Transkript
1 • 2021
Editorial
Der Bäcker, seine Mutter, das BAG und … viel Gelassenheit
Liebe Frau Kollegin, lieber Herr Kollege
Die Mutter des Bäckers sah das Jahr 20/21 nicht so dramatisch wie ihr Sohn, der sich aufregte, dass man von ihm verlangte, seine Mitarbeiter vor dem Gang zur Arbeit auf Corona testen zu lassen. Arbeitsbeginn seiner Mitarbeiter sei um drei Uhr morgens, die Verkäuferin stehe um fünf Uhr früh im Laden, um gegen halb sechs die ersten Kunden zu bedienen. Wo sich seine Leute denn testen lassen sollten, mitten in der Nacht, fragte er. Aber das sei ja nur eines von tausend Beispielen, die zeigten, mit wie wenig Ahnung vom realen Leben die Behörden und Politiker ihre Verordnungen und Erlasse ausarbeiteten. Recht hat er, der übrigens in Deutschland beheimatet ist, wo die Bürokratie, so scheint es, noch einen Tick absurder waltet als in der Schweiz. (Wobei, das kann täuschen.)
Der Bäcker enervierte sich allerdings mit einem Schmunzeln. Seine genuin gute Laune liess er sich weder durch Corona noch Behörden vermiesen. Solche Stärke (sagt man dem heute nicht Resilienz?) verdankt er vermutlich seiner Mutter. Die hatte ihm Geduld und Gelassenheit vererbt und ihn mit dem Hinweis in den Senkel gestellt, sie hätten (als Familie) den Ersten und den Zweiten Weltkrieg überlebt, da werde er wohl noch die Coronakrise überstehen. Jede Generation habe halt so ihre Herausforderungen. Der Kampf gegen Sars-CoV-2 sei mitnichten zu vergleichen mit dem, was in den Weltkriegen geschehen sei. Überhaupt, was er denn schon erlebt habe, mit seinen gerade mal gut sechzig Jahren. Die Flutkatastrophe in Holland und die Suezkrise kenne er doch nur vom Hörensagen, genau wie den Volksaufstand der Ungarn, zur Zeit der Kubakrise sei er vermutlich im Kindergarten gewesen, an den Prager Frühling werde er sich vielleicht grad noch knapp erinnern, ebenso an die Unruhen der 68-er in Paris. Ob er denn überhaupt noch wisse, was die Ölkrise gewesen sei oder die Kulturrevolution in China, ob er den Vietnamkrieg noch präsent habe. Das Schlimmste, das ihm zugestossen sei, seien doch irgendwelche luxuriösen Börsencrashs und die Finanzkrise, ja gut, der Balkankrieg, aber sonst?
Des Bäckers Mutter hat natürlich Recht. Die Generationen der nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen kamen so unbehelligt wie selten eine Generation vor ihnen durchs Leben. Die Coronakrise ist für einige das erste wenigstens halbwegs existenzielle Problem.
Beim weiteren Sinnieren und Diskutieren mit dem Bäckermeister landeten er und der Schweizer Mediziner rasch beim Allerweltsurteil, alles sei relativ. Natürlich seien Weltkrieg und Corona nicht zu vergleichen, obschon in den letzten Monaten Millionen Menschen zum Teil ziemlich übel verräbelt seien. Aber heute entwickle die Pharmaindustrie innert eines Jahres einen wirksamen Impfstoff, der Staat unterstütze fast alle, die in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten, es stünden Intensivbetten, Beatmungsgeräte, und noch mehr psychologische und soziale Betreuer zur Verfügung, das wirtschaftliche Leben gehe «remote» fast unverändert weiter, lediglich die sozialen Kontakte seien eingeschränkt, wobei das auch nicht alle als Belastung, einige sogar als Segen empfänden.
Warum, so fragte «Der mit den Brötchen» den doch so gerne motzenden Mediziner, wollt ihr euch ärgern über einen Bundesrat oder ein Bundesamt, das – möge die Meldung nicht stimmen, es wäre zu peinlich! – das Angebot, im Wallis eine separate Impfstoff-Produktion aufzubauen und die Schweizer Bevölkerung prioritär davon profitieren zu lassen, ausgeschlagen hat. Über Taskforcler, die Masken für Unsinn erklärt hatten und Exponentialkurven mit Misstrauen oder Unglauben betrachteten. Über zu späte Entscheide und zu wenig Tests. Es gehe uns (in der Schweiz) am Ende doch nicht so schlecht wie andern. Und auch wenn der Aufwand fürs Impfen in der Praxis die Entschädigung überstiege, es sei doch – wo er recht hat, hat er recht – alles relativ.
Am Ende bewirkten die Gene der Mutter des Bäckers, dass sogar der Schweizer Mediziner sich ein Schmunzeln nicht verkneifen konnte und leise zusagte, sich die Laune wegen einiger Dutzend inkompetenter Beamter in der Bundesverwaltung nicht verderben zu lassen. Mal schauen, wie lange solche Gelassenheit anhält.
Richard Altorfer
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