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STUDIE REFERIERT
Protonenpumpeninhibitoren oft fehlerhaft verschrieben
Protonenpumpeninhibitoren (PPI) werden häufig ohne angemessene Indikation verschrieben. Zu den Ursachen der Überverordnung gehören nicht indizierte PPI-Empfehlungen in Spitalentlassungsbriefen, die einen grossen Einfluss auf das Verschreibungsverhalten von Hausärzten haben.
INTERNATIONAL JOURNAL OF CLINICAL PRACTICE
Die Anzahl der Verschreibungen von Protonenpumpeninhibitoren (PPI) nimmt weltweit stetig zu. Dieser Anstieg kann nicht durch eine Zunahme säurebedingter Morbiditäten oder neue Indikationen erklärt werden. Aus Untersuchungen in verschiedenen Ländern geht vielmehr hervor, dass 40 bis 80 Prozent der Verschreibungen nicht in Übereinstimmung mit den aktuellen Richtlinien erfolgen. PPI sind die erste Wahl zur Behandlung der gastroösophagealen Refluxerkrankung und peptischer Ulzera. In Kombination mit Antibiotika werden sie zur Eradikation von Helicobacter pylori angewendet. Nach Beseitigung der Bakterien sind PPI meist nicht mehr erforderlich. Bei einigen Patienten sind PPI auch als Co-Medikation zur Prävention von Ulzera bei der Einnahme von nichtsteroidalen Antirheumatika
Merksätze
❖ Entsprechend den Empfehlungen in Spitalentlassungsbriefen werden nicht indizierte PPI häufig vom Hausarzt weiterverschrieben.
❖ In Spitälern werden vom Hausarzt verordnete, nicht indizierte PPI oft weiter appliziert.
❖ Hausärzte und Spitäler sollten vor der Fortsetzung einer PPI-Behandlung die Indikation überprüfen.
(NSAID) oder Aspirin indiziert. In der Intensivmedizin werden PPI indikationsgemäss zur Prophylaxe von Stressulzera bei Patienten mit erhöhtem Blutungsrisiko angewendet. Der Nutzen beim Barrett-Ösophagus wird kontrovers diskutiert, und ein Benefit zur Prävention von Karzinomen wurde noch nicht belegt. In einem Cochrane-Review kamen Experten zu dem Schluss, dass PPI auch bei einigen Patienten mit Dyspepsie wirksam sein könnten, die untersuchten Studien wiesen jedoch eine erhebliche Heterogenität auf. In manchen Richtlinien wird empfohlen, einen Test auf Helicobacter pylori vorzunehmen und – wenn erforderlich – eine Eradikation durchzuführen. Alternativ kann eine empirische Behandlung mit PPI über 4 bis 8 Wochen erfolgen. Eine unnötige Verschreibung von PPI kann mit unerwünschten Effekten und Medikamentenwechselwirkungen verbunden sein. So stehen PPI in signifikantem Zusammenhang mit der ambulant erworbenen Pneumonie und der von Clostridium difficile verursachten Diarrhö. Zudem wird vermutet, dass die langfristige Einnahme mit einem erhöhten Risiko für Hüftfrakturen verbunden ist und die therapeutische Effektivität von Bisphosphonaten und niedrig dosiertem Aspirin vermindert. Ein Anstieg der Kaliumwerte im Serum wurde ebenfalls beobachtet. Schliesslich belasten unnötige Verschreibungen auch die Krankenkassen.
Evaluierung von PPI-Empfehlungen in Spitalentlassungsbriefen Zu den Ursachen überflüssiger Verschreibungen scheinen der Beginn einer PPI-Behandlung im Spital und eine nicht indizierte Empfehlung des Spitals zur ambulanten Weiterbehandlung zu gehören. Wissenschaftler vom Universitätsklinikum Göttingen (Deutschland) untersuchten deshalb das Ausmass angemessener und nicht angemessener PPI-Empfehlungen in Spitalentlassungsbriefen sowie den Einfluss dieser Empfehlungen auf die PPI-Verordnungen durch den Hausarzt. Ein weiteres Ziel
der Untersuchung bestand in der Identifizierung von Faktoren, die mit einer Fortsetzung indizierter oder nicht indizierter PPI-Behandlungen verbunden sind. Darüber hinaus gingen die Forscher auch der Frage nach, inwieweit eine vom Hausarzt begonnene nicht indizierte PPI-Behandlung nach einer Einlieferung ins Spital fortgesetzt wird. Zur Evaluierung der PPI-Verschreibungspraxis führten die Wissenschaftler eine Beobachtungsstudie in 35 Hausarztpraxen in Mecklenburg-Vorpommern (Nordostdeutschland) durch. Zunächst identifizierten sie alle Patienten, die im Zeitraum vom 1. Juli 2006 bis zum 30. Juni 2007 mit Empfehlungen zur Anwendung von PPI aus einem Spital entlassen wurden. Anschliessend evaluierten sie die PPI-Empfehlungen in den Spitalentlassungsbriefen sowie die PPIVerordnungen des Hausarztes sechs Monate vor und sechs Monate nach dem Spitalaufenthalt des Patienten. Die Empfehlungen des Spitals zur PPIEinnahme wurden als «angemessen», «nicht angemessen» und «unsicher» klassifiziert (siehe Kasten auf Seite 206).
Über- und Unterverordnung von PPI Die teilnehmenden Hausärzte waren durchschnittlich 54 Jahre alt (nationaler Durchschnitt 53 Jahre) und betrieben ihre Praxis im Mittel seit 13 Jahren. Der Anteil an Ärztinnen betrug 42 Prozent, was ebenfalls dem nationalen Durchschnitt entspricht. In die Analyse der PPI-Verschreibungen wurden 506 Patienten mit einem durchschnittlichen Alter von 73 Jahren (18–99 Jahre) aus 31 Hausarztpraxen eingeschlossen. Etwa die Hälfte der Patienten (56%) waren Frauen. Alle Patienten waren bei der Allgemeinen Ortskrankenkasse (AOK) versichert, die etwa 37 Prozent der Bevölkerung in Mecklenburg-Vorpommern abdeckt. Bei 326 von 506 Patienten (64%) wurde in den Entlassungsbriefen keine PPI-Verschreibung vor der Einlieferung ins Spital dokumentiert. Bei 263 der 506 Patienten (52%) klassifizierten die Autoren die im Spitalentlassungsbrief aufgeführte Indikation zur PPI-Weiterbehandlung als nicht angemessen. Bei 176 Patienten (35%) wurden die Indikationen als angemessen beurteilt, und bei 67 Patienten (13%) lag eine unsichere Indikation vor.
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STUDIE REFERIERT
KOMMENTAR
Prof. Dr. Frank Seibold Gastroenterologie, Spital Netz Bern, Spital Tiefenau
PPI: Sicher oder doch nicht? Zu wenig oder doch zu häufig verschrieben?
Werden Protonenpumpeninhibitoren (PPI) zu häufig eingesetzt? Die Indikation für eine PPITherapie war laut einer aktuellen Studie (1) bei 52 Prozent der Patienten, die in Nordostdeutschland mit diesen Medikamenten therapiert wurden, nicht gegeben. Auf der anderen Seite sehen wir im klinischen Alltag täglich Patienten mit gastrointestinalen Blutungen, die durch eine PPI-Therapie hätten verhindert werden können. Ein nicht indizierter Einsatz eines Arzneimittels ist grundsätzlich zu vermeiden. Aber wie hoch ist das Risiko für Langzeitnebenwirkungen der PPI wirklich? Leider liegen zu vielen potenziellen Nebenwirkungen der PPI kontroverse Studien oder keine guten prospektiven randomisierten Studien vor. PPI können über eine Achlorhydrie und verminderte Kalziumresorption zu einer Osteoporose führen. Eine Metaanalyse zeigt eindeutig ein erhöhtes Risiko für Hüftoder Wirbelfrakturen (2). Zusätzlich könnte eine Interaktion zwischen PPI und Bisphosphonaten bestehen. Eine weitere Nebenwirkung, auf die wir durch eine Black-Box-Warnung 2010 aufmerksam gemacht wurden, ist die mögliche Interaktion von PPI auf den Metabolismus von Clopi-
dogrel. Sowohl klinische als auch laborchemische Untersuchungen konnten inzwischen jedoch zeigen, dass die Wirksamkeit von Clopidogrel durch PPI nicht signifikant beeinflusst wird (3, 4). Weitere durch Achlorhydrie beeinflusste Nebenwirkungen sind das erhöhte Risiko für Clostridium-difficile-assoziierte Diarrhö und andere Enteritiden sowie möglicherweise auch für Pneumonien. Insgesamt muss konstatiert werden, dass das absolute Risiko für eine PPI-Komplikation sehr gering ist. Dem gegenüber steht das Risiko gastrointestinaler Blutungen, das unter einer effektiven Thrombozytenaggregationshemmung 1,2 bis 2,4 Prozent beträgt und mit einer erhöhten Mortalität verbunden ist. In Studien konnte gezeigt werden, dass ein Einsatz von PPI zu einer signifikant reduzierten gastrointestinalen Blutungsrate, aber auch zu einer besseren Adhärenz einer Acetylsalicylsäuretherapie führt. Dadurch verbessert sich auch die kardiovaskuläre Prognose, und die PPI-Kotherapie scheint somit kosteneffektiv zu sein (5). Dennoch ist es Aufgabe des behandelnden Arztes, die Indikationen für PPI zu überprüfen und die möglichst niedrigste effektive Dosis
zu verschreiben (Dosisreduktion oder On-de-
mand-Therapie) und in Fällen, die einer
Dauertherapie bedürfen, das Osteoporose-
risiko zu berücksichtigen. Auf der anderen
Seite ist das Nebenwirkungsprofil der PPI so
günstig, dass keinem Patienten bei korrekter
Indikationsstellung diese Medikamente vor-
enthalten werden sollten.
❖
Literatur: 1. Ahrens D et al.: Appropriateness of proton pump inhibitor
recommendations at hospital discharge and continuation in primary care. Int J Clin Pract 2012; 66(8): 767–773. 2. Eom CS et al.: Use of acid-suppressive drugs and risk of fracture: a meta-analysis of observational studies. Ann Fam Med 2011; 9: 257–267. 3. Ford NF, Taubert D: Clopidogrel, CYP2C19, and a Black Box. J Clin Pharmacol 2013; 4: 1–10. 4. Bhatt DL et al.; COGENT Investigators: Clopidogrel with or without omeprazole in coronary artery disease. N Engl J Med 2010; 363: 1909–1917. 5. Saini SD et al.: Cost-effectiveness analysis: cardiovascular benefits of proton pump inhibitor co-therapy in patients using aspirin for secondary prevention. Aliment Pharmacol Ther 2011; 34(2): 243–251.
Beim Hausarzt wurden nicht indizierte PPI in 58 Prozent aller Fälle über mindestens einen Monat fortgesetzt. Auf der anderen Seite wurden 33 Prozent der indizierten PPI-Behandlungen vom Hausarzt abgebrochen. Zwei Drittel aller nicht indizierten Behandlungen wurden während des Spitalaufenthalts begonnen. Als Faktoren, die mit einer nicht indizierten PPI-Behandlung verbunden waren, ermittelten die Wissenschaftler in univariaten Analysen eine PPI-Einnahme vor dem Spitalaufenthalt, niedrig dosiertes Aspirin, ein Alter über 70 Jahre und die Einweisung in ein regionales Versorgungszentrum. In multivariaten Analysen war der am stärksten mit einer nicht indizierten
PPI-Fortsetzung verbundene Faktor eine PPI-Verschreibung durch den Hausarzt vor der Einlieferung ins Spital (OR: 3,0; 95%-Konfidenzintervall [KI]: 1,7–5,4). Dies war jedoch auch der stärkste Faktor für die Fortsetzung einer angemessenen PPI-Behandlung (OR: 3,2; 95%-KI: 1,4–7,5). Eine indizierte Ulzeraprophylaxe bei Einnahme von NSAID war dagegen mit einem unangemessenen Abbruch der PPIBehandlung verbunden (OR: 0,4; 95%-KI: 0,2–0,8).
Diskussion Die Autoren identifizierten in mehr als der Hälfte der Spitalentlassungsbriefe nicht angemessene Empfehlungen für die weitere ambulante PPI-Behand-
lung. In vielen Fällen richteten sich die Hausärzte danach, was häufig zu nicht indizierten Weiterbehandlungen führte. Dies weist nach Ansicht der Autoren auf einen grossen Einfluss der Spitalempfehlungen auf das Verschreibungsverhalten von Allgemeinmedizinern hin. Spitäler sollten deshalb ihre Verschreibungspraxis für PPI kritisch überprüfen und die Indikationen für eine PPI-Empfehlung im Entlassungsbrief klar dokumentieren. Auf der anderen Seite war eine PPI-Verschreibung durch den Hausarzt vor der Einlieferung ins Spital der stärkste Faktor sowohl einer indizierten als auch einer nicht indizierten Fortsetzung der Behandlung nach der Entlassung aus dem Spital. Demzufolge sollten Haus-
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Kasten:
Indikationen für PPI (nach Ahrens et al.)
Angemessene Indikationen ❖ gastroösophageale Refluxerkrankung ❖ Behandlung peptischer Ulzera und wiederholte Prophylaxe ❖ Eradikation von Helicobacter pylori ❖ hypersekretorische Erkrankungen (z.B. Zollinger-Ellison-Syndrom) ❖ histologisch nachgewiesene Gastritis ❖ Prävention medikamenteninduzierter Ulzera:
– NSAID bei Patienten > 65 Jahren – NSAID und Kortikosteroide – NSAID und Warfarin (nicht im AK der Schweiz) – NSAID bei Patienten mit Ulzera und gastrointestinalen Blutungen – in der Vorgeschichte – Aspirin und Kortikosteroide – Aspirin und Warfarin – Aspirin und NSAID
Unsichere Indikationen ❖ Dyspepsie ❖ Barrett-Ösophagus ❖ ösophageale Varizen ❖ Ulzeraprophylaxe mit Clopidogrel und niedrig dosiertem Aspirin ❖ Patienten, die sich einer Endoskopie und einer Biopsie des oberen Gastrointestinal-
trakts unterzogen haben und deren Ergebnis bei der Entlassung noch nicht vorlag ❖ Gastritis in der Vorgeschichte, keine Endoskopie, keine weitere Information ❖ Anämie, keine Endoskopie
Auch in anderen Ländern werden hohe
Raten an fehlerhaften PPI-Verschrei-
bungen beobachtet. In Schweden und
in Italien erhielten 41 bis 82 Prozent
der Patienten eine Säuresuppressions-
therapie ohne angemessene Indikation.
In einer spanischen Studie wurden
55 Prozent der Patienten in einem Spi-
tal der Tertiärversorgung bei der Ent-
lassung mit PPI behandelt, 80 Prozent
von ihnen ohne Indikation. In amerika-
nischen Untersuchungen wurden ähn-
liche prozentuale Anteile einer Fort-
setzung nicht indizierter PPI-Behand-
lungen beobachtet.
Als Schwäche ihrer Studie werten die
Autoren, dass nur bei der AOK ver-
sicherte Patienten berücksichtigt wur-
den. Es gibt zwar keine Hinweise
darauf, dass sie anders behandelt wer-
den als Personen, die bei anderen Kran-
kenkassen versichert sind, eine Selek-
tionsverzerrung kann dennoch nicht
ganz ausgeschlossen werden.
Nach Ansicht der Autoren müssen
die Ursachen für nicht indizierte PPI-
Verordnungen noch genauer unter-
sucht werden, um Über- und Unterver-
schreibungen besser entgegenwirken zu
können.
❖
ärzte zum einen die Empfehlungen des Spitals im Entlassungsbrief sorgfältig prüfen und zum anderen auch die von ihnen verordnete Medikation vor einer Klinikeinweisung ihrer Patienten sorgfältig evaluieren. Im Rahmen ihrer Studie beobachteten die Wissenschaftler neben der Überverschreibung auch eine Unterverschreibung: Bei einem Drittel der Patienten
wurde die PPI-Behandlung trotz evidenzbasierter Indikation nicht fortgesetzt. Bei 56 Prozent dieser Betroffenen lag eine PPI-Indikation zur Ulzeraprävention bei Einnahme von NSAID vor. Das Problem der Unterverschreibung im Hinblick auf die Gastroprotektion im Zusammenhang mit NSAID wurde bereits in einigen älteren Untersuchungen beschrieben.
Petra Stölting
Quelle: Ahrens D, Behrens G et al.: Appropriateness of proton pump inhibitor recommendations at hospital discharge and continuation in primary care. Int Clin Pract 2012; 66(8): 767–773.
Interessenlage: Die Studienautoren machen keine Angaben zu Interessenkonflikten.
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