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STUDIE REFERIERT
Palliativmedizin
Niedrig dosiertes Opioid bei COPD
Niedrig dosiertes, retardiertes Morphin kann die Lebensqualität von COPD-Patienten verbessern. Der Nutzen wird als klein, aber klinisch relevant eingestuft. Eine opioidbedingte Atemdepression ist bei einer maximalen Dosis von täglich 3-mal 10 mg retardiertem Morphin nicht zu befürchten.
JAMA Internal Medicine
In die Studie (1) eingeschlossen wurden COPD-Patienten, die trotz optimaler medikamentöser und nicht medikamentöser Therapie unter Atemnot der Grade 2, 3 oder 4 gemäss dem modifizierten Medical-Research-Council-Fragebogen (mMRC) litten und bereits ein Lungenrehabilitationsprogramm absolviert hatten. Ursprünglich sollten nur COPD-Patienten mit schwerer Atemnot (mMRC-Grad 3 oder 4) in die Studie aufgenommen werden, was jedoch an der mangelnden Rekrutierung scheiterte, sodass auch Patienten mit leichterer Atemnot (mMRC-Grad 2) eingeschlossen wurden. Ausgewertet wurden die Daten von 111 Patienten. Sie waren im Durchschnitt 65 Jahre (± 8 Jahre) alt, etwas mehr als die Hälfte waren männlich. 49 Studienteilnehmer hatten einen mMRC-Grad 3 oder 4 (44%).
Studiendesign
Die Patienten wurden in 2 Gruppen randomisiert. Sie erhielten 2-mal täglich entweder 10 mg retardiertes Morphin oder Plazebo. Die Verabreichung durfte nach 1 bis 2 Wochen auf 3-mal täglich gesteigert werden. Primärer Endpunkt waren die Symptomatik und die Lebensqualität gemäss COPD-Assessment-Test (CAT). Zu Beginn der Studie galt eine Veränderung von 3,8 Punkten im CAT als klinisch relevant. Seit einiger Zeit werden nur noch 2,0 Punkte Veränderung als notwendig erachtet (2), was die Einordnung der Studienergebnisse im Nachhinein verändert hat. Sekundärer Endpunkt war unter anderem der arterielle CO2-Partialdruck (PaCO2) zu Beginn und am Ende der Studie, wobei eine Veränderung um 7,5 mmHg als klinisch relevant definiert
wurde. Weitere sekundäre Endpunkte waren das Ausmass der schwersten Atemnot in den letzten 24 Stunden (numerische Skala von 0 bis 10), der 6-Minuten-Gehtest, die allgemeine Mobilität (Timed-Up-and-Go-Test) und die Pflegeabhängigkeit (Care Dependency Scale). Darüber hinaus wurden neben dem bereits genannten PaCO2 weitere atmungsrelevante Messwerte im Verlauf der Studie erfasst: arterieller Sauerstoffpartialdruck (SaO2), pulsoxymetrische Sauerstoffsättigung (SpO2, an den Untersuchungsterminen sowie Mittelwert und Dauer SpO2 < 90% in der Nacht), Lungenfunktion, Atemfrequenz und pulsoxymetrischer PaCO2. Die Studiendauer betrug 4 Wochen. Die Patienten wurden zu Beginn und am Ende an einem Lungenzentrum untersucht, dazwischen wurden sie 2-mal zu Hause besucht und 2-mal telefonisch kontaktiert. mMRC- und CAT-Score mMRC-Score Mithilfe des modifizierten Medical-Research-Council-Fragebogens (mMRC) wird die subjektiv empfundene Atemnot von COPD-Patienten gemessen. So bedeutet mMRC-Grad 2 beispielsweise, dass in der Ebene nur ein langsameres Gehen als altersüblich möglich ist oder dass der Patient immer wieder wegen Atemnot stehen bleiben muss. Bei mMRC-Grad 3 tritt die Atemnot spätestens nach 100 Metern Gehstrecke oder bereits nach wenigen Minuten auf, bei mMRC-Grad 4 kann der Patient das Haus wegen seiner Atemnot nicht mehr verlassen, und er gerät beispielsweise bereits beim An- und Ausziehen ausser Atem. CAT-Score Im COPD-Assessment-Test (CAT) geht es um die Einstufung des Schweregrads einer COPD und um das Mass der Beeinträchtigung der Lebensqualität. Es werden 8 Parameter abgefragt. Je höher die insgesamt erreichte Punktzahl ist (0 bis 40), umso ausgeprägter sind die Symptome und umso stärker ist die Lebensqualität beeinträchtigt (www.catestonline.org). Als klinisch relevante Veränderung im CAT-Score galt bis 2014 eine Veränderung von mindestens 3,8 Punkten. 2014 wurde ein Grenzwert von nur noch 2,0 Punkten Veränderung als klinisch relevant definiert (2). Klinisch relevante Wirkung? Beim primären Endpunkt, dem CATScore, bestand ein statistisch signifikanter Unterschied von durchschnittlich 2,18 Punkten zugunsten der Morphingruppe (95%-Konfidenzintervall [KI]: –4,14 bis –0,22 Punkte; p = 0,03). Betrachtete man die 8 CAT-Bereiche separat, zeigte sich ein statistisch signifikanter Unterschied nur beim Treppensteigen oder Bergaufgehen (–0,43 Punkte; 95%-KI: –0,80 bis –0,07 Punkte; p = 0,02). Bei den sekundären Endpunkten fand sich kein statistisch signifikanter Unterschied zwischen der Morphin- und der Plazebogruppe. Ausnahmen waren der PaCO2 und das Ausmass schwerer Atemnot in den letzten 24 Stunden. Der PaCO2 war in der Morphingruppe nach 4 Wochen im Durchschnitt 1,19 mmHg 310 ARS MEDICI 10 | 2021 STUDIE REFERIERT höher, was aber klinisch nicht relevant ist, weil der entsprechende Grenzwert 7,5 mmHg beträgt. Von Patienten in fortgeschrittenen COPD-Stadien (mMRC-Grad 3 bis 4) wurde das Aus- mass der schwersten Atemnot in den letzten 24 Stunden mit Morphin etwas geringer angegeben als mit Plazebo (–1,33 Punkte; 95%-KI: –2,50 bis –0,16 Punkte; p = 0,03). Bei der Atem- not im Allgemeinen waren hingegen keine Unterschiede zwischen der Mor- phin- und der Plazebogruppe feststell- bar, auch nicht bei den Patienten mit mMRC-Grad 3 bis 4. Keine Atemdepression Keiner der Patienten entwickelte eine Atemdepression. Nebenwirkungen wie Übelkeit, Erbrechen, Benommenheit, Obstipation und Schlaflosigkeit traten gleichermassen in der Morphin- und in der Plazebogruppe auf. 5 Patienten in der Morphin- und 2 Patienten in der Plazebogruppe brachen die Studie wegen Nebenwirkungen ab. Relevanz für die Praxis Die nur geringen Unterschiede zwischen der Morphin- und der Plazebogruppe führen Dr. Daisy J. A. Janssen und ihr Team vom Lungenzentrum Ciro, Horn, und von der Universität Maastricht, Niederlande, darauf zu- rück, dass auch COPD-Patienten mit mMRC-Grad 2 in die Studie eingeschlossen wurden. Trotzdem zeige ihre Studie, dass niedrig dosiertes, retardiertes Morphin die COPD-assoziierte Symptomatik und die Beeinträchtigung der Lebensqualität vermindern könne, ohne die Atmung zu gefährden und ohne schwerwiegende Nebenwirkungen zu verursachen. Damit werde die Rolle von niedrig dosiertem, retardiertem Morphin in der palliativen Behandlung von Patienten mit chronischer Atemnot bestätigt. Die Studie beweise vor allem aber auch, dass die Angst vor einer Atemdepression oder anderen respiratorischen Nebenwirkungen unbegründet sei: «Niedrig dosiertes Morphin scheint sogar für Patienten mit mittelschwerer bis schwerer COPD sicher zu sein.» In einem Kommentar (3) rät der Geriater und Palliativmediziner Prof. Eric Widera, University of California, San Francisco, zur Vorsicht bei der Interpretation der Daten, weil die klinische Relevanz der Unterschiede im CAT nur dem nachträglichen Absenken der Grenzwerte zu verdanken sei. Das spreche für einen eher geringen Nutzen von Opioiden bezüglich der Symptomatik und der Lebensqualität in der untersuchten Patientenpopulation, die zu mehr als der Hälfte aus Patienten mit einer minderschweren COPD (mMRC- Grad 2) bestand. Widera rät von Opioi- den für COPD-Patienten nicht ab, aber er betont, dass zuerst alle anderen Op- tionen, darunter auch Rehabilitations- massnahmen, ausgeschöpft werden soll- ten. Erst wenn das alles nichts bringe, könne man COPD-Patienten mit mMRC-Grad 3 bis 4 niedrig dosierte Opioide geben, damit diese von einem «kleinen, aber klinisch wichtigen Nut- zen» profitierten. RBO s Literatur: 1. Verberkt CA et al.: Effect of sustained-release morphine for refractory breathlessness in chronic obstructive pulmonary disease on health status. A randomized clinical trial. JAMA Intern Med 2020; 180(10): 1306–1314. 2. Kon SCS et al.: Minimum clinically important difference for the COPD Assessment Test: a prospective analysis. Lancet Respir Med 2014; 2: 195–203. 3. Widera EW: The role of opioids in patients with chronic obstructive pulmonary disease and chronic breathlessness. JAMA Intern Med 2020; 180(10): 1315–1316. Interessenlage: Die Studie (1) wurde von der Netherlands Organization for Health Research and Development finanziell unterstützt. Einer der Autoren deklariert Honorare (für andere Projekte, nicht für die Studie) von Boehringer Ingelheim, Novartis und AstraZeneca; die anderen Autoren deklarieren keine potenziellen Interessenkonflikte. Der Autor des Kommentars (3) deklariert ebenfalls keine Interessenkonflikte. ARS MEDICI 10 | 2021 311