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Titel
Arsenicum
Untertitel
Runde und Nuller
Lead
Als die erste Patientin seufzte: «Ich habe einen Runden!», rätselte ich, was sie meinen könnte. Ein starkes Gesäss? Einen übergewichtigen Partner? Der Grund für ihre Niedergestimmtheit war jedoch nur, dass sie den fünften Alters-Zehnerblock absolviert hatte. Bei einer allgemeinen DurchschnittsLebenserwartung von 84,7 Jahren für Schweizer Frauen war ihre eigene – mit erreichten 50 – sogar 85,9 Jahre, das heisst, sie durfte noch mehr als ein Drittel ihrer Lebenszeit erwarten.
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Rubriken — ARSENICUM
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Runde und Nuller

A ls die erste Patientin seufzte: «Ich habe einen Runden!», rätselte ich, was sie meinen könnte. Ein starkes Gesäss? Einen übergewichtigen Partner? Der Grund für ihre Niedergestimmtheit war jedoch nur, dass sie den fünften Alters-Zehnerblock absolviert hatte. Bei einer allgemeinen DurchschnittsLebenserwartung von 84,7 Jahren für Schweizer Frauen war ihre eigene – mit erreichten 50 – sogar 85,9 Jahre, das heisst, sie durfte noch mehr als ein Drittel ihrer Lebenszeit erwarten. Anstatt Altersziffern als banale Zahlen zur Kenntnis zu nehmen oder als Leistung zu respektieren – immerhin eine Menge gelebtes Leben! –, wird stattdessen meist gejammert: «Ich nulle!» Merke: Geht eine grosse Nummer voran, dann tragen die ihr folgenden Nullen zu ihrem Wert bei. Das wusste Dichterfürst Goethe, der zur Ehre des 70. Geburtstags ein Gedicht reimte und mit 83 Jahren immer noch vital war. Franz Grillparzer aber klagte: «Der Mann bracht' es auf siebzig gar/Das heisst: Von seinem siebenten Jahr/Hat all sein Wirken von Kind bis jetzt/Nur eine Null ihm zugesetzt.» Zusetzen tun die Nullen vielen meiner Patienten: Zwar sind sie mit 41 älter als mit 40, aber es ist kurioserweise der Vierzigste, der sie in Verzweiflung stürzt. Wenigstens Friedrich Rückert sah es positiv: «Mit 40 Jahren ist der Berg erstiegen/wir stehen still und schau'n zurück/(. . .) Nicht atmend aufwärts brauchst du mehr zu steigen/die Ebene zieht von selbst dich fort/dann wird sie sich mit dir unmerklich neigen/und eh du's denkst, bist du im Port.» Er kannte nicht das heutige Berufs- und Privatleben, wo man noch mit 60 den Berg erklimmt und keucht, denn die heutigen Ü-Sechziger sind meist fitter, gesünder und qualifizierter als anno dazumal. Begehrte Kandidaten für Verwaltungsratsposten, politische Ämter, neue Jobs und Herausforderungen, umworbene Konsumenten und «junge Alte». Sie machen Weltreisen und Bergtouren, kaufen Töffs, beginnen Ausbildungen, stylen sich derartig, dass ihre Ahnen neidisch geworden wären. Schon im letzten Jahrtausend gab es Oldies, die sich von Ziffern nicht erschrecken liessen. Sigi Feigl startete

mit 62 seine Tätigkeit als Anwalt, Grandma Moses begann mit 75 zu malen und heimste mit 91 den zweiten Ehrendoktor ein. Warum sich «Nuller» im Zehnjahresrhythmus schlagartig älter fühlen, ist mir ein Rätsel. Altern beginnt mit der Geburt. Nur jung sterben bewahrt uns davor – was ich persönlich als keine gute Alternative ansehe. «The wrong side of twenty» – wahlweise durch thirty bis ninety ersetzen – ist doch gar nicht falsch, sondern hat einen höheren Wert. Zumindest zahlenmässig. Aber wie bringt man das den Jubilaren im Patienten- und Freundeskreis bei? Sie nehmen die runden Geburtstage ihrer eigentlich rund laufenden Leben nicht als gute Gelegenheit, ein Fest zu feiern, sondern jammern. Britta H. wird 50 und fragt sich, ob dies überhaupt ein Grund zum Feiern sei. Glücklicherweise tut sie es und hat mich eingeladen. Christoph S. philosophierte schon am Vierzigsten, ob es Alternativen zum Alltag gäbe. Er machte darum Ferien (wie Gott) in Frankreich und weiss jetzt – mit 45 –, dass es sie gibt und man dazu ausser Geld nur Mut braucht. Diese kluge Erkenntnis deutet er aber fehl: als Midlife-Crisis. Frauen «alterskriseln» besonders früh und heftig. Eine verzweifelte 17-jährige klagte mir ihr Leid, dass sie nun mit 18 «Verantwortung tragen» müsse, dass «die Jugend vorbei» sei, der «Ernst des Lebens» beginne. Am 20. Geburtstag folgte die nächste Panik, trotz Führerschein, Lehrabschluss und erfolgreichem Angeln von Traum-Job und dito Partner – am 30. Geburtstag wars noch schlimmer. Mir graut schon jetzt vor ihrem Vierzigsten. Aber vielleicht pensioniere ich mich dann. Oder falle mit 69 Jahren und 364 Tagen in eine Alterskrise. Wahrscheinlich summe ich aber eher den Udo-Jürgens-Schlager «Mit 66 Jahren …». Bis dann versuche ich meinen PatientInnen zu vermitteln, was mein klinischer Lehrer, Dr. Andreas Bächlin, uns Assistenzärzten beibrachte: Unseren Geburtstag feiern unsere Freunde und Verwandte, weil sie sich freuen, dass es uns gibt. Freuen wir uns mit. Egal, ob es ein Nuller, ein Runder, eine Schnapszahl oder irgendeine andere Ziffer ist.

ARSENICUM

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ARS MEDICI 10 ■ 2013