Transkript
arsenicum
D ie chronischen Schmerzpatienten. Geissel der Hausarztmedizin, der Sozialversicherungen, der Gesellschaft. Jammernd, klagend bis anklagend verderben sie ihrem Umfeld die Lebensfreude, dem Hausarzt seine Berufsfreude und den MPA den Zeitplan, den Sozialversicherern das Budget. Und niemand kann sie heilen. Doch sie haben auch ihren Nutzen. Sie kurbeln die Pharmawirtschaft und die Medienindustrie an, schaffen Arbeitsplätze, faszinieren Unterassistenten im Spital. Die Pharmaindustrie stürzt sich auf die diversen Organleiden, für die schöne neue Namen geschaffen werden, wie Fibromyalgie, Chronic Fatigue Syndrome, IBS, nicht kardiale Herzbeschwerden und so weiter. Die Psychiatrie nennt es mal «larvierte Depression», mal «psychosomatisches Leiden», mal schweigt sie nur zu diesem biopsychosozialen Zustand oder kommentiert «ähä, öhöm, hmhm», wie es sonst nur die Psychoanalytiker tun. Mit neuen Medikamenten, deren Entwicklung Milliarden verschlingt, wird versucht, den Patienten Heilung und der Industrie Gewinn zu bringen. Letzteres gelingt nicht selten. Auf Kongressen, in Hochglanz-Foldern werden Studien zitiert. Testimonials von begeisterten Geheilten und international bekannten Koryphäen verbreiten Hoffnung. Bis die Nebenwirkungen des neuen Medikaments gegen das Leiden sich als so gravierend herausstellen, dass die Substanz vom Markt genommen werden muss. Der Therapieerfolg scheint nicht statistisch signifikant zu sein: Die Patienten sitzen in gleicher Menge gleich jammernd in meinem Wartezimmer. Sie jammern dann noch mehr, wenn das einzige Medikament, das ihnen angeblich geholfen habe, nicht mehr erhältlich ist. Eine Vielzahl von Betreuern verdient an der erfolglosen Betreuung. Die Sozialversicherer malen düstere Bankrottszenarions. Angehörige verzweifeln, halten den ständig Klagenden nicht mehr aus. Man ist sich einig: Der Hausarzt soll es richten. Seitdem mir Benedikt, ein Assistenzarzt in der Psychiatrie, sein Behandlungskonzept verraten hat, schöpfe ich wieder Hoffnung. Bis jetzt
habe ich die Patienten regelmässig einbestellt, liess sie ein wenig jammern, während ich dazu empathisch grunzte, habe sie abgehorcht und perkutiert – meist ohne klinische Indikation, nur als Streicheleinheit – und habe gelegentlich somatische Abklärungen vorgenommen, wenn dies indiziert war. Gleichzeitig habe ich versucht, iatrogene Diagnostik- und Therapieschäden zu verhindern. Aber erfolgreich war ich nicht. Benedikt erklärt den Patienten, dass ihr Schmerz einem gefährlichen Hund gleicht, mit dem sie leben müssen und vor dem man keine Angst haben dürfe, sonst sei man nicht mehr der Herr im Haus. Der Patient darf daher keine Angst vor dem Schmerz haben, er soll den Schmerz kontrollieren, weil sonst der Schmerz überhandnimmt. Dazu erklärt ihm Benedikt, dass der Schmerz auf Unglückshormone im Körper zurückzuführen ist, die noch erforscht werden. Dass er unangenehm bis quälend ist, aber dass er den Menschen nicht umbringt, weil körperlich ja alles okay ist und der Hausarzt darüber wacht, dass das auch so bleibt. Der Schmerz – genau wie der Hund – braucht viel Bewegung und Sport, dann ist er besser erträglich. Der Schmerz muss streng, aber auch gut behandelt werden, genau wie ein Hund. «Tun Sie sich etwas Gutes!», sagt Benedikt seinen Patienten. «Schauen Sie zu sich, machen Sie Sachen, die Sie gerne tun.» Die Strategie geht auf. Meine Patienten sind erleichtert, verstehen das Bild, handeln danach, lernen «Kusch!» zum Schmerz zu sagen. Und es wirkt auch auf mich. Seither komme ich besser mit den Schmerzpatienten zurecht: Leute, die mit einem gefährlichen, potenziell zubeissenden Hund leben, vor dem sie Angst haben, den sie nicht in den Griff kriegen. Aber sie brauchen diesen Hund, denn er ist ja das Einzige, was sie noch haben, der Einzige, der ihnen treu ist, das Einzige, das ihnen Status verleiht. Und deshalb müssen wir alle schauen, dass sie den Schmerzhund behalten können, ohne dass dieser sie und uns alle zu stark angreift …
Benedikts Schmerzhund
934 ARS MEDICI 23 ■ 2010