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STUDIE REFERIERT
MS-Patienten mit Interferontherapie leben länger
Vor rund 21 Jahren wurde eine Zulassungsstudie zu Interferon-β1b (IFNβ-1b) bei schubförmig remittierender multipler Sklerose (RR-MS) durchgeführt. In einer Langzeit-Nachbeobachtungsstudie zeigte sich nun bei Teilnehmern, die mit INFβ-1b behandelt worden waren, eine signifikant geringere Mortalität im Vergleich zu denen, die Plazebo erhalten hatten. Die erhöhte Anzahl der Todesfälle in der Plazebogruppe ist weitgehend auf MS-assoziierte Ursachen zurückzuführen.
BRITISH MEDICAL JOURNAL
Bei der multiplen Sklerose handelt es sich um eine Erkrankung des zentralen Nervensystems, die mit einem erhöhten Mortalitätsrisiko verbunden ist. MSPatienten sterben etwa 7 bis 14 Jahre eher als gleichgeschlechtliche Altersgenossen ohne diese Erkrankung.
Merksätze
❖ Im Zeitraum von 21 Jahren nach einer Zulassungsstudie wurde bei MS-Patienten, die IFNβ-1b erhalten hatten, eine um 46 bis 47 Prozent reduzierte Mortalität beobachtet.
❖ Die erhöhte Anzahl der Todesfälle in der Plazebogruppe war meist auf MS-assoziierte Ursachen zurückzuführen.
❖ Der Überlebensvorteil unter IFNβ-1b wird vermutlich durch eine günstige Beeinflussung des Verlaufs der MS erreicht.
Für MS-Patienten und ihre Angehörigen sind langfristige Ergebnisse einer medikamentösen Behandlung, wie die Vermeidung körperlicher Behinderung, der Erhalt der Berufstätigkeit oder das Überleben, von grösserer Bedeutung als kurzfristige klinische Outcomes, die in randomisierten Studien untersucht werden. Daher sind Langzeitstudien erforderlich, um die Auswirkungen eines Medikaments auf den Verlauf der Erkrankung zu evaluieren. Kürzlich wurden die Ergebnisse eines Langzeit-Follow-up (21-Y-LTF) einer rund 21 Jahre zurückliegenden randomisierten kontrollierten Zulassungsstudie (RTC) zu IFN-1b bei RR-MS veröffentlicht. In der RTC hatten die Patienten IFN-1b (250 µg oder 50 µg, alle 2 Tage subkutan) oder Plazebo erhalten und wurden nach der Beendigung der Zulassungsstudie mit IFN-1b oder anderen krankheitsmodifizierenden Medikamenten behandelt. In der LangzeitNachbeobachtungsstudie zeigte sich in den beiden Interferongruppen eine signifikant reduzierte Mortalität (46,8% und 46,0%) im Vergleich zur ursprünglichen Plazebogruppe. Diese Ergebnisse implizieren zwar einen Überlebensvorteil durch die Interferonbehandlung, um diesen jedoch eindeutig auf die Wirksamkeit von IFN-1b zurückführen zu können, ist zusätzlich eine Evaluierung der Todesursachen verstorbener MS-Patienten erforderlich.
Langzeitstudie zur Evaluierung der Todesursachen Deshalb untersuchten die Wissenschaftler in einem zweiten LangzeitFollow-up die Todesursachen aller seit der Zulassungsstudie verstorbenen Patienten sowie den Zusammenhang des Todes mit der MS. Ergänzend untersuchten die Wissenschaftler, inwieweit die erhöhte Mortalität bei Patienten
aus der RTC-Plazebogruppe mit der MS assoziiert war. Die Studie wurde als Intent-to-Treat-Analyse durchgeführt. Entsprechend zuvor definierten Regeln wurden die Todesursachen der Patienten folgenden Kategorien zugeordnet: 1. kardiovaskuläre Erkrankungen und
Schlaganfall 2. Krebserkrankungen 3. Lungeninfektionen 4. Sepsis 5. Unfalltod 6. Suizid 7. Tod aufgrund der MS 8. Tod wegen anderer bekannter
Ursachen 9. Tod infolge unbekannter oder nicht
bestimmbarer Ursachen.
Zur Beurteilung des Zusammenhangs zwischen Tod und MS erstellte ein interdisziplinäres Expertenteam einen Entscheidungsalgorithmus mit 3 potenziellen Zusammenhängen zwischen Tod und MS: ❖ Todesursachen, die immer MS-asso-
ziiert sind: körperliche Behinderung (EDSS ≥ 7) vor dem Tod, MS als einzige Todesursache, Tod aufgrund von MS, Tod infolge der MS-Therapie, Suizid ❖ Todesursachen, die wahrscheinlich MS-assoziiert sind: Hirnstammdysfunktion, Lungeninfektionen, Aspirationspneumonien, Respirationsinsuffizienz, Lungenembolien, Sepsis (vor allem Urosepsis), Tod aufgrund von Verletzungen ❖ Todesursachen, die wahrscheinlich nicht MS-assoziiert sind: kardiovaskuläre Erkrankungen und Schlaganfälle, Krebserkrankungen, andere Infektionen, Versagen einzelner Organe
Ergebnisse Die Langzeitstudie zur Evaluierung der Todesursachen wurde durchschnittlich 21,1 Jahre nach der Randomisierung für die RTC in 11 amerikanischen MSZentren durchgeführt. Von den 372 Patienten, die an der Zulassungsstudie zu INF-1b teilgenommen hatten, konnten 366 (98,4%) in die Langzeituntersuchung eingeschlossen werden. Aus der Kohorte dieser 366 Teilnehmer waren 81 (22,1%) verstorben. Zum Zeitpunkt des Todes waren die Patienten durchschnittlich 51,7 Jahre (± 8,7 Jahre) alt. Die Todesursache konnte bei
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Tabelle:
Todesursachen und Zusammenhang mit MS
Anzahl der Todesfälle Todesursachen: 1. kardiovaskuläre Erkrankungen und Schlaganfall 2. Krebserkrankungen 3. Lungeninfektionen 4. Sepsis 5. Unfalltod 6. Suizid 7. Tod aufgrund MS 8. anderer bekannter COD gesamt: COD bekannt andere Verbindungen zur MS: COD bekannt, Verbindung zur MS nicht bekannt Verbindung zur MS bekannt, COD nicht bekannt COD nicht bekannt, Verbindung zur MS nicht bekannt gesamt: Verbindung zur MS bekannt
Plazebo 37
4 (1*) 1 (0) 12 (11) 0 2 (1) 3 (3) 9 (9) 1 (0) 32 (25)
1 1 (1) 4 32
IFNβ-1b: 50 μg 22
1 (0) 3 (0) 2 (2) 0 0 (0) 2 (2) 6 (6) 1 (1) 15 (11)
0 2 (1) 5 17
* Zahlen in Klammern: MS-assoziierte Todesfälle, COD: Cause of Death (Todesursache)
IFNβ-1b: 250 μg 22
5 (1) 2 (1) 3 (3) 0 1 (1) 3 (3) 6 (6) 0 (0) 20 (15)
1 1 (1) 1 20
Gesamt 81
10 (2) 6 (1) 17 (16) 0 3 (2) 8 (8) 21 (21) 2 (1) 67 (51)
2 4 (3) 10 69
67 der 81 Patienten (82,7%) zugeordnet werden, und bei 65 der 67 Patienten konnte zudem festgestellt werden, ob ein Zusammenhang zwischen der MS und dem Tod bestand. Bei 4 weiteren Patienten konnte zwar die MS-Assoziation ermittelt, jedoch keine Todesursache zugeordnet werden. Somit konnte der Zusammenhang zwischen Tod und MS bei 85,2 Prozent (69/81) der verstorbenen Patienten festgestellt werden. Die Todesursache, die Verbindung des Todes zur MS oder beides konnte bei 88 Prozent (71/81) der seit der Zulassungsstudie verstorbenen Teilnehmer bestimmt werden. Bei 31 Prozent der 67 Patienten mit bekannter Todesursache (21/67) trat der Tod unmittelbar aufgrund der MS ein (siehe Tabelle). Entsprechend dem Entscheidungsalgorithmus war der Tod bei 54 Patienten mit der MS assoziiert. Somit stand der Tod bei 78,3 Prozent (54/69) der Patienten mit bekannter Todesursache und bei 67 Prozent (54/81) der gesamten Gruppe der Verstorbenen mit der MS in Verbindung. In der ursprünglichen Plazebogruppe waren 37 Todesfälle aufgetreten, in den beiden Interferongruppen jeweils nur 22. Fast alle zusätzlichen Todesfälle in der Plazebogruppe standen im Zusammenhang mit der MS. Die Todesrate im
unmittelbaren Zusammenhang mit der MS war in beiden Interferongruppen sogar nur etwa halb so hoch wie in der Plazebogruppe. Die höhere Anzahl der Todesfälle in der Plazebogruppe resultierte vor allem aus einer erhöhten Anzahl tödlicher Lungeninfektionen. Die Anzahl der Todesfälle, die nicht mit MS in Verbindung standen, war in allen 3 Gruppen gleichmässig verteilt.
Diskussion Aus der Langzeit-Nachbeobachtungsstudie gehen nach Ansicht der Autoren wesentliche Erkenntnisse zur Verbindung zwischen der verminderten Lebenserwartung von MS-Patienten, der MS-assoziierten körperlichen Behinderung und den Auswirkungen der Interferonbehandlung auf das klinische Ergebnis von Patienten mit RR-MS hervor. Die nahezu identische Reduzierung der Mortalität – um 46,8 Prozent (250 µg) und um 46,0 Prozent (50 µg) – in den beiden unabhängigen Interferongruppen weist nach Meinung der Wissenschaftler darauf hin, dass der beobachtete Überlebensvorteil nicht auf einem Zufall beruht. Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass die Mortalitätsrate in der Plazebogruppe mit der Sterblichkeit beim natürlichen Verlauf der MS
übereinstimmt und die Überlebensraten in anderen MS-Studien mit den Ergebnissen der vorliegenden Langzeituntersuchung konsistent sind. Insgesamt weisen die Resultate der 21Y-LTF darauf hin, dass der Überlebensvorteil auf die frühzeitigere oder die kumulativ höhere Exposition gegenüber IFN-1b zurückgeführt werden kann. Die MS-Patienten dieser Studienkohorte sind relativ jung und weisen auch weitere für diese Erkrankung charakteristische Merkmale auf. So betrug das Durchschnittsalter im Zeitraum der 21-Y-LTF 56,3 (± 7,1) Jahre, und die Verstorbenen waren zum Zeitpunkt ihres Todes sogar noch jünger (51,7 ± 8,7 Jahre). Auch die recht hohe Suizidrate (11,9%; 8/67) ist charakteristisch für eine jüngere MS-Population. Zudem verstarb die Mehrheit der Patienten (78,3%) an MS-assoziierten Ursachen. Drei Beobachtungen stützen die Hypothese, dass die Mortalitätsunterschiede zwischen den beiden Verumgruppen und der Plazebogruppe auf einen behandlungsbedingt unterschiedlichen Verlauf der MS zurückgeführt werden können. Zum einen ging die erhöhte Mortalität in der Plazebogruppe fast ausschliesslich auf MS-bedingte
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Todesfälle zurück. Zum anderen resultierten diese vor allem aus einer erhöhten Anzahl tödlicher Lungeninfektionen, einer typischen Komplikation im Endstadium der MS. Zudem sind die Ergebnisse in beiden Interferongruppen vergleichbar und somit konsistent im Vergleich zu Plazebo. Dies stützt zusammengenommen die Hypothese, dass der Nutzen der INF1b-Therapie hinsichtlich der Mortalität auf eine Reduzierung der MSbedingten körperlichen Behinderung und auf eine Verringerung der Komplikationen im Zusammenhang mit fortgeschrittener MS zurückgeführt werden kann.
Als Stärke ihrer Studie werten die Au-
toren, dass fast alle Patienten (98,4%)
der Zulassungsstudie in die Langzeit-
untersuchung nach 21 Jahren einbezo-
gen werden konnten. Ob die positiven
Auswirkungen mit einer frühzeitigen
IFN-1b-Behandlung oder einer höhe-
ren kumulativen Dosis an IFN-1b
zusammenhängen, liess sich in dieser
Langzeit-Nachbeobachtungsstudie
nicht klären. Insgesamt kann aufgrund
der Ergebnisse jedoch angenommen
werden, dass der Nutzen von IFN-1b
auf einer positiven Beeinflussung des
Verlaufs der MS beruht.
❖
Petra Stölting
Quelle: Goodin DS et al.: Cause of death in MS: long term follow-up of a randomized cohort, 21 years after the start of the pivotal IFN-1b study. BMJ Open 2012; 2: e001972.
Interessenkonflikte: Die 21Y-LTF-Studie wurde vollständig von Bayer HealthCare Pharmaceuticals finanziert. Alle 11 Autoren haben Gelder von diversen Pharmafirmen erhalten, die Medikamente zur Behandlung der multiplen Sklerose herstellen.
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