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Titel
Arsenicum
Untertitel
Angehörige
Lead
Ganz gehörig nehmen wir die Angehörigen unserer Patienten in die Pflicht. Manchmal schon fast ungehörig. «Diese Tabletten müssen nüchtern genommen werden, zirka eine halbe Stunde vor dem Frühstück. Nach dem Zmorge dann die kleinen weissen. Mittags und abends können alle Tabletten zum Essen eingenommen werden.
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Rubriken — ARSENICUM
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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Angehörige

G anz gehörig nehmen wir die Angehörigen unserer Patienten in die Pflicht. Manchmal schon fast ungehörig. «Diese Tabletten müssen nüchtern genommen werden, zirka eine halbe Stunde vor dem Frühstück. Nach dem Zmorge dann die kleinen weissen. Mittags und abends können alle Tabletten zum Essen eingenommen werden. Und die Schlaftabletten bitte erst dann schlucken, wenn Sie nachts im Bett liegen», sage ich zu meinem beginnend dementen Patienten. Ich schaue dabei seine Ehefrau an. Sie nickt. Zuverlässig wird sie dafür sorgen, dass ihr Mann die Medikation einnimmt. Tag für Tag. Auch an den Tagen, an denen er quengelt. Geduldig wird sie ihm ein Löffelchen mit Joghurt oder Apfelmus so lange anbieten, bis er die darin versteckte Arznei eingenommen hat. Statt eine geruhsame gemeinsame Zeit nach seiner Pensionierung zu geniessen, betreut sie nun einen anstrengenden Pflegefall. Inkontinenzeinlagen wechseln, Bettwäsche waschen, bei der Körperpflege und beim Essen helfen, bei Spaziergängen stützen. Und aushalten, dass ihr Mann in luziden Momenten, in denen er seinen Verfall realisiert, seinen Frust an ihr auslässt, mit bösen, bitteren Worten. Wenn sie den Patienten zur allmonatlichen Quick-Kontrolle bringt, nehme ich sie immer ein paar Minuten ins Sprechzimmer. «Wie geht es Ihnen?», frage ich und sehe, wie sich ihre Augen mit Tränen füllen. «Es geht. Muss ja, oder?», sagt sie dann lächelnd. Die Arbeit, die Verwandte für ihre chronisch kranken Angehörigen leisten, in diesen Zeiten der immer kürzeren Spitalaufenthaltsdauer, wird nicht honoriert. Sondern als selbstverständlich vorausgesetzt. Wie es dem privaten Betreuernetz geht, ist dem Gesundheitswesen egal. Angehörige haben oft nur den Hausarzt, mit dem sie ihre Gefühle besprechen können. Im Durchschnitt fünfzehn Minuten lang. Kürzlich war ich selbst Angehöriger. Im Auto vor dem Spitaleingang, auf meinen arthroskopierten Sohn wartend, beobachtete ich andere Angehörige. Die zirka Achtzigjährige, die einen noch Älteren liebevoll stützte. Sein breitbeiniger Gang und der Katheterbeutel, der sich unter dem linken Hosenbein abzeichnete, liessen auf eine TURP schliessen. Ebenfalls etwas breitbeinig schlurfte eine Dreissigjährige aus der Tür. Vermutlich Beschwerden nach der Episiotomie – aber sie strahlte. Denn ihr Partner, ebenfalls strahlend, trug den Familienzuwachs in der neuen Babytrag- und

-autotasche, die er vorsichtig im Auto festmachte. Ich seufzte. Ab jetzt keine ungestörten Nächte mehr für euch, dachte ich. Alle vier Stunden Babygeschrei, Stillen, Windeln wechseln, Kinderlieder singen. Und wenn es ganz ruhig ist, schleichen sich die frischgebackenen Eltern ans Babybettchen, weil sie Angst vor dem plötzlichen Kindstod haben, von dem sie zu viel in den Babyratgebern gelesen haben. Jetzt kam eine grössere Gruppe lachender Menschen aus dem Spital. Wer ist der Patient? Klar, der Grossvater. Er wird im Rollstuhl gefahren. Drei junge Männer helfen ihm in einen weissen Van mit der Aufschrift: «Schnell. Kompetent. Preiswert. Ihr Kundenmaurer.» Der Rest des Clans klettert dann auch in den Wagen. Vermutlich werden darin jetzt die Aufgaben verteilt. Wer fährt den Nonno zur Physiotherapie, wer macht den täglichen Rollstuhlausflug mit ihm, wer nimmt seine Arzttermine wahr? Irgendjemand wird es tun, das ist in südländischen Familien keine Frage. Bei Schweizern aber ist das nicht immer gewährleistet. Wie zum Beispiel bei der Endsechzigerin, die auf zwei Krücken gestützt auf ihr Taxi wartet. Niemand holt sie ab. Vermutlich ist sie verwitwet. Kinder nicht existent oder anderenorts. Oder sie haben keine Lust, etwas für die alte Mutter zu tun. Traurig hatte mir mal eine alte Patientin gesagt: «Eine Mutter kann für sieben Kinder sorgen, aber sieben Kinder nicht für eine Mutter», als alle ihre Kinder wieder einmal den Muttertag vergessen hatten. Die Mutter in meiner Familie kommt gerade aus dem Spitaleingang, mit einem etwas bleichen jungen Mann an Krücken an ihrer Seite. Ich springe aus dem Auto, reisse den Wagenschlag zum Beifahrersitz auf. «O Shit!», stöhnt mein Sohn und verstaut seine langen Beine mühsam im Fussraum. Ich nehme die Krücken, lege sie in den Kofferraum. «Was möchtest du denn heute essen?», höre ich meine Frau fragen. «Ich habe deine drei Lieblingsspeisen schon zu Hause. Willst du heute Poulet, Gschnetzeltes oder ein Steak mit Ofen-Pommes?» «Ach, eher nicht, kannst du mir nicht lieber eine Napolitana beim Pizzaservice bestellen?» Ja, es ist nicht einfach, Kranke zu betreuen. Man erfüllt ihnen jeden Wunsch und nimmt in Kauf, dass die eigenen Bedürfnisse sekundär sind. «Natürlich, mein Lieber. Eine XL-Napolitana», nickt meine Frau. Sie fragt mich: «Für dich wie immer eine Margherita?»

ARSENICUM

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ARS MEDICI 7 ■ 2013