Transkript
STUDIE REFERIERT
MS-Therapie und Schwangerschaft
Wie sicher ist Glatirameracetat bei Patientinnen mit Kinderwunsch?
Die zur Behandlung der multiplen Sklerose üblichen Medikamente sind während Schwangerschaft und Stillzeit kontraindiziert oder eingeschränkt zugelassen. Deshalb wird empfohlen, die Therapie möglichst schon vor einer geplanten Konzeption zu beenden. Eine aktuelle Studie untersuchte, welche Auswirkungen eine Glatirameracetatexposition in utero auf den Fetus und auf die kindliche Entwicklung nach der Geburt hat.
BIOMED CENTRAL NEUROLOGY
Da multiple Sklerose (MS) insbesondere Frauen im reproduktionsfähigen Alter betrifft, sind Sicherheit und Verträglichkeit von krankheitsmodifizierenden Therapien bei Schwangeren mit schubförmig-remittierender MS (RRMS) von grosser Bedeutung. Dies betrifft vor allem Patientinnen mit hochaktiver MS, bei denen das Absetzen der krankheitsmodifizierenden Therapie bei geplanter Schwangerschaft das Schubrisiko erhöhen kann.
Merksätze
❖ Bisher wurden Medikamente zur Behandlung der multiplen Sklerose häufig vor oder bei Eintritt einer Schwangerschaft abgesetzt.
❖ Die vorliegende Studie zeigt, dass Glatirameracetat weder mit einer erhöhten Frequenz an Spontanaborten noch mit anderen negativen Schwangerschaftsereignissen oder fetalen Komplikationen assoziiert ist.
❖ Deshalb kann insbesondere bei Patientinnen mit hoher Krankheitsaktivität und einem grossen postpartalen Schubrisiko eine Fortsetzung der Glatirameracetatbehandlung erwogen werden.
In den letzten Jahren wiesen Studien darauf hin, dass Interferon- in der Frühschwangerschaft sicher ist. Zu Glatirameracetat ist die Datenlage limitiert. Einige wenige Studien lassen vermuten, dass eine Glatirameracetatexposition in der Frühschwangerschaft weder das Missbildungsrisiko noch die Frühabortrate erhöht. Zudem gibt es Hinweise, dass eine kontinuierliche Glatirameracetatbehandlung während der Schwangerschaft das postpartale Schubrisiko senkt. In eine aktuelle Studie wurden MS-Patientinnen aus 21 italienischen MSZentren, die in den Jahren 2002 bis 2008 schwanger wurden, aufgenommen und prospektiv beobachtet. Die Patientinnen wurden in zwei Gruppen eingeteilt: ❖ Frauen, die innerhalb der 4 Wochen
vor der Konzeption und/oder während der Schwangerschaft Glatirameracetat oder Interferon- erhalten hatten (EP = drug exposed pregnancies) ❖ Frauen, die vor der Konzeption mindestens 4 Wochen lang sowie während der Schwangerschaft kein Glatirameracetat oder Interferon- erhalten hatten (NEP = non-exposed pregnancies)
Ergebnisse Insgesamt wurden Daten zu 423 Schwangerschaften erfasst. Bei 318 hatte keine Medikamentenexposition stattgefunden (NEP), bei 88 hatte eine Exposition (EP) gegenüber Interferon-, bei weiteren 17 eine Exposition gegenüber Glatirameracetat vorgelegen. Die Schwangerschaften führten in der Interferon--EP-Gruppe zu 75 Lebendgeburten, in der GlatirameracetatEP-Gruppe zu 16 Lebendgeburten und in der NEP-Gruppe zu 295 Lebendgeburten. Die Glatirameracetatexposition, die sich im Durchschnitt über etwa vier Wochen erstreckt hatte, war nicht signifikant mit einem erhöhten Spontanabortrisiko assoziiert (OR = 0,44; 95%-KI 0,044–4,51; p = 0,49). Hin-
sichtlich durchschnittlichen Körpergewichts und durchschnittlicher Körperlänge bei der Geburt gab es keine signifikanten Unterschiede zwischen den Schwangerschaften, die gegenüber Glatirameracetat exponiert gewesen waren, und jenen, bei denen keine Medikamentenexposition stattgefunden hatte (p = 0,751). Bei 4 von 16 Frauen mit Glatirameracetatexposition kam es zu Frühgeburten (25%). Damit war die Häufigkeit von Frühgeburten bei den gegenüber Glatirameracetat exponierten Schwangerschaften nicht signifikant höher als bei den nicht exponierten Schwangerschaften (p > 0,735). Dies traf auch für die Rate an Kaiserschnitten zu. Nach Glatirameracetatexposition wurden weder ernste fetale Komplikationen noch Missbildungen dokumentiert. Die mediane Nachbeobachtungszeit betrug 2,1 Jahre. In dieser Phase wurden zwei Entwicklungsanomalien beobachtet (leichte Sprachstörungen); beide traten bei Kindern auf, die in utero keiner MS-Medikation ausgesetzt gewesen waren.
Schlussfolgerungen Die Daten der italienischen Kohorte belegen, dass eine Exposition der Mutter gegenüber Glatirameracetat weder mit einer erhöhten Frequenz an Spontanaborten noch mit anderen negativen Schwangerschaftsereignissen oder fetalen Komplikationen assoziiert ist. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie lassen eine In-utero-Exposition gegenüber Glatirameracetat als sicher erscheinen und können Neurologen bei der Beratung von MS-Patientinnen mit Kinderwunsch unterstützen. Insbesondere bei Patientinnen mit hoher Krankheitsaktivität und einem hohen postpartalen Schubrisiko kann nach Ansicht der Autoren eine Fortsetzung der Glatirameracetatbehandlung erwogen werden. ❖
Andrea Wülker
Giannini M et al.: Pregnancy and fetal outcomes after glatiramer acetate exposure in patients with multiple sclerosis: a prospective observational multicentric study. BioMed Central Neurology 2012; 12: 124.
Interessenlage: Die Mehrzahl der Autoren gibt an, von verschiedenen Pharmaunternehmen Honorare beispielsweise für Referenten- und Beratungstätigkeiten erhalten zu haben.
ARS MEDICI 3 ■ 2013
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