Transkript
STUDIE REFERIERT
Hypertonietherapie nach BMI?
Unterschiedliche Medikamentenwirkung bei Schlanken und Adipösen
Das Phänomen, dass schlanke kardiovaskuläre Patienten stärker gefährdet sind als adipöse Patienten, könnte auch etwas mit den blutdrucksenkenden Medikamenten zu tun haben, die ihnen verordnet werden.
LANCET
ACCOMPLISH Ähnliches: Mit der Kombination Benazepril/ Hydrochlorthiazid war die Rate kardiovaskulärer Ereignisse bei den schlanken Hypertonikern höher als bei den übergewichtigen und adipösen Hypertonikern. Mit der Kombination Benazepril/ Amlodipin zeigte sich in dieser Hinsicht kein Unterschied zwischen schlanken und dicken Patienten.
Seit rund 20 Jahren weiss man, dass es bei der Wirkung blutdrucksenkender Medikamente bezüglich der kardiovaskulären Ereignisse einen Unterschied machen kann, ob der Patient schlank oder dick ist: In der SHEP-Studie zeigte sich damals, dass das Diuretikum Chlorthalidon im Vergleich mit Plazebo die Rate kardiovaskulärer Ereignisse bei Hypertonikern zwar insgesamt senkt, dieser Effekt jedoch bei den schlanken Hypertonikern kleiner ausfällt. Nun ergab eine BMI-abhängige Auswertung der 2008 publizierten Studie
Merksätze
❖ Schlanke und normalgewichtige Hypertoniker, die mit Benazepril/Hydrochlorthiazid behandelt werden, haben ein höheres Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse im Vergleich zur Behandlung mit Benazepril/Amlodipin.
❖ Bei adipösen Hypertonikern besteht dieser Unterschied nicht.
❖ Für 96 Prozent der normalgewichtigen, 98 Prozent der übergewichtigen und 100 Prozent der adipösen Hypertoniker macht es bezüglich der Prävention kardiovaskulärer Ereignisse keinen Unterschied, ob sie Benazepril/Hydrochlorthiazid oder Benazepril/ Amlodipin einnehmen.
Studiendesign In der Studie ACCOMPLISH ging es primär um die Frage, welche Kombination vorteilhafter ist in Bezug auf kardiovaskuläre Ereignisse: ACE-Hemmer plus Kalziumantagonist oder ACEHemmer plus Diuretikum? Die Studie umfasste gut 11 000 Hypertoniker mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko (z.B. nach Herzinfarkt, Diabetiker etc.). Die eingesetzten Substanzen waren der ACE-Hemmer Benazepril, der Kalziumantagonist Amlodipin und das Diuretikum Hydrochlorthiazid. Primärer Endpunkt war eine Kombination einer ganzen Reihe kardiovaskulärer Ereignisse. Nach drei Jahren zeigte sich, dass unter Benazepril/Amlodipin 2,2 Prozent weniger Ereignisse auftraten als unter Benazepril/Hydrochlorthiazid (9,6 vs. 11,8%). Dies entsprach einer relativen Risikominderung um 19,6 Prozent, weswegen die Studie vorzeitig abgebrochen wurde. Für die aktuelle Publikation wurden die Patienten der ACCOMPLISH-Studie gemäss BMI in drei Kategorien aufteilt: adipös (BMI ≥30; n = 5709), übergewichtig (BMI ≥25 bis < 30; n = 4157) und normalgewichtig (BMI < 25; n = 1616). Als Endpunkt wurde eine Dreierkombination aus kardiovaskulär bedingtem Tod sowie nicht tödlichem Herzinfarkt oder Schlaganfall definiert. Die Resultate im Detail Unter Benazepril/Hydrochlorthiazid erlitten 9 Prozent der Normalgewichtigen den Endpunkt, 7 Prozent der Übergewichtigen und 5 Prozent der Adipösen. Bei Benazepril/Amlodipin hingegen zeigte sich kein Zusammenhang mit dem BMI. Hier trat das kardiovaskuläre Ereignis bei je 5 Prozent der normal-/übergewichtigen oder adipösen Teilnehmer ein. Vergleicht man nun die verschiedenen Medikationen innerhalb der BMIKlassen, wird deutlich, dass es für die Adipösen bezüglich kardiovaskulärer Ereignisse keine Rolle spielt, welche Kombination sie einnehmen (je 5%). Etwas anders sieht es bei den über- und den normalgewichtigen Studienteilnehmern aus. Bei den Normalgewichtigen war das absolute Risiko mit Benazepril/Amlodipin um 4 Prozent geringer, bei den Übergewichtigen um 2 Prozent. Man könnte es auch so ausdrücken: Für 96 Prozent der normalgewichtigen, 98 Prozent der übergewichtigen und 100 Prozent der adipösen Hypertoniker macht es bezüglich der Prävention kardiovaskulärer Ereignisse keinen Unterschied, ob sie Benazepril/Hydrochlorthiazid oder Benazepril/Amlodipin einnehmen. In der Publikation werden die Resultate auch als «Ereignisse pro 1000 Patientenjahre» dargestellt, was eindrucksvollere Zahlen als relative Risikominderung zugunsten von Benazepril/Amlodipin ergibt: für Normalgewichtige 30,7 versus 18,2 Ereignisse pro 1000 Patientenjahre (= relatives Risiko -43% [HR: 0,57; 95%-Konfidenzintervall: 0,39– 0,84; p = 0,0037]) und bei den Übergewichtigen 21,9 versus 16,9 Ereignisse pro 1000 Patientenjahre (= relatives Risiko -24% [HR: 0,76; 95%-Konfidenzintervall: 0,59–0,94; p = 0,0369]). Erklärungsversuche und Empfehlung für die Praxis Adipositas ist ein Risikofaktor für die Entwicklung einer kardiovaskulären Erkrankung. Das kardiovaskuläre Paradoxon bezieht sich auf Patienten, die bereits eine kardiovaskuläre Erkrankung haben. So ist aus epidemiologischen Studien bekannt, dass schlanke KHK-Patienten ein höheres Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse tragen als adipöse KHK-Patienten; Ähnliches wird von Hypertoniepatienten berichtet. 260 ARS MEDICI 5 ■ 2013 Warum das so ist, weiss man nicht. Eine der Hypothesen lautet, dass die Hypertonie bei Adipösen eine eher benigne, «protektive» Form der Hypertonie sei. Genauso gut könnte es sein, dass schlanke Hypertoniker empfindlicher auf neuroendokrine Stimuli reagieren. Untergewicht (BMI < 20) oder schwere Adipositas (BMI > 35) sind
übrigens auch nicht gut: Auch hier ist das
kardiovaskuläre Risiko bei Hypertonie
gegenüber den anderen BMI-Klassen er-
höht.
Das «Lancet»-Autorenteam um Prof. Mi-
chael A. Weber vermutet, dass der Hyperto-
nie bei adipösen und schlanken Patienten
unterschiedliche pathophysiologische Me-
chanismen zugrunde liegen. Bei den Adi-
pösen sei die Hypertonie demnach durch
ein erhöhtes Plasma- und Herzminuten-
volumen charakterisiert, während bei den
Schlanken vasokonstriktive Mechanismen
im Vordergrund stünden. Die Volumen-
abhängigkeit der Hypertonie bei Adipösen
zeige sich auch in der erhöhten Natrium-
resorption in der Niere, die wahrscheinlich
auf einer erhöhten renalen Sympathikus-
aktivität beruhe. Insofern sei es logisch,
adipösen Hypertonikern ein Diuretikum zu
verordnen; das Gleiche gelte für Kalzium-
kanalblocker, die ebenfalls bei Natrium-
überschuss wirksam seien. Bei den schlan-
ken Hypertonikern scheine die Hypertonie
hingegen auf einer erhöhten Reaktivität
des sympathischen und des Renin-Angio-
tensin-Systems zu beruhen. Diuretika
könnten diese Systeme zusätzlich stimu-
lieren und somit möglicherweise Mecha-
nismen verstärken, die kardiovaskulären
Ereignissen zugrunde liegen. Da in ihrer
Studie aber alle einen ACE-Hemmer be-
kamen (der das Renin-Angiotensin-System
also dämpft), müsse wohl noch etwas ande-
res dahinterstecken, schreiben Weber und
seine Kollegen.
Doch was auch immer hinter dem be-
obachteten Effekt stecken mag, die Schluss-
folgerung der Autoren ist eindeutig: «Eine
diuretische Behandlung mit Medikamenten
vom Thiazidtyp könnte unabhängig vom je-
weiligen Präparat nicht die beste Wahl für
nicht adipöse Hypertoniker sein.»
❖
Renate Bonifer
Weber MA et al.: Effects of body size and hypertension treatments on cardiovascular event rates: subanalysis of the ACCOMPLISH randomised controlled trial. Online Publication, 6 December 2012; doi:10.1016/S0140-6736 (12) 61343-9.
Interessenkonflikte: Die Studie wurde von Novartis finanziert; zwei der Autoren sind Angestellte des Unternehmens.