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FORTBILDUNG
Schlaganfall: rt-PA auch «off label» von Nutzen
Die Applikation von rt-PA ist bei vielen Schlaganfallpatienten auch nach dem zulassungsgemässen Interventionszeitraum mit einem Nutzen im Hinblick auf das funktionelle Ergebnis verbunden. Zudem profitieren über 80-Jährige in ähnlicher Weise wie jüngere Schlaganfallpatienten.
LANCET
Der rekombinante Gewebeplasminogenaktivator (rt-PA, Alteplase, Actilyse®) wurde in Nordamerika 1996 zur intravenösen Thrombolyse innerhalb von drei Stunden nach einem Schlaganfall bei ausgewählten Patienten zugelassen. In Europa wurde im Jahr 2002 eine Zulassung zur Anwendung von rt-PA innerhalb von drei Stunden nach Einsetzen der Schlaganfallsymptome bei Patienten unter 80 Jahren erteilt. In beiden Zulassungen ist die Anwendung des rt-PA auf einen Zeitraum von drei Stunden nach dem Schlaganfall beschränkt. Studienergebnisse weisen jedoch darauf hin, dass die Anzahl der Patienten mit einem ungünstigen funktionellen Ergebnis sogar noch mit einer Anwendung nach sechs Stunden reduziert werden kann. Vor diesem Hintergrund wurde im Zeitraum von 2000 bis 2012 eine grosse randomisierte Studie (Third International Stroke Trial, IST-3) mit dem Ziel durchgeführt, fundierte Erkenntnisse zu den Anwendungsmöglichkeiten von tr-PA bei einem breiten Spektrum an Patienten zu gewinnen. Zu den Teilnehmern von IST-3 gehörten auch Senioren im Alter über 80 Jahre sowie Patienten, die in einem Zeitraum von drei bis sechs Stunden nach Einsetzen der Symptome behandelt wurden, und auch Personen mit Komorbiditäten wie vorangegangenen Schlaganfällen. Trotz der Ergebnisse aus mittlerweile elf Studien mit 3977 Patienten, die bis zu sechs Stunden nach dem Schlaganfall mit
rt-PA behandelt worden waren, blieben bis anhin beträchtliche Unsicherheiten im Hinblick auf ein klinisch bedeutsames Outcome bestehen. Dazu gehören die Mortalität und das funktionelle Ergebnis, das grösste Zeitfenster für einen Nettonutzen, die Wirksamkeit der Behandlung bei Personen über 80 Jahren sowie die Auswirkungen von Faktoren wie Schwere oder Art des Schlaganfalls, Einnahme von Antikoagulanzien vor dem Schlaganfall oder Vorliegen von Komorbiditäten (vorangegangene Schlaganfälle, Diabetes oder Bluthochdruck). Eine internationale Arbeitsgruppe führte nun einen aktualisierten Review mit Metaanalyse durch, um kurzzeitige und langfristige Effekte von rt-PA bei Schlaganfallpatienten zu evaluieren und einigen dieser Fragestellungen nachzugehen.
Review mit Metaanalyse In den systematischen Reviews mit Metaanalyse wurden zwölf randomisierte Studien mit insgesamt 7012 Patienten zur intravenösen Anwendung von rt-PA versus Plazebo innerhalb von sechs Stunden nach einem akuten ischämischen Schlaganfall eingeschlossen, die im Zeitraum von 1992 bis zum 30. März 2012 durchgeführt worden waren. Dabei handelte es sich um elf ältere Untersuchungen sowie die IST-3-Studie. Die meisten Daten stammten aus europäischen Studien (5276 Patienten, 75%). Das Verzerrungsrisiko der Studien wurde von den Autoren als niedrig erachtet. In die meisten Untersuchungen wurden Patienten mit Schlaganfällen unterschiedlicher Schweregrade und ätiologischer Untergruppen eingeschlossen, die Ergebnisse wurden meist jedoch nicht entsprechend den Untergruppen aufgeschlüsselt. Die rt-PAGesamtdosis lag in den einzelnen Studien zwischen 0,6 mg/kg und 1,1 mg/kg. Das Follow-up endete in zwei Studien nach einem Monat, in IST-3 nach sechs Monaten und in den verbleibenden Studien nach drei Monaten.
Merksätze
❖ Am ausgeprägtesten ist der Nutzen von rt-PA bei einer Behandlung innerhalb von drei Stunden nach einem Schlaganfall.
❖ Viele Patienten profitieren aber auch noch von einer Behandlung im Zeitraum von drei bis sechs Stunden nach Einsetzen der Symptome.
❖ Bei Patienten über 80 Jahren wurden ähnliche klinische Ergebnisse beobachtet wie bei jüngeren Patienten.
Nutzen innerhalb von drei Stunden am ausgeprägtesten In zehn Studien hatte die Applikation von rt-PA innerhalb von sechs Stunden bei Studienende signifikant die Chancen erhöht, eigenständig (Werte von 0 bis 2 auf der modifizierten Rankin-Skala, mRS) weiterleben zu können (46,3% vs. 42,1%, OR: 1,17, 95%-KI: 1,06–1,29; p = 0,001). Dies entspricht einer absoluten Zunahme von 42 (16–66) eigenständig lebenden Personen pro 1000 im Vergleich zur Kontrollgruppe. Die Daten der Patienten mit einem besonders günstigen funktionellen Ergebnis stammten aus denselben zehn Studien. Bei der Abschlussuntersuchung wiesen 34,8 Prozent der Patienten unter rt-PA und 29,3 Prozent der Teilnehmer der Kontrollgruppe einen mRS-Wert von 0 bis 1 auf. Dies entspricht einer absoluten Zunahme von 55 nahezu symptomfreien
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Patienten (95%-KI: 33–77) pro 1000 im Vergleich zur Plazebogruppe. Der Nutzen von rt-Pa war am ausgeprägtesten bei Personen, die innerhalb von drei Stunden behandelt worden waren (mRS 0–2: 40,7% vs. 31,7%, OR: 1,53, 95%-KI: 1,26–1,86; p < 0,0001). Bei diesen frühzeitig behandelten Patienten wurde unter rt-PA eine absolute Zunahme von 90 pro 1000 Personen mit einem günstigen funktionellen Ergebnis im Vergleich zu Plazebo beobachtet. Der Anteil nahezu symptomfreier Personen (mRS 0–1) betrug 31,6 Prozent unter rt-PA sowie 22,9 Prozent in der Kontrollgruppe (OR: 1,61, 95%KI: 1,30–1,90; p < 0,0001), was einer absoluten Zunahme von 87 pro 1000 Personen entspricht. Während der ersten sieben Behandlungstage kam es unter rt-PA zu mehr Todesfällen als in der Plazebogruppe (8,9% vs. 6,4%; p = 0,0003); bei Studienende war dieser Unterschied jedoch nicht mehr signifikant (19,1% vs. 18,5%; p = 0,33). Die meisten dieser zusätzlichen Todesfälle konnten auf symptomatische intrakranielle Blutungen zurückgeführt werden, die bei 7,7 Prozent der Patienten unter rt-PA sowie bei 1,8 Prozent der Teilnehmer unter Plazebo auftraten. Auch über 80-jährige Schlaganfallpatienten profitieren An drei Studien nahmen insgesamt auch 1711 Patienten im Alter über 80 Jahre teil. Von den Senioren, die innerhalb von sechs Stunden behandelt wurden, überlebten 27,2 Prozent unter rt-PA und 23,4 Prozent unter Plazebo mit einem günstigen funktionellen Zustand (mRS 0–2; p = 0,07), was bedeutet, dass insgesamt unter rt-PA von je 1000 Personen 38 mehr eigenständig weiterleben konnten als unter Plazebo. Bei den jüngeren Teilnehmern bis zu einem Alter von 80 Jahren wurde unter rt-PA eine absolute Zunahme von 43/1000 Patienten mit einem mRS-Wert zwischen 0 und 2 im Vergleich zur Kontrollgruppe beobachtet. Bei den Patienten über 80 Jahren, die innerhalb von drei Stunden nach dem Schlaganfall behandelt wurden, war der Unterschied zur Kontrollgruppe noch ausgeprägter: Hier erreichten 28,9 Prozent unter rt-PA und 19,3 Prozent unter Plazebo einen günstigen funktionellen Zustand (p = 0,003). Bei der frühzeitigen Behandlung mit rt-PA waren es 96 von 1000 Personen mehr, die eigenständig weiterleben konnten. Bei den jüngeren Teilnehmern bis zu einem Alter von 80 Jahren wurde unter rt-PA eine absolute Zunahme von 95/1000 Patienten mit einem mRS-Wert zwischen 0 und 2 im Vergleich zur Kontrollgruppe beobachtet. Patienten über 80 Jahre profitierten somit in ähnlicher Weise wie jüngere Patienten – vor allem, wenn sie frühzeitig nach Einsetzen der Symptome behandelt wurden. Interpretation und Diskussion Die Autoren kommen insgesamt zu dem Schluss, dass intravenöses rt-PA den Anteil der Patienten erhöht, die nach einem Schlaganfall mit einem günstigen funktionellen Ergebnis eigenständig weiterleben können. Ihre Resultate untermauern zum einen die ältere Evidenz, Patienten so früh wie möglich nach Einsetzen der Symptome eines akuten ischämischen Schlaganfalls zu behandeln. Zum anderen wurde ihrer Ansicht nach deutlich, dass manche Patienten auch noch bis zu sechs Stunden nach dem Schlaganfall von einer Behandlung mit rt-PA profitieren können. Im Rahmen der Ergebnisdiskussion gehen die Wissenschaftler der Frage nach, ob sich die Effekte von rt-PA bei den 3035 Pa- tienten der IST-3-Studie – von denen 95 Prozent nicht den Zu- lassungskriterien in Europa entsprachen – deutlich von denen unterscheiden, die bei den 3977 Teilnehmern der elf älteren Studien (in denen die Patientencharakteristika weitgehend diesen Kriterien entsprachen) beobachtet worden waren. Mehr als die Hälfte (53%) der IST-3-Teilnehmer waren älter als 80 Jahre, und 72 Prozent aller Patienten wurden später als drei Stunden nach Auftreten der Schlaganfallsymptome be- handelt. Bei einem grossen Anteil der IST-3-Teilnehmer waren schwere Schlaganfälle aufgetreten, und bei 146 Patienten (5%) lag ein Wert von über 25 auf der Stroke-Skala des National Institute of Health vor. Dies erklärt die recht hohe Anzahl an Todesfällen in dieser Studie, die sowohl unter rt-PA als auch in der Kontrollgruppe beobachtet wurde. Die Autoren fanden keine Hinweise darauf, dass sich nutz- bringende oder schädigende Effekte bei den «off label»- behandelten Patienten qualitativ von denen unterscheiden, die in früheren Studien bei zulassungsgemäss behandelten Patien- ten beobachtet wurden, mit Ausnahme von frühzeitigen Todesfällen aufgrund nichtintrakranieller Blutungen und sym- ptomatischer Hirnschwellungen. Diese Aspekte müssen nach Meinung der Autoren zukünftig weiter untersucht werden. Der exakte Zeitraum, in dem nach dem Schlaganfall mit rt-PA ein Nutzen erzielt wird, konnte auch in dieser neuen Metaanalyse nicht ermittelt werden. Obwohl der Nutzen der Lyse mit der Verzögerung der Behandlung deutlich abnimmt, weisen die Studiendaten darauf hin, dass sich der Zeitraum für einen Benefit möglicherweise über viereinhalb Stunden und in manchen Fällen sogar über einen Zeitraum von sechs Stunden erstreckt. Dieses Zeitfenster variiert nach Ansicht der Autoren vermutlich entsprechend individuellen Schlüs- selcharakteristika der Patienten, die mit einer blossen Zu- sammenfassung der Daten nicht ermittelt werden konnten. So unterscheiden sich Patienten, deren Schlaganfall sich spät bemerkbar macht – etwa, weil es sich um einen leichteren Schlaganfall handelt –, beispielsweise von denen, deren Insult frühzeitig festgestellt wird. Der geringere Nutzen bei späterer Behandlung kann nicht auf eine höhere Anzahl symptomati- scher intrakranieller Blutungen zurückgeführt werden, weil die Gefahr einer Hirnblutung bei einer Behandlung nach drei bis sechs Stunden geringer ist als bei der Applikation inner- halb der ersten drei Stunden. Somit könnte die Verringerung der Odds Ratio für ein Überleben mit günstigem funktionel- lem Ergebnis bei einer Behandlung nach drei bis sechs Stun- den eher auf eine Abnahme der Wirksamkeit von tr-PA mit der Zeit hinweisen als auf eine Zunahme der behandlungs- bedingten Gefährdungen. ❖ Petra Stölting Quelle: Joanna M Wardlaw et al.: Recombinant tissue plasminogen activator for acute ischaemic stroke: an updated systematic review and meta-analysis. Lancet 2012; 379: 2364–2372. Interessenkonflikte: Alle sieben Autoren waren an IST-3 oder anderen Studien zu tr-PA beteiligt; die meisten haben Gelder von Boehringer Ingelheim für unterschiedliche Tätigkeiten erhalten. ARS MEDICI 5 ■ 2013 267