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Schwerpunkt
Alles nur halb so schlimm?
Eine Maserninfektion ist keineswegs harmlos
In der Diskussion über den Nutzen der Masernimpfung – also Schutz vor der Maserninfektion und der damit verbundenen Komplikationen – und deren Risiken wegen unerwünschter Wirkungen der Impfung wird unter anderem behauptet, dass die Komplikationen nach der Masernimpfung genauso häufig seien wie nach der Wildinfektion. Das ist nicht der Fall, wie die aktuellen Daten zeigen.
Von Markus Knuf
Das Spektrum der Diskussion über die Bedeutung der Maserninfektion reicht von der Negierung der Existenz von Viren über die Reduktion der Erkrankung auf harmlose respiratorische Symptome bis zu einer vermeintlichen Überhöhung als «die todbringende Infektionskrankheit» schlechthin. Auch wenn sich weltanschaulich-ideologische Haltungen nicht durch Daten beeinflussen lassen, ist dennoch die wissenschaftliche Diskussion immer geeignet, Ordnung in die oben genannte Kette von Wahrnehmungen zu bringen.
Zu den Fakten
Zur Häufigkeit der Masern in Deutschland macht das Robert-Koch-Institut (RKI) folgende Angaben (1): Maserninfektionen treten zyklisch und unterschiedlich häufig auf. Jahren mit vergleichsweise vielen Fällen folgen sol-
Tabelle 1:
Fallzahlen und Inzidenzen pro 100 000 Einwohner
Jahr
Fallzahl
Inzidenz/100 000 Einwohner
Schweiz
Deutschland
Schweiz
Deutschland
2011 678 1608 8,48 1,97
2012 65 165 0,8 0,2
2013 176 1768 2,15 2,16
2014 22 442 0,27 0,54
2015 36 2465 0,42 3,01
2016 65 325 0,77 0,4
2017 104 292 1,22 1,14
2018 48 543 0,56 0,66
2019 221 514 2,56 0,62
2020 35 nv 0,4 nv
Robert-Koch-Institut, Deutschland, und Bundesamt für Gesundheit, Schweiz nv: Daten stehen noch nicht zur Verfügung (Stand: 26.1.2021).
che mit wenigen. Ähnlich sieht es in der Schweiz aus (2). Tabelle 1 fasst die Fallzahlen und Inzidenzen je 100 000 Einwohner und Jahr von 2001 bis 2018 in Deutschland und in der Schweiz zusammen. Interessant ist, dass es erhebliche regionale Unterschiede gibt, sowohl in Deutschland (1) als auch in der Schweiz (3). Bemerkenswert ist, dass 2019 in Deutschland 37 Prozent und 2018 sogar nahezu 50 Prozent der Säuglinge, Kleinkinder und Erwachsenen mit Masern hospitalisiert werden mussten (1), woraus sich schliessen lässt, dass der Verlauf keineswegs trivial war (Abbildung).
Symptome und Komplikationen
Masern beginnen mit einem Prodromalstadium über 2 bis 4 Tage mit Fieber, Husten und Konjunktivitis (klassische Trias). Dann erscheint ein makulopapulöses Exanthem, meist im Gesicht und am Kopf beginnend mit Fortsetzung nach distal, welches sich nach durchschnittlich 7 Tagen wieder vollständig zurückbildet. Bei etwa 70 Prozent der Patienten treten bukkal sogenannte Koplik’sche Flecken auf, meist 1 bis 2 Tage vor Ausbruch des Exanthems. Weitere Symptome und Komplikationen sind in Tabelle 2 aufgeführt (4). Das Risiko für Infektionssymptome und -komplikationen wird dem Risiko nach der Impfung gegenübergestellt. Bei Immunsupprimierten oder bei zellulären Immundefekten verläuft die Maserninfektion zwar mild – das Masernexanthem tritt nicht oder nur abgeschwächt auf –, dagegen können sich als schwere Organkomplikationen eine progrediente Riesenzellpneumonie oder die Masern-Einschlusskörper-Enzephalitis (MIBE) entwickeln, die mit einer Letalität von etwa 30 Prozent einhergehen (5). Oft nicht im Blickpunkt ist die immunsupprimierende Wirkung des Masernvirus, die Monate und bis zu 3 Jahre lang anhalten kann (6). Mittels Analyse von Gewebeproben (7) an Masern erkrankter Personen konnten unterschiedliche Mechanismen der Ausbreitung von Viruszellen zu Zellen innerhalb des lymphoiden Epithels und Nervengewebes während
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Tabelle 2:
Vergleich von assoziierten Komplikationsrisiken bei Maserninfektion und Masernimpfung
Komplikationen oder schwere Nebenwirkungen (SAE) Otitis media Diarrhö Pneumonie Subakut-sklerosierende Panenzephalitis (SSPE) SSPE, wenn Masern < 5 Jahre Enzephalitis Tod Tod in nicht industrialisierten Ländern Fieberkrämpfe ITP Anaphylaxie Risiko nach Wildinfektion 7–9/100 8/100 1–6/100 4–11/100 000 20–60/100 000 0,5–1/1000 1/1000 1–15/100 keine Daten keine Daten 0 nach (4, 5) ITP: Immunthrombozytopenie; SAE: serious adverse event Risiko nach Impfung 0 0 0 0 0 < 1/1 000 000 0 0 1/300 1/30 000 2–14/1 000 000 Anzahl Fälle 80 hospitalisiert ambulant 60 40 20 <1 1-4 5-9 10-14 15-19 20-24 25-29 30-39 40-49 50-59 60-69 ≥ 70 Alter in Jahren Abbildung: Anzahl der übermittelten Masernfälle nach Altersgruppe sowie Anzahl der hiervon hospi talisierten Fälle für das Jahr 2019 in Deutschland (nach [1]). akuter und langfristig persistierender Infektionen identifiziert werden. Zusammenfassend scheinen zwei verschiedene Mechanismen über zelluläre Rezeptoren (CD150 und PVRL4) in vivo die Virusausbreitung und daraus resultierende pathologische Läsionen zu steuern (7). Die Autoren einer hochrangig publizierten epidemiologischen Studie (6) stellen fest, dass die Sterblichkeit bei Infektionskrankheiten ohne Massnahmen in Ländern mit hohem Einkommen eng an die Maserninzidenz gekoppelt ist. Sie schlussfolgern, dass langfristige immunologische Folgen («Suppression») der Maserninfektion mit Todesfällen durch andere Infektionskrankheiten zusammenhängen (6). Weitere, eher seltene Komplikationen der Maserninfektion wurden im «British Medical Journal» publiziert. Es handelte sich dabei um eine Fallserie von an Masern erkrankten Erwachsenen (8). Bei einem 29 Jahre alten Mann in Malta fielen eine deutliche Lymphozytopenie sowie erhöhte Leberwerte auf. Die Masernerkrankung wurde durch eine Hepatitis kompliziert. Die Behandlung zog sich über 3 Wochen hin. Der Patient konnte ohne Folgen entlassen werden. Im zweiten Fallbericht ging es um eine 18-jährige britische Frau, die während eines Urlaubs in Malta an Masern erkrankte. Die Masern wurden durch eine Appendizitis kompliziert. Die Patientin wurde antibiotisch behandelt. Ihre Beschwerden heilten nach etwa 2 Wochen aus. Bei dem dritten Fall (42 Jahre, männlich) fielen Symptome wie Kopfschmerzen, Phonound Photophobie sowie Übelkeit, Erbrechen, Halluzinationen, Benommenheit und Aggressionen auf. Der Patient hatte darüber hinaus an den Augen bilaterale Läsionen, welche mit dexamethasonhaltigen Augentropfen behandelt wurden. Auch dieser Patient konnte nach 2 Wochen ohne grössere Komplikationen entlassen werden. Die Autoren dieser kleinen Fallserie schlussfolgern aus ihren Untersuchungen, dass das klinische Spektrum der Masern weit über respiratorische Symptome hinausgeht und auch seltene Komplikationen vorkommen können, nach denen auch mit geeigneten Methoden gefahndet werden sollte. Fazit Masern stellen weltweit ein bedeutsames Infektionsproblem dar. Nahezu 50 Prozent der Erkrankten in Deutschland mussten 2018 hospitalisiert werden. Insbesondere die maserninduzierte Immunsuppression kann langfristige Folgen haben, auch im Hinblick auf die Kompetenz, mit anderen Infektionskrankheiten umzugehen. Komplikationen sind relativ häufig und (in Deutschland und in der Schweiz) selten auch folgenschwer bis hin zum Tod – primär im Rahmen der Maserninfektion oder sekundär durch die hierdurch vermittelte Immunsuppression. Es wird deutlich, dass die Maserninfektion keineswegs harmlos ist. Die Risiken der Maserninfektion gegenüber den Risiken nach der Impfung überwiegen insgesamt bei Weitem. Ob diese Daten eine verpflichtende Impfung rechtfertigen, steht allerdings auf einem anderen Blatt. Korrespondenzadresse: Univ.-Prof. Dr. med. Markus Knuf Direktor der Klinik für Kinder und Jugendliche HELIOS Dr. Horst Schmidt Kliniken Ludwig-Erhard-Strasse 100 D-65199 Wiesbaden E-Mail: markus.knuf@helios-gesundheit.de Interessenlage: Der Autor gibt an, dass er Aufgaben bei Impfstudien und Beratertätigkeit bei Firmen und Präsentationen während Industriesymposien übernimmt. Diese Tätigkeiten nimmt er als Dienstaufgabe wahr, er erhält persönlich keine Honorare von Firmen. Es besteht diesbezüglich auch keine Zielvereinbarung mit dem Dienstherrn. Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift «Kinderärztliche Praxis». Der Zweitdruck erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Autor und Kirchheim-Verlag. Der Artikel wurde von der Redaktion der Zeitschrift PÄDIATRIE mit Angaben zu Masern in der Schweiz ergänzt. 6 Pädiatrie 1/21 Literatur: 1. https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/Impfen/Praevention/ elimination_04_01.html; Stand: 1.3.2020; abgerufen am 26.1.2021. 2. Angaben des BAG Schweiz; www.bad.admin.ch; abgerufen am 26.1.2021. 3. Richard JL et al.: Approaching measles elimination in Switzerland: changing epidemiology 2007–2018. Swiss Med Wkly. 2019; 149: w20102. 4. Strebel PM, Orenstein WA: Measles. N Engl J Med. 2019; 381: 349–357. 5. https://www.rki.de/DE/Content/Infekt/EpidBull/Merkblaetter/ Ratgeber_Masern.html#doc2374536bodyText8 6. Mina MJ et al.: Long-term measles-induced immunomodulation increases overall childhood infectious disease mortality. Science. 2015; 348: 694–699. 7. Ludlow M et al.: Pathological consequences of systemic measles virus infection. J Pathol. 2015; 235: 253–265. 8. Xerri T et al.: Complications of measles: a case series. BMJ Case Reports CP. 2020; 13: e232408. Schwerpunkt 1/21 Pädiatrie 7