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Die Übermutter
In Indonesien sind Schwangerschaft und Geburt für Mütter und Kinder mit
Von Martin Zinggl
Geburten. Im Vergleich dazu sind es in der Schweiz bei gleicher Anzahl von Geburten fünf
hohem Risiko verbunden: Wird eine In-
Mütter und vier Neugeborene. Aufgrund von
donesierin schwanger, erhöht sich im folgenden
Komplikationen in der Schwangerschaft oder während der
Jahr ihr Mortalitätsrisiko um das Dreihundertfache.
Entbindung kommen weltweit rund eintausend Frauen um –
Auch die Neugeborenen sind gefährdet – pro 1000
täglich. «Junge, gesunde Menschen in der Blüte ihres
Geburten sterben 26 Kinder. Auf Bali kämpft Robin
Lebens, die das Natürlichste auf der Welt tun: ein Kind be-
Lim in der eigenen Geburtsklinik für das Leben von
kommen», seufzt Lim.
Müttern und Kindern – mit Erfolg!
«Wird eine Frau in Indonesien schwanger, erhöht sich im fol-
genden Jahr ihr Risiko zu sterben um das Dreihundertfache.»
Barfüssig huscht sie über den Fliesenboden.
Wer Geld hat, kann dem vorbeugen und leistet
Robin Lim bewegt sich schnell, spricht schnell,
sich einen guten medizinischen Service. Arme
handelt schnell. Wie jeden Tag tourt sie durch
Familien haben dieses Privileg nicht. Auch wer-
ihre Geburtsklinik auf der indonesischen Insel
den den Müttern die Neugeborenen bei der Ge-
Bali. Heute etwas gemächlicher als sonst, da
burt weggenommen, bis sie ihre Spitalrechnun-
ihr eine Gruppe Italiener folgt. Spender, die
gen bezahlen.
den Bau der «Bumi Sehat»-Klinik mitfinanziert
Mit «Bumi Sehat» schuf Lim eine Alternative:
und die weite Reise nach Indonesien angetre-
Kostenlose und sichere Geburten. In ihren Kli-
ten haben, um sich von dem Ergebnis zu über-
niken wurden bereits mehr als 8000 Entbindun-
zeugen.
gen begleitet. Lims Motto: Jede Mutter zählt.
Eine Brise trägt den Duft von Orchideen, Ing-
Eine Italienerin fragt, ob Lim je daran gedacht
wertee und Räucherstäbchen durch die offe-
hat, in Pension zu gehen. «Jeden Tag», antwor-
nen Gänge des zweistöckigen Gebäudes, das
tet sie, zieht die Ärmel ihres Shirts hoch. Blaue
farbenfroh und hell ausgemalt wurde. Ein
Flecken und Kratzspuren auf den Armen kom-
künstlich angelegter Bach und ein Brunnen
men zum Vorschein. Stolz zeigt sie die Wunden
vervollständigen den Eindruck, den Lim vermit-
her, die gebärende Mütter hinterlassen haben.
teln möchte: Harmonie.
Hebamme Robin Lim, Gründerin der Geburts-
Lim führt ihre Besucher zu einer Hebamme, die klinik Bumi Sehat
«Ich bin süchtig danach, von Hebammen, Müttern und Kindern umgeben zu sein.»
eine Schwangere über Geburtsmöglichkeiten
informiert. Daneben sitzt der werdende Vater, der ver-
Hero of the Year
schreckt auf Fotos gebärender Frauen blickt. Lim legt ihre
Für ihr Engagement würdigte der amerikanische Fernsehsen-
Hand auf seine Schulter und flüstert ihm beruhigende Worte
der CNN Lim mit der Auszeichnung «Hero of the Year». Von
zu, bis er verlegen lächelt. Die Italiener strahlen, fotografie-
dem Preisgeld baute sie die «Bumi Sehat»-Klinik in Ubud –
ren Lim, bitten sie um Selfies und Autogramme.
ein ruhiger Vorort im Hochland Balis, mit Einfamilienhäusern,
Tempeln und einem Fussballplatz direkt vor der Klinik, auf
Seit zwei Jahrzehnten im Einsatz
dem Kinder ihre Drachen steigen lassen. 69 Frauen arbeiten
Robin Lim versteht sich als Übermutter, die allen Schutzsu-
dort: Ärztinnen, Hebammen, Krankenschwestern, Sekretä-
chenden helfen will – und muss. «Es steht in meiner Verant-
rinnen, Putzhilfen und freiwillige Mitarbeiterinnen. Mit Män-
wortung», sagt die 64-jährige Amerikanerin mit philippini-
nern arbeitet Lim nicht – aus Prinzip.
schen Wurzeln. Als Hebamme schenkt sie Leben und kämpft
Als Lim und die Spender die Wartehalle betreten, herrscht
gegen den Tod. Seit zwei Jahrzehnten beweist sie, dass es
Freude und Chaos wie auf einem Jahrmarkt. Wie von einem
möglich ist, die hohe Sterblichkeitsrate von Müttern und
Magneten angezogen bewegen sich die Menschen auf Lim
Säuglingen in Indonesien zu senken.
zu. Kinder laufen, gefolgt von Vätern, die versuchen, ihre
Mit Erfolg, der sich allerdings auf Lims Einsatz beschränkt.
Kleinen einzufangen, Schwangere, die sich gerade noch
Denn laut einer Studie der Weltbank sterben in Indonesien
dehnten und streckten, und Mütter, in ihren Armen den
177 Mütter pro 100 000 Geburten sowie 26 Kinder pro 1000
eigenen Säugling: rot und zerknautscht von der Geburt. Alle
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haben das gleiche Ziel, die Frau mit den schwarzbraunen Haaren, die ihr bis zum Becken reichen. «Ibu», rufen sie, indonesisch für Mutter, «Ibu Robin!» Zur Begrüssung tätschelt Lim Bäuche und Rücken, streichelt Kinderköpfe, fragt Mütter, wie es ihnen geht, und nimmt kleine Geschenke entgegen. Spricht sie, schweigen alle. Dazwischen lacht Lim, sodass sich feine Falten um ihre Augen bilden. Ständig wiederholt sie einen Satz, beendet damit jedes Gespräch, bevor sie Küsse an ihr Gegenüber verteilt. Ein Satz, der ihr so problemlos von den Lippen geht, wie Gläubigen das Amen im Gebet: «I love you». Ihre Religion heisst Nächstenliebe. Aber auch Lims Liebe hat Grenzen, etwa wohlhabenden Ausländern gegenüber.
«Wir behandeln alle Patienten gleich» «Europäer und Amerikaner denken oft, dass sie bei uns eine Sonderbehandlung bekommen. Das ist Quatsch, wir behandeln alle Patienten gleich. Aber wir bitten alle, die Geld haben, um eine grosszügige Spende, um die Armen zu subventionieren.» Kürzlich spendete eine Französin vierzig Dollar, nachdem sie sechs Tage lang in den Wehen lag. Lim rollt mit den Augen: «Es kostet uns über eintausend Dollar pro Tag pro Patientin. Ich muss dieses Geld auftreiben, Tag für Tag. Wenn sie das nicht verstehen, leben sie in spiritueller Armut.» Braucht Lim Geld, um ihre Klinik zu erhalten, gibt sie Interviews, lässt sich fotografieren und redet in Talkshows. «Lange habe ich die Medien gemieden, aber wenn ich im Fernsehen auftrete, spenden die Menschen, und wir können unsere Arbeit fortführen.» Oder sie macht Hausgeburten für reiche Leute in Bali und kassiert mehrere tausend Dollar dafür. Lims Smartphone klingelt. Eine aufgeregte Männerstimme. Besonnen, aber kurz angebunden, antwortet sie: «Schaffst du es, deine Frau herzubringen, oder sollen wir eine Ambulanz schicken?» Während sie spricht, schweifen ihre Blicke
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über den Boden und entdecken einen klebrigen Fleck, kaum grösser als ein Kinderfuss. «Könnt ihr das in Ordnung bringen», sagt sie zu dem Personal in einem Ton, der keinen Widerspruch duldet. Geht es um Mütter und Kinder, schreckt Lim vor nichts zurück. Einmal feuerte sie eine Hebamme einer hohen Kaste, die eine bitterarme Patientin geohrfeigt hatte. Lim fischte in ihren Taschen nach Geld und sagte zu der Hebamme: «Da hast du dein Monatsgehalt. Ich will dich nie wieder sehen. Geh!» Ihre Anekdoten enden meist damit, dass die Babys – entgegen aller Erwartungen und Prognosen – gesund zur Welt kommen und zu wundervollen Wesen heranwachsen. Diesen Optimismus schöpft sie aus ihrem Vorbild, der philippinischen Grossmutter. «Sie war eine traditionelle Heilerin und Hebamme. Ich wollte immer so werden wie sie.»
«Jeder Mensch verdient eine sanfte Geburt» Weiter zieht die Gruppe zu Bumi Sehats neuestem Bewohner: Baby Rey wurde erst vor wenigen Stunden geboren. Seine Mutter wiegt den Kleinen, eingehüllt in ein Tuch, in ihren Armen. «Jeder Mensch verdient eine sanfte Geburt», sagt Lim. Für die Übermutter ist das nicht nur die Philosophie ihres Lebenswerks, sondern der Schlüssel, um die Welt zu retten. Geburten, wie sie momentan auf der Welt erfolgen, bezeichnet Lim als Katastrophe. «Eine gesunde Gesellschaft baut auf liebende und vertrauenswürdige Individuen. Wenn wir überleben und in Frieden leben wollen, brauchen wir mehr Menschen, die ohne Traumata geboren werden.» Neben den grellen Lichtern, lauten Geräuschen und Menschen in Schutzmasken im Kreisssaal ist eines dieser Traumata – und damit für Lim ein Verbrechen gegen die Menschheit – das frühe Durchtrennen der Nabelschnur. «Bei uns bleibt das Neugeborene drei Stunden mit der Plazenta verbunden, während die Mutter stillt. Erst dann kann man sicher sein, dass all das sauerstoff- und eisenreiche Blut an das Kind weitergegeben und damit das Risiko einer leichten Behinderung vermieden wird.» Diese Verbundenheit zwischen Mutter und Kind predigt Lim als ihr tägliches Mantra, auch wenn das der gängigen Meinung der Mediziner widerspricht, dass nach dem Abebben des pulsierenden Schlags der Nabelschnur kein Blut mehr zugeführt wird – in der Regel nach zwei bis vier Minuten. «In Bali glaubt man: ‹Die Mutter ist der Baum, die Nabelschnur die Wurzel und das Baby die Frucht. Die durchtrennt man nicht, sondern wartet, bis sie sich von alleine löst, sonst ist die Frucht unvollständig.›» x
Autor: Martin Zinggl Autor und freier Fotograf E-Mail: martin.zinggl@gmail.com