Transkript
Gestörter Tränenfilm
Damit kein Auge trocken bleibt
BERICHT
Jeder zweite bis dritte Augenarztbesuch hat mit Beschwerden des trockenen Auges zu tun. Trotzdem wird diese Erkrankung häufig unterschätzt. Prof. Gerhard Garhöfer berichtete am Symposium der Schweizerischen Gesellschaft für Pharmakologie und Toxikologie (SSPT) über den komplexen Aufbau des Tränenfilms, die Gründe für die gestörte Homöostase der Augenfeuchtigkeit und die unterschiedlichen Möglichkeiten einer Behandlung.
Der Tränenfilm des Auges wird in seiner Bedeutung unterschätzt. Denn der nur rund 6 μm starke Film schützt nicht nur die Hornhaut als Barriere gegen Schmutz und andere Umweltfaktoren, er hat auch einen enormen Anteil am klaren Sehen. Ist dieser feine Film durch Trockenheit gestört, kann es zu Augenbeschwerden, wie überschiessendes Tränen, zu Sehstörungen und manchmal zu irreversiblen Schädigungen der Augenoberfläche kommen: «Beim trockenen Auge handelt es sich um eine ernst zu nehmende Erkrankung», erklärte der Augenarzt Prof. Gerhard Garhöfer von der Universitätsklinik für klinische Pharmakologie der Medizinischen Universität Wien. Die Inzidenz steigt mit zunehmendem Alter deutlich an, wobei Frauen etwas häufiger betroffen sind als Männer (1). Letztlich handelt es sich beim trockenen Auge um eine Störung des Tränenfilms, dem ein Verlust der Homöostase zugrunde liegt. Das Aufrechterhalten dieses feinen Tränenfilms ist ein sehr komplexer Mechanismus. Dort melden Rezeptoren dem Hypothalamus die Stärke der Befeuchtung, der wiederum über einen Regelkreis die Aktivität der Tränendrüsen steuert (2). Der Tränenfilm besteht aus 3 Schichten: Eine äussere rund 100 nm dünne Lipidschicht verhindert die Verdunstung und bildet die optisch wirksame Grenzschicht zur Luft. Die darunterliegende, deutlich mächtigere mittlere Schicht besteht zu
KURZ & BÜNDIG
� Ein gestörter Tränenfilm kann zu Augenbeschwerden, Sehstörungen und irreversiblen Schädigungen der Augenoberfläche führen.
� Die Hauptrisikofaktoren für trockene Augen sind fortgeschrittenes Alter, weibliches Geschlecht, Kontaktlinsen, chirurgische Eingriffe an der Hornhaut, Vitamin-A-Mangel, Diabetes und verschiedene Arzneimittel.
� Bei milden bis moderaten Formen ist Hyaluronsäure eine zentrale Therapie, bei stärkeren Ausprägungen Ciclosporin A in Kombination mit Steroiden. Weitere Therapieoptionen werden derzeit getestet.
98 Prozent aus Wasser. Unter der wässrigen Schicht schliesst sich mit 30 bis 40 nm die extrem feine Muzinschicht an. Sie stellt die Verbindung zur Epithelschicht her.
Risikofaktoren für eine gestörte Homöostase des Tränenfilms
Die Hauptrisikofaktoren für die Entwicklung eines trockenen Auges sind, neben dem fortgeschrittenen Alter und dem weiblichen Geschlecht, das Tragen von Kontaktlinsen, chirurgische Eingriffe an der Hornhaut sowie Vitamin-A-Mangel und Diabetes. Zudem können verschiedene Arzneimittelgruppen für die Entwicklung des trockenen Auges verantwortlich sein. Zu nennen sind hier Anticholinergika, Betarezeptorenblocker, tri- und tetrazyklische Antidepressiva sowie Neuroleptika. Mit dem zunehmenden wissenschaftlichen Interesse konnten in den vergangenen Jahren bedeutende Fortschritte bei der Aufklärung der Pathogenese des trockenen Auges erzielt werden (3). Sie beginnt mit einer Instabilität des Tränenfilms, gefolgt von einer Hyperosmolarität, die zur Apoptose und zu chronischen Entzündungen führt. Letztere heizen wiederum die Instabilität des Tränenfilms an. «Das heisst, wir haben einen selbstverstärkenden Zyklus. Unsere Aufgabe ist es, diesen Teufelskreis zu unterbrechen», so Garhöfer. Eine besondere Rolle spielt dabei die chronische Entzündung, die sich klinisch in massiven Rötungen manifestiert, aber auch subklinisch ohne fassbare Zeichen verlaufen kann. Allerdings weisen auch bei Symptomlosigkeit nahezu alle Patienten eine grosse Menge proinflammatorischer Zytokine an der Augenoberfläche auf. Eine solche Entzündung ist deshalb über HLA-DR, Interferon γ, die veränderte Osmolarität oder einen MMP-9-Test nachweisbar.
Vier Behandlungsstufen
Die Behandlung des trockenen Auges wird, je nach Schweregrad, in 4 Stufen eingeteilt. So können bei leichten Beschwerden (Stufe 1) einfache Lebensstil- respektive Umweltveränderungen, wie eine Umgebung mit höherer Luftfeuchtigkeit, vermehrtes Blinzeln oder Diätmodifikationen, schon zu einer Symptomverbesserung führen. Auch die topische Lubrikanzientherapie ist besonders bei milden For-
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men einer der Hauptpfeiler der Therapie. In Stufe 2 stehen verschiedene Heilmittel im Vordergrund. Dazu gehören topische Steroide, nicht kortikoidhaltige Immunmodulatoren, topische LFA-1-Antagonisten und orale Makrolide oder Tetrazykline. Auch verschiedene Formen der Augenbefeuchtung (overnight treatment, Feuchtigkeitsbrillen u. a.) werden empfohlen. Therapien in den Stufen 3 und 4 sind nur wenigen, sehr schwer betroffenen Patienten und Patientinnen vorbehalten. Dazu gehören orale Sekretagoga, Serumtropfen, Langzeitkortikosteroide oder chirurgische Eingriffe.
Hyaluronsäure spielt bei milden bis moderaten Formen eine wichtige Rolle
Für milde bis moderate Formen des trockenen Auges sind Tränenersatzmittel, Zelluloseester (Zellulosederivate sind stark wasserspeichernde Medikamente), Vinylderivate (bei sehr milden Formen) oder Viso-Elastika sehr wichtige Therapien (Tabelle). Zu Letzteren gehört die Hyaluronsäure, die eine «herausragende Rolle» bei der Therapie des trockenen Auges spiele, so Garhöfer. Ihre hervorstechende Eigenschaft ist, neben der guten Verträglichkeit, eine sehr hohe Wasserbindungskapazität. Sie ermöglicht einen lang anhaltenden Tränenfilm auf der Augenoberfläche. Hyaluronsäure ist aber auch eine «nicht newtonsche Flüssigkeit», das heisst, ihre Viskosität ändert sich, wenn eine mechanische Kraft auf sie wirkt. Hyaluronsäure besitzt beim Aufbringen auf das Auge eine hohe Zähigkeit. Sobald das Augenlid jedoch Kraft auf sie ausübt, wird ihre Konsistenz dünnflüssiger. Dies löse ein geringeres Fremdkörpergefühl aus, erklärte Garhöfer: «Durch diese hervorragende Eigenschaft wird Hyaluronsäure vom Auge sehr gut vertragen.» Ist eine Kombination mit pharmakokinetisch aktiven Komponenten geplant (z. B. Antibiotika), sollten diese mit genügend zeitlichem Abstand (ca. 60 Minuten) vor der Hyaluronsäure eingetropft werden.
Ciclosporin A und Kortikosteroide
Reichen topische Lubrikanzien nicht aus, müssen (in Stufe 2) andere Arzneimittel eingesetzt werden. Der Calcineurininhibitor Ciclosporin A wurde 2015 als topisches Präparat für das trockene Auge in Europa zugelassen. Seine Wirkung ist bei postmenopausalen Frauen deutlich ausgeprägter als bei Männern (4). Der Nachteil einer Ciclosporin-A-Behandlung ist der relativ späte Wirkeintritt (> 3 Monate). Aus diesem Grund wird eine Kombination mit Steroiden empfohlen (5). Solche Steroide werden bei einer Vielzahl anderer entzündlicher Augenerkrankungen eingesetzt (z. B. Uveitis, Konjunktivitis u. a.), sind aber mit einer ganzen Reihe von Nebenwirkungen verbunden. So sind die frühzeitige Auslösung eines Katarakts oder eine Zunahme des Intraokulardrucks möglich, weshalb milde Kortikosteroide mit geringer Gewebepenetration bevorzugt werden. Hydrokortison, Medryson oder Loteprenol haben einen geringeren Anstieg des Intraokulardrucks zur Folge. Einen ganz anderen Ansatz verfolgt die T-Zell-vermittelte Behandlungsstrategie. Der seit 2016 in den USA zugelassene Integrinantagonist Lifitegrast verhindert an der Augenoberfläche die Ausschüttung inflammatorischer Zytokine und reduziert dadurch T-Zell-induzierte Entzündungen (6).
Tabelle:
Substanzklassen für die Behandlung des trockenen Auges
Substanzklasse Zelluloseester
Vinylderivate
Viso-Elastika
Beispiele Methylcellulose Carboxymethylcellulose (CMC) Hydroxyethylcellulose (HMC) Hydroxypropylmethylcellulose (HPMC) Polyvinylalkohol (PVA) Polyethylenglycol Propylenglycol Polvidon Hyaluronsäure (HA) Chondroitinsulfat
Wegen mangelnder Effektivität hinsichtlich bestimmter
Symptome ist dieser Wirkstoff in Europa jedoch nicht zu-
gelassen. Der P2Y2-Rezeptor-Agonist Diquafasol besitzt
ein sehr gutes Wirkungsspektrum, indem er die Tränenpro-
duktion erhöht (7). Auch dieses Medikament ist in Europa
noch nicht zugelassen.
s
Klaus Duffner
Quelle: Prof. Gerhard Garhöfer: «Das trockene Auge», Referat am virtuellen Symposium «Therapie von Augenerkrankungen» der Schweizerischen Gesellschaft für Pharmakologie und Toxikologie (SSPT) am 20. Januar 2021.
Referenzen: 1. Paulsen AJ et al.: Dry eye in the beaver dam offspring study: preva-
lence, risk factors, and health-related quality of life. Am J Ophthalmol. 2014;157(4):799-806. 2. Zhang X et al.: Dry Eye Management: Targeting the Ocular Surface Microenvironment. Int J Mol Sci. 2017;18(7):1398. 3. Baudouin C et al.: Revisiting the vicious circle of dry eye disease:a focus on the pathophysiology of meibomiangland dysfunction. Br J Ophthalmol. 2016;100:300-306. 4. Leonardi A et al.: Efficacy and safety of 0.1% ciclosporin A cationic emulsion in dry eye disease: a pooled analysis of two double-masked, randomised, vehicle-controlled phase III clinical studies. Br J Ophthalmol. 2019; 103(1):125-131. 5. Pleyer et a.l: Wenn Tränenersatzmittel nicht mehr ausreichen: die Bedeutung von Entzündungsprozessen beim Trockenen Auge. Praktische Aspekte einer antientzündlichen Therapie des Trockenen Auges. Klin Monbl Augenheilkd. 2020;237(05): 655-668. 6. Tauber J et al.: OPUS-2 Investigators. Lifitegrast Ophthalmic Solution 5.0% versus Placebo for Treatment of Dry Eye Disease: Results of the Randomized Phase III OPUS-2 Study. Ophthalmology. 2015;122(12):24232431. 7. Park DH et al.: Clinical Effects and Safety of 3% Diquafosol Ophthalmic Solution for Patients With Dry Eye After Cataract Surgery: A Randomized Controlled Trial. Am J Ophthalmol. 2016;163:122-131.e2.
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