Transkript
EDITORIAL
Frau Carobbio, Nationalrätin aus dem Tessin, macht sich Sorgen um die Schweizer Armeeangehörigen und
stellte dem Bundesrat ein paar Fragen zum Verfalldatum der Medikamente in den Sanitätskisten und den Vorratslagern in den Kasernen. Nicht ganz zu Unrecht. Obschon das Festsetzen von Verfalldaten von Medikamenten und Lebensmitteln weniger eine politische denn eine Marketingaufgabe ist. Etatisten, Naive, Autoritätsgläubige und Datumsneurotiker glauben, dass der Schimmelpilz sich genau einen Tag nach dem Ablaufdatum im Joghurt breitmacht und dessen Verzehr bereits Stunden ennet der aufgedruckten Datumsgrenze deshalb mit der Gefahr einer Magen-
führt, lagert oder gar abgibt. Das ist einerseits beruhigend, andererseits stellen sich – nicht neue und nicht auf eine Antwort wartende, aber irgendwie doch irritierende – Fragen. Was geschieht mit den per Datum aussortierten Medikamenten, nicht nur in der Armee? Kein Zweifel, sie werden als Sondermüll entsorgt. Obschon sie sich noch lange, teils jahrelang, einsetzen liessen. Zum Beispiel in Regionen, in denen das Geld für den Kauf von Medikamenten fehlt. Aber natürlich, das wäre ein heikler Vorschlag. Die «guten» (gemessen am Datumsaufdruck) Medikamente für die westliche Welt, der Ramsch für die Armen – dieser Vorwurf wäre rasch erhoben. Sachlich zwar unbegründet, aber moralisch, ethisch, menschlich verständlich. Bei allem Verständnis aber bleibt die irritierende Tatsache, dass aus Marketinggründen einerseits und aus ideologischer Hemmung andererseits Millionen teure, noch wirksame Medikamente vernichtet werden, die eigentlich
Irritierende Datumsgrenzen
Darm-Infektion oder Intoxikation verbunden sei. Normal aufgeklärte Menschen hingegen, die sich auf ihre Nase und ihre Augen mehr verlassen als auf die doch einigermassen arbiträr festgelegten Verfallsdaten, kümmern sich kaum um den Aufdruck. Bei den Arzneimitteln ist es ähnlich. Ärzte selber versorgen sich und ihre Angehörigen bei Bedarf auch mit Tabletten und Pillen aus Packungen, deren EXP-Datum zwei oder mehr Jahre zurückliegt. Wohl wissend, dass Kopf- und andere Schmerzen, ja sogar Coli-Bakterien im Urin oder eine Pollinosis noch längst darauf ansprechen. Die Chemielaborantin in der Bekanntschaft bestätigt, dass die Qualität von in der Schweiz hergestellten Tabletten so gut ist, dass auch zehn Jahre nach Ablauf ein Wirkungsverlust von kaum mehr als 10 Prozent eintritt. Was für den Therapieerfolg in der Regel unerheblich ist. Der Bundesrat hat die Interpellation von Frau Carobbio inzwischen beantwortet und – natürlich – bestätigt, dass die Armee keine abgelaufenen Medikamente
problemlos verteilt und eingesetzt werden könnten. Die Alternative ist leider nicht: wir verteilen gratis «gute» Medikamente, die Alternative ist: die Bedürftigen bleiben ohne sie. Vielleicht bräuchte es wie bei den Lebensmitteln eine «Tafel», für die jemand Unverdächtiger die Verantwortung (inklusive Kontrolle, um nicht tatsächlich Ramsch zu verteilen) übernehmen müsste. Zu viel Aufwand? Zu heikel die Mission? Nun denn, freuen wir uns halt darüber, dass unsere Soldaten im Falle des Falles Medikamente und Joghurts erhalten, die noch nicht abgelaufen sind.
Richard Altorfer
ARS MEDICI 9 ■ 2013
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