP mit der Nahrung kann deshalb die RDS-Symptomatik lindern. Welche Rolle die Darmflora (Mikrobiota) dabei spielt, ist noch nicht vollständig verstanden. Glutenintoleranz: Die Prävalenz der Zöliakie bei RDSPatienten entspricht ungefähr der Prävalenz bei Kontrollpersonen. RDS-Patienten ohne Zöliakie, die Träger des HLA-DQ2- oder HLA-DQ8-Genotyps sind (beide bewirken eine Prädisposition für Zöliakie), sprachen fünfmal häufiger auf einen Glutenentzug an als Patienten ohne diesen Genotyp. In einer randomisierten, kontrollierten Studie, in der Patienten mit diarrhödominantem RDS eine glutenhaltige
beziehungsweise glutenfreie Diät erhielten, wiesen diejenigen unter der glutenhaltigen Ernährung eine erhöhte Stuhlfrequenz und Darmpermeabilität sowie eine verminderte RNA-Expression von Tight-junction-Proteinen in der Darmmukosa auf. Erhöhte Gallensäurespiegel im Kolon: Ein Übersichtsartikel wies darauf hin, dass eine Gallensäuremalabsorption für etwa 30 Prozent der diarrhödominanten RDS-Fälle verantwortlich ist. In anderen Untersuchungen wiesen rund 25 Prozent der Patienten mit diarrhödominantem RDS entweder eine vermehrte Gallensäuresynthese oder eine vermehrte fäkale Gallensäureausscheidung auf. Grund für die erhöhte Gallensäurekonzentration im Kolon von Patienten mit diarrhödominantem RDS sind Störungen der enterohepatischen Gallensäurezirkulation. Welche Rolle die fäkale beziehungsweise mukosale Mikrobiota (Darmflora) beim RDS spielt, ist nicht genau bekannt. Bei RDS-Patienten wurde ein erhöhtes Vorkommen von Firmicutes-Bakterien in der fäkalen Mikrobiota beobachtet – entweder als isolierter Befund oder zusammen mit einer verringerten Zahl an Bacteroides-Bakterien. Untersuchungen der schleimhautassoziierten Mikrobiota von Patienten mit diarrhödominantem RDS ergaben ein vermehrtes Vorkommen von Bacteroides und Clostridien sowie eine verminderte Zahl an Bifido-Bakterien. Dass die Mikrobiota bei der Verursachung von RDS-Symptomen von Bedeutung ist, wird durch verschiedene Untersuchungen gestützt, unter anderem durch randomisierte, kontrollierte Studien mit dem nur minimal absorbierten Antibiotikum Rifaximin sowie durch Metaanalysen, welche die Wirksamkeit von Probiotika belegen, insbesondere bei den Symptomen Bauchschmerzen und Meteorismus. Zudem führte ein probiotisches Kombinationspräparat bei Patienten mit diarrhödominantem RDS zu einer Verlangsamung des Kolontransits. Die fäkale Mikrobiota ruft Veränderungen der Darmfunktionen hervor, die RDS-Symptome durch Interaktionen der Mikrobiota mit intraluminalen Faktoren induzieren. Beim RDS sind das Profil an organischen Säuren (z.B. kurzkettige Fettsäuren) und der Anteil an sekundären Gallensäuren verändert. Beispielsweise findet man im Stuhl von RDS-Patienten mit diarrhödominantem RDS einen höheren Anteil an primären Gallensäuren als bei Gesunden. Dies ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass aufgrund des raschen Kolontransits nur eine kurze Zeit für die bakterielle Dehydroxylierung der Gallensäuren zur Verfügung steht.
Enteroendokrine Signale aus der Mukosa Die Freisetzung verschiedener Peptide und Amine wie beispielsweise Serotonin aus enteroendokrinen Zellen wird durch luminale Faktoren, etwa Amine aus der Nahrung, sowie durch endogene, am Verdauungsvorgang beteiligte Verbindungen wie Gallensäuren getriggert. Dass Serotonin beim RDS möglicherweise eine Rolle spielt, wird durch die Beobachtung gestützt, dass bei Patienten mit diarrhödominantem RDS erhöhte 5-HT-Spiegel im Blut vorliegen, während Patienten mit obstipationsdominantem RDS verminderte 5-HT-Konzentrationen aufweisen. Zudem haben selektive Serotoninagonisten und -antagonisten in der Therapie verschiedener RDS-Subtypen Effekte gezeigt.
648
ARS MEDICI 12 ■ 2013
FORTBILDUNG
Darüber hinaus setzen enteroendokrine Zellen sogenannte Granine frei. Chromogranin A kann die Bildung mobiler sekretorischer Granula induzieren und die Freisetzung anderer Peptidhormone aus enteroendokrinen Zellen fördern. Vermutlich sind Granine eher indirekte Biomarker als direkte Stimulatoren der Kolonsekretion oder -motilität.
Folgen der Kolonirritation Eine Inflammation oder Immunaktivierung kommt zumindest bei einigen Subgruppen der RDS-Patienten vor. Entzündungsvorgänge, die sich durch erhöhte T-Lymphozyten-Zahlen in der Rektumschleimhaut von RDS-Patienten manifestieren, wurden mit einer gesteigerten intestinalen Permeabilität in Verbindung gebracht. Verschiedene Studien mit erwachsenen RDS-Patienten belegen eine erhöhte Permeabilität der Dünndarm- oder Kolonschleimhaut. Auch bei pädiatrischen RDS-Patienten fanden sich Hinweise auf eine erhöhte Permeabilität des proximalen Dünndarms und des Kolons sowie eine geringgradige Inflammation. Verschiedene Faktoren waren mit einer erhöhten Schleimhautpermeabilität und RDS assoziiert: ❖ Kuhmilchallergie ❖ in der Vergangenheit unspezifische Infektion ❖ Atopie ❖ Stress ❖ Nahrungsfett.
Der Zusammenhang zwischen erhöhter Schleimhautpermeabilität und RDS wird durch die Beobachtung gestützt, dass eine vermehrte Schleimhautpermeabilität entzündliche Prozesse in der Schleimhaut fördert und lokale Reflexmechanismen aktiviert, welche ihrerseits sekretorische und sensorische Signalwege stimulieren, die wiederum zu vermehrten viszeralen Sensationen führen.
Genetische Faktoren Es wurde über verschiedene genetische Faktoren berichtet, die für ein RDS prädisponieren. Zu den wichtigsten genetischen Faktoren zählen die Suszeptibilität gegenüber Inflammation und RDS-Symptomen, genetische Varianten der Gallensäuresynthese, genetische Unterschiede in der Expression von Neurotransmittern und Zytokinen sowie die Mutation des Gens, das den Guanylatzyklase-C-Rezeptor kodiert.
mehrte Gallensäurensynthese oder eine erhöhte fäkale Gallensäurenexkretion und eventuell auf eine Lebensmittelintoleranz (z.B. Gluten) bei Patienten mit diarrhödominantem RDS.
Ausblick Es ist zu erwarten, dass die Zusammenhänge zwischen Ernährung, Mikrobiota, endogenen Irritanzien, Barrierefunktion, Aktivierung des Immunsystems und genetischen Faktoren einerseits und den motorischen, sensorischen, sekretorischen und psychologischen Dysfunktionen beim RDS andererseits noch besser erforscht werden. Zukünftige Forschungsaktivitäten werden die Hypothese untersuchen, die davon ausgeht, dass das RDS (ähnlich wie die entzündliche Darmerkrankung) aus Interaktionen zwischen Wirts- und genetischen Faktoren resultiert. Diese Erkenntnisse werden zur Entwicklung spezifischerer, individualisierter Behandlungsoptionen führen, die auf den zugrunde liegenden peripheren Pathomechanismen basieren, einschliesslich Diätempfehlungen (z.B. Verzicht auf Gluten oder FODMAP), Biofeedbacktherapie von Defäkationsstörungen, Gallensäurenkomplexbildnern und 5-HT3-Antagonisten gegen Diarrhö und Drangsymptome, Prokinetika und Sekretagoga für Patienten mit obstipationsdominantem RDS sowie möglicherweise Probiotika, nichtresorbierbarer Antibiotika, antiinflammatorischer Substanzen oder Tight-junctions-Modulatoren (z.B. Larazotid) bei Patienten mit Zeichen einer Immunaktivierung oder erhöhter Schleimhautpermeabilität. ❖
Andrea Wülker
Camilleri M: Peripheral mechanisms in irritable bowel syndrome. NEJM 2012; 367: 1626–1635.
Interessenlage: Der Autor gibt an, von verschiedenen pharmazeutischen Unternehmen Beraterhonorare oder Fördermittel erhalten zu haben. Darüber hinaus war er an der Entwicklung eines Patents beteiligt, das für die enterale Freisetzung von Chenodeoxycholsäure bei Obstipation entwickelt wurde. Er hat zudem Tantiemen für eine lizenzierte Technologie zur vagalen Stimulation bei Adipositas von EnteroMedics erhalten.
Klinische und therapeutische Implikationen Das RDS wird nicht mehr als idiopathische Darmdysfunktion betrachtet, die ausschliesslich auf psychischen Stress oder eine Hirnfunktionsstörung zurückzuführen ist. Stuhluntersuchungen (z.B. die Messung des fäkalen Calprotectinund Lactoferrinspiegels) oder Kolonuntersuchungen (z.B. Koloskopie) können klinisch indiziert sein, um entzündliche sowie neoplastische Erkrankungen auszuschliessen. Patienten, die weder auf Lebensstil- und Ernährungsmodifikationen noch auf symptomatische Medikamente ansprechen, sollten sich entsprechenden Tests unterziehen, um kausale Faktoren zu identifizieren. Dazu zählen Untersuchungen des Kolontransits und der rektalen Entleerung bei Patienten mit obstipationsdominantem RDS sowie Untersuchungen auf eine Kohlenhydrat- oder Fettmaldigestion (welche zu einer Bildung von kurzkettigen Fettsäuren führen), auf eine ver-
650
ARS MEDICI 12 ■ 2013