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Titel
Arsenicum
Untertitel
Abgestrümpel(l)t
Lead
Es sollte Hausärzten untersagt sein, nachts noch im Internet herumzustöbern. Meist ist es eine ganz honorige Frage, die einen zu Google lockt. Als «dummer Grundversorger» hat man nicht mehr die Eigennamen seltener neurologischer Syndrome im Kopf und gibt «Strümpel» ein, weil man nicht realisiert, dass der neuseeländische Kollege in seinem Überweisungsbrief die Spondylitis ankylosans meint, wenn er von der «Marie-Strümpell-Disease» schreibt.
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Rubriken — ARSENICUM
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5395
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Abgestrümpel(l)t

E s sollte Hausärzten untersagt sein, nachts noch im Internet herumzustöbern. Meist ist es eine ganz honorige Frage, die einen zu Google lockt. Als «dummer Grundversorger» hat man nicht mehr die Eigennamen seltener neurologischer Syndrome im Kopf und gibt «Strümpel» ein, weil man nicht realisiert, dass der neuseeländische Kollege in seinem Überweisungsbrief die Spondylitis ankylosans meint, wenn er von der «Marie-Strümpell-Disease» schreibt. Meine Generation nennt es noch Morbus Bechterew. Ratlos schaut man auf die Einträge eines Politikers, eines Zahnarztes, eines Künstlers und eines Bausachverständigen, alle mit dem Namen Strümpel, und entscheidet sich dann für die Website des Künstlers. Erst nachdem man das ganze fotografische, malerische und zeichnerische Werk durchgeklickt hat – wirklich bemerkenswert –, merkt man, dass sich das Syndrom mit Doppel-L schreibt. Also wird ein L an den Strümpel gehängt, und schon zeigt sich der Eintrag über das gleichnamige Zeichen in Wikipedia, welcher einem klarmacht, dass man längst vergessen hat, wie viele Pyramidenbahnzeichen es gibt beziehungsweise wie man sie auslöst. Schamrot klickt man sich durch alle durch und kann es nicht lassen, die Beschreiberbiografien zu lesen. Wie international Ärzte doch früher waren: Der Amerikaner Chaddock studierte in München und Paris und lernte so gut Deutsch, dass er Krafft-Ebing übersetzen konnte. Befreundet war er auch mit Santiago Ramón y Cajal – augenscheinlich ein Kumpel von Camillo Golgi, mit dem er den Nobelpreis erhielt. Robert Wartenberg wurde im Russischen Kaiserreich geboren, lebte in Stuttgart, studierte an den Universitäten Göttingen, Kiel, München, Freiburg und Rostock, hatte Jobs in Hamburg und Breslau, war Rockefeller-Stipendiat bei Cushing in Boston und emigrierte 1936 nach San Francisco, wo er als Professor für Neurologie tätig war. Im besten Mannesalter heiratete er in den niederbayrischen Adel ein und erfand das Nadelrad. Nichts finde ich über den estnischen Neurologen und

Neurochirurgen Ludvig Puusepp, dessen Zeichen kaum vom Babinski-Reflex zu unterscheiden ist. Doch das Schicksal von Józef Franciszek Feliks Babiński, der Sohn von nach Paris emigrierten polnischen Flüchtlingen, der zwar der Lieblingsschüler von Charcot war, aber die Lehre des Meisters widerlegte und an Parkinson erkrankte, ist gut dokumentiert. Genau wie die Biografie von Ernst Adolf Gustav Gottfried von Strümpell, die ich mit der Gier des «Gala»-Lesers verschlinge. Der Vater Ludwig war Philosoph. Interessant. Anklicken! Ein Foto eines Mannes mit wilder Frisur und «Vatermörder» zeigt sich. Schnell nachschauen, woher das Wort kommt: Weil der steife Stehkragen höllisch unbequem ist und durch Einschnüren der Halsgefässe und des Karotissinus zu reflektorischen Herzstillständen führen könne … Der Hinweis, dass der Philosoph «Herbartianer» gewesen sei, führt zu einem Exkurs in die wissenschaftliche Pädagogik. Auch war er der einzige Ehrenbürger seiner Heimatgemeinde Schöppenstedt – anklicken – was angesichts der wenigen Promis in diesem niedersächsischen Kaff damals sicher eine gute PR-Aktion war. Wobei es dort einen schiefen Turm aus dem 12. Jahrhundert gibt, mit einem steinernen Pfeiler mit Darstellungen von Wotan, Fenris, Midgard und Yggdrasil. Meine Frau schaut im Nachthemd nach mir, eine «Schweizer Illustrierte» in der Hand. «Es ist 00.56 Uhr und das Kryzi habe ich fast fertig!» Sie hindert mich daran, alle Zwerge in den Horden von Durin und Dvalin anzuklicken. Begeistert ruft sie angesichts der Liste unter dem Stichwort «Nordische Mythologie»: «Das ist er!», und fügt den Namen «Eitri» ein. «Kannst du mir noch die Liste der Nebenflüsse des Rheins aufrufen? Dann wäre das Kryzi fertig», bittet sie. Klar kann ich. Bleibe aber leider am Schipbeek hängen, von dem ich quasi fliessend zum IJsselmeer gelange. Jetzt ist der Keukenhof in voller Blüte. Während meine Frau schon wieder im Bett liegt, vergleiche ich Reisebüroangebote für Kurztrips in die Niederlande. Es ist 1.18 Uhr. Ich bin todmüde, kann aber nicht aufhören, zu surfen. Und daran schuld ist nur der Bechterew-Patient …

ARSENICUM

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ARS MEDICI 9 ■ 2013