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MEDIEN, MODEN, MEDIZIN
Coronaviruspandemie
Wie relevant sind Depressionen, Angst und Langzeitfolgen?
Foto: Engin Akyurt, Pixabay
Studien aus Deutschland liefern neue Daten zu psychischen Folgen der Coronaviruspandemie. So entwickelte ein Viertel der am schwersten betroffenen COVID-19-Patienten nach der Genesung eine posttraumatische Belastungsstörung. Auch eine anhaltende Luftnot trotz ausreichender Lungenfunktion hat psychische Wurzeln.
In einer Studie der Universität Duisburg wurden die anonymisierten Daten von rund 30 000 Personen in der Allgemeinbevölkerung für den Zeitraum von April 2020 bis März 2021 ausgewertet. Angst- und Depressionssymptome waren in der Allgemeinbevölkerung zwar deutlich häufiger als vor der Coronaviruspandemie, aber nicht so ausgeprägt, dass sie die diagnostischen Kriterien einer psychischen Erkrankung erfüllten. Zu den psychisch besonders belasteten Bevölkerungsgruppen zählten Frauen, jüngere Menschen und Personen mit psychischen Vorerkrankungen wie Depression, Angst- oder Persönlichkeitsstörungen. Es zeigten sich aber auch entlastende Faktoren: «Wenn Menschen sich über die Pandemie und das Coronavirus informiert fühlen und das Vertrauen in politische und gesellschaftliche Massnahmen hoch ist, liegt eine niedrigere psychische Belastung vor», so Studienleiter Prof. Martin Teufel, Direktor der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, LVR-Klinikum Essen.
Coronaskeptiker stärker betroffen
Deutlich häufiger waren depressive Symptome und generalisierte Angst bei sogenannten Coronaskeptikern und Coronaleugnern. Insgesamt 434 von ihnen wurden über einschlägige Internetforen kontaktiert. Die Angst vor einer Coronavirusinfektion bewegte sich in dieser Gruppe auf demselben Niveau wie in der Allgemeinbevölkerung. Hygienemassnahmen wurden gleichwohl vermehrt abgelehnt. Diesen Widerspruch erklärte Studienleiter Teufel mit Verdrängungsmechanismen. Bei Coronaskeptikern sei das Verdrängen besonders stark ausgeprägt, weil andere Bewältigungsstrategien wie das Aufnehmen und Verarbeiten valider Informationen negiert würden.
Posttraumatische Belastungsstörung
Jeder vierte schwer Erkrankte, der auf einer Intensivstation behandelt werden musste, entwickelte nach der körperlichen Genesung eine posttraumatische
Belastungsstörung, die sich im Mittel ab dem 100. Tag nach der erfolgreichen stationären Behandlung manifestierte. Das massiv bedrohliche Erlebnis, keine Luft mehr zu bekommen, löst bei diesen Patienten im Nachgang sogenannte Intrusionen aus. Diese äusserten sich wie ein Flashback, mit einem plötzlich einschiessenden massiven Gefühl der Hilflosigkeit, des Ausgeliefertseins und des Erlebens von Kontrollverlust.
Langzeitfolgen
In einer Nachsorgestudie wurden mehr
als 300 Personen nach unterschiedlich
schwer ausgeprägten COVID-19-Ver-
läufen untersucht. Die Patienten berich-
teten über unspezifische Symptome wie
Schwindel, Kopfweh, Müdigkeit oder
Schwächeempfinden, aber nur bei weni-
ger als 10 Prozent der Betroffenen konn-
ten medizinisch fassbare Befunde erho-
ben werden. Dabei handelte es sich in
den meisten Fällen um bisher unent-
deckte Erkrankungen, die unabhängig
von COVID-19 bestanden und nur sehr
selten mit der Virusinfektion zu tun hat-
ten.
Auch bei Patienten, die typischerweise
nach einer mittelschweren Corona-
virusinfektion anhaltend unter Luftnot
leiden, waren in dieser Studie keine or-
ganischen Langzeitschäden der Virus-
erkrankung feststellbar, und die gemes-
sene Lungenfunktion war eigentlich
ausreichend. «Die Betroffenen leiden
unter Ängsten, die Erkrankung nicht
mehr loszuwerden, und atmen deshalb
zu viel. Sie befinden sich in einer Art
Hyperventilationszustand, der auf die
noch nicht wiedergefundene Sicherheit
zurückzuführen ist», so Teufel. Zur
Therapie von vermeintlichen Long-
COVID-Symptomen empfiehlt er des-
halb als erste Massnahme die Eduka-
tion, um Ängste auf ein rationales Mass
zurückzuführen: «Die Patienten müs-
sen wissen: COVID-19 macht in der
Mehrzahl der Fälle nicht körperlich
dauerkrank. Das Wahrscheinliche nach
einer Infektion ist die vollständige so-
matische Genesung.»
RBO s
Onlinepressekonferenz anlässlich des Deutschen Kongresses für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie, 16. Juni 2021.
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ARS MEDICI 14–16 | 2021
Onkologie
Kein Vorteil durch höhere Strahlendosis nach Prostatektomie
Prostatakrebs ist gemäss Statistik der Krebsliga Schweiz mit einer Inzidenz von etwa 6400 Neuerkrankungen pro Jahr, also fast einem Drittel aller Krebserkrankungen, mit Abstand die häufigste Krebsart bei Männern. In Bezug auf die Todesfälle rangiert Prostatakrebs aber nur an zweiter Stelle mit gut 14 Prozent aller Krebstoten. Grund dafür sind die relativ guten Heilungschancen bei rechtzeitig gestellter Diagnose. Bei Erreichen eines bestimmten Tumorstadiums ist die radikale Prostatektomie eine Behandlungsoption mit guten Heilungschancen. Bei Hinweisen auf eine erneute Tumoraktivität erfolgt meist eine Bestrahlung in der ehemaligen Prostataregion (salvage radiotherapy). In der Studie mit 350 Patienten wurde die Wirkung einer höheren Strahlendosis (70 Gy) im Vergleich mit der üblichen Bestrahlung (64 Gy) untersucht, weil ältere, retrospektive und unkontrollierte Studien einen möglichen Vorteil der höheren Strahlendosis suggerierten.
Doch dieser Vorteil existiert nicht: «Diese An-
nahme wurde mit der SAKK-09/10-Studie
klar widerlegt. Zwei zentrale Ergebnisse lie-
gen nun vor: Erstens bringt eine erhöhte
Strahlendosis keinen Vorteil bezüglich einer
erneuten Tumoraktivität innert 5 Jahren.
Zweitens gibt es nach einer intensiveren Be-
strahlung mehr Nebenwirkungen im Darm-
bereich», fasste Prof. Dr. med. Daniel Aeber-
sold, Inselspital Bern, die wesentlichen
Erkenntnisse der neuen Studie zusammen.
Mit der konventionellen Dosis müssen die
Patienten nur an 32 statt an 35 Tagen be-
strahlt werden, und die Häufigkeit von Darm-
beschwerden sinkt um die Hälfte (22% vs.
11%).
RBO s
Medienmitteilung der Inselgruppe AG vom 22. Juni 2021 und Ghadjar P et al.: Dose-intensified Versus Conventional-dose Salvage Radiotherapy for Biochemically Recurrent Prostate Cancer After Prostatectomy: The SAKK 09/10 Randomized Phase 3 Trial (published online ahead of print, 2021 Jun 14). Eur Urol. 2021;S03022838(21)01802-9.
Prävention
Zigarettenverkaufsverbot hilft nicht
Wer keine Zigaretten kaufen kann, fängt nicht an zu rauchen, so die Überlegung hinter den Verboten zum Verkauf von Zigaretten an Jugendliche. Eine neue Basler Studie für die Schweiz zeigt jedoch: Die Abgabeverbote machen das Rauchen zwar nicht attraktiver, halten aber auch nicht wesentlich vom Rauchen ab. Seit 2006 haben bis auf Appenzell Innerrhoden und Schwyz alle Kantone Abgabeverbote für Zigaretten an Jugendliche eingeführt. Die unterschiedlichen Einführungszeitpunkte nutzten die Studienautoren für Vorher-nachher-Vergleiche. Generelle nationale Trends rechneten sie statistisch heraus, zum Beispiel den Preisanstieg für Zigaretten. Zwischen 2001 und 2016 wurden schweizweit über 80 000 Jugendliche unter 21 Jahren zu ihrem Zigarettenkonsum und ihren Einstellungen zum Rauchen befragt. Es zeigte
sich, dass das Abgabeverbot höchstens zu ei-
ner kleinen Reduktion des Tabakkonsums
geführt hat. Für junge Erwachsene, die als
Jugendliche aufgrund eines geltenden Abga-
beverbots keine Zigaretten kaufen konnten,
finden die Autoren längerfristig keine gerin-
gere Rauchneigung. «Man sollte sich daher
bewusst sein, dass Abgabeverbote – zumin-
dest wenn sie nicht mit polizeistaatlichen
Massnahmen umgesetzt werden – kaum zu
einer grossen Verringerung der Rauchpräva-
lenz beitragen», so der Ökonom Prof. Alois
Stutzer, Universität Basel, einer der Studien-
autoren. Anders seien die Erfahrungen beim
Alkohol: Dort zeigten die Abgabeverbote an
Jugendliche Wirkung.
RBO s
Medienmitteilung der Universität Basel vom 5. Juli 2021 und Meier AN et al.: Tobacco sales prohibition and teen smoking. Journal of Economic Behavior & Organization. 2021;188:998-1014.
Rückspiegel
Vor 10 Jahren
Supernasen
Hunde nehmen mit grosser Treffsicherheit lungenkrebsspezifische Gerüche im Atem wahr. In einer kontrollierten Studie an der Universität Tübingen identifizieren speziell trainierte Hunde 71 von 100 Atemproben von Lungenkrebspatienten korrekt (Sensitivität 71%). Aus 400 Atemproben von Menschen ohne Lungenkrebs klassifizieren die Vierbeiner 372 als negativ (Spezifität 93%). Ziel der Studie ist weniger das Ausbilden von Hunden zu Screeningzwecken, sondern eine Antwort auf die Frage, ob lungenkrebsspezifische Moleküle im Atem prinzipiell nachweisbar sind.
Vor 50 Jahren
Aus dem Takt
Mit der zunehmenden Verbreitung von Herzschrittmachern häufen sich die Fälle, in denen elektromagnetische Wellen das noch neue kardiologische Hilfsmittel aus dem Takt bringen. So berichtet man in einem Fallbericht der Zeitschrift «JAMA», dass ein Herzschrittmacherträger in einem Restaurant zusammengebrochen sei, weil in seiner Nähe ein Mikrowellenherd angeschaltet wurde. Neben anderen potenziellen Störquellen aufgrund elektromagnetischer Strahlung werden Personen mit einem Herzschrittmacher vor allem vor diesem neuen Küchengerät gewarnt.
Vor 100 Jahren
Insulin
Frederick Banting und Charles Best gelingen vom 7. bis 14. August die entscheidenden Schritte zur Isolierung von Insulin aus den Bauchspeicheldrüsen von Säugetierföten. Zunächst bezeichnen sie die Substanz ebenfalls nach ihrer Quelle, den Inselzellen des Pankreas, als Isletin, doch in der Folge setzt sich die ältere Bezeichnung Insulin durch. Banting wird 1923 gemeinsam mit dem Physiologen John MacLeod mit dem Nobelpreis ausgezeichnet, während Best leer ausgeht. Die Preisträger Banting und MacLeod geben die Hälfte ihres Preisgeldes an Best und den ebenfalls beteiligten Biochemiker James Bertram Collip ab. RBO s
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