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Titel
Arsenicum
Untertitel
Lebensretter
Lead
Nach einem langen Tag voller Harnwegsinfekte, Lumbalgien und «Schmerz, viel Schmerz überall» fühlt sich der Grundversorger wie ein solcher. Nämlich tief unten. Down, wie die Jungen sagen. Der einzige Aufsteller des Tages ist der Stammtisch mit befreundeten Hausärztinnen und Hausärzten. Auch sie sind «ehemalige Landärzte», denn in den Jahrzehnten, in denen wir praktizieren, ist unsere dörfliche Umgebung nach und nach zur Agglo, geworden.
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Rubriken — ARSENICUM
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Lebensretter

N ach einem langen Tag voller Harnwegsinfekte, Lumbalgien und «Schmerz, viel Schmerz überall» fühlt sich der Grundversorger wie ein solcher. Nämlich tief unten. Down, wie die Jungen sagen. Der einzige Aufsteller des Tages ist der Stammtisch mit befreundeten Hausärztinnen und Hausärzten. Auch sie sind «ehemalige Landärzte», denn in den Jahrzehnten, in denen wir praktizieren, ist unsere dörfliche Umgebung nach und nach zur Agglo, geworden. Die Landschaft, die Architektur, die Menschen, ihre Leiden und damit auch die Tätigkeit der Hausärzte haben sich geändert. Wir sitzen beim Bier und jammern. «Seit Langem habe ich keinen grossen Thoraxschmerz mehr gesehen!», stellt Mario fest. «Die Patienten sind gut informiert und mobil. Sie fahren direkt ins Spital. Nur bei Migranten hat man noch die Chance, dass mal einer mit Armschmerz in die Praxis kommt, man eine ST-Hebung im EKG feststellt und ihm eine Leitung legt, bevor ihn die Rettungssanität abholt.» «Genau», meint Beat nickend. «Auch ein akutes Abdomen ist inzwischen eine Rarität. Beim ersten Zwick stellen sie sich im Spital vor, dort werden sie durch den Maschinenpark geschoben und heimgeschickt oder operiert. Wenn du Glück hast, darfst du noch die Fäden ziehen.» «Nicht bei uns in der Gegend», murrt Regula. «Die behalten alle Patienten. In ihren ‹Sprechstunden› und ‹Nachbehandlungszentren›. Egal welche Disziplin, welches Organ – wenn Patienten einmal beim Spezialisten waren, bleiben sie im poliklinischen Aufbietenetz hängen». «Wofür habe ich eigentlich gelernt, Bülau-Drains und Subclavia-Katheter zu legen?», frage ich dysphorisch-gereizt. «Warum bilde ich mich in Infektiologie und Onkologie fort?» «Warum zahle ich so viel Geld für teure ‹State of the art›-Workshops, wo mir eine Zürcher Eminenz beibringt, wie die evidenzbasierte Hypertoniemedikation umgesetzt wird? Warum diskutiere ich abends meine Problempatienten beim ‹Meet the expert›-Treffen mit einem amerikanischen Guru?», ruft Markus. «Damit ein Chirurgieassistenzarzt – frisch ab

Staatsexamen – in den Ärztemusterkorb des Spitals greift, meinem Patienten, dem er nur die Hammerzehen operieren sollte, eine Blisterpackung von irgendeinem neuen ACE-Hemmer in die Hand drückt, unterstützt vom Kopfnicken eines überarbeiteten, unkonzentrierten Oberarztes. Der Patient hustet dann zwar unter dieser Medikation, aber ist stolz auf die Hypertonieeinstellung durch das Kantonsspital!» «Ich pensionierte mich und übergebe meine Praxis einer Health-Nurse!», brummelt Regula. «Antikoagulation und Blutzucker kontrollieren kann die auch. Offene Beine verbinden. Impfen. Warzen vereisen. Mit Patienten plaudern …» Mario seufzt: «Das waren noch Zeiten, in denen Bauersfamilien dankbar waren, wenn man sich mit dem SUV zum zugeschneiten Einödhof kämpfte und die Niederkunft der Bäuerin managte. Heute motzen sie, dass kein Heli landet und dass die Episiotomienarbe so rot ist.» Wir starren in unsere Gläser. Beginnen dann, uns von unseren Heldentaten zu erzählen. Geniale Diagnosen, die wir gestellt haben. Ultraschallbefunde, die der Radiologe in der Uniklinik ehrfürchtig bestätigt hatte. Seltene Krankheiten, an die wir dachten, aber der Professor nicht. Kleinchirurgische Eingriffe, die eines grossen Chirurgen würdig gewesen wären. Unsere Laune wird immer besser, als wir uns berichten, wie viel Leid wir verhindert, wie viele Leben wir gerettet hatten. «Na ja», seufzt Mario schliesslich, «hat ja auch was Gutes, die schnell erreichbaren, super ausgestatteten Spitäler, die für alle da sind. Die Patienten profitieren davon.» «Die Qualität ist schon besser, als das, was wir früher so improvisieren mussten», sagt Regula. «Ehrlich gesagt – ich habe nicht selten höllische Angst gehabt, wenn ich im hintersten Krachen riskante Notfallbehandlungen machen musste», murmelt Beat. «Frollein, bitte zahlen!», rufe ich und erkläre den Kolleginnen und Kollegen, «morgen erwarten mich Harnwegsinfekte, Lumbalgien, Warzen, offene Beine, Gejammer sowie Quickund Blutzuckerkontrollen. Da muss ich topfit sein …»

ARSENICUM

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ARS MEDICI 12 ■ 2013