Transkript
SCHWERPUNKT
Ärztliche Betreuungsaufgaben in «Corona-Zeiten»
Eine spezielle Herausforderung in Gynäkologie und Geburtshilfe
Die Auswirkungen der Corona-Pandemie sind allgegenwärtig und machen sich im Privatleben und im Berufsalltag bemerkbar. Bei der Betreuung unserer Patientinnen sind wir mit neuen Herausforderungen konfrontiert. Wir müssen eine adäquate medizinische Versorgung gewährleisten, begegnen aber auch Ängsten, Verunsicherung und Überforderung – nicht nur seitens unserer Patientinnen, sondern auch innerhalb des Teams, in dem wir arbeiten.
SIBIL TSCHUDIN
Sibil Tschudin
Wir alle leben und arbeiten seit nun bald einem Jahr in einer besonderen Zeit, und viele Fragen stellen sich im Kontext der aktuellen Pandemie neu – so auch diejenige von Nähe und Distanz im Arbeitsalltag wie auch im Privatleben. Wir sind mit den Ängsten unserer Patientinnen und ihren Angehörigen konfrontiert, vielleicht aber auch mit der eigenen Verunsicherung. Zwar hören und lesen wir tagtäglich von Corona, sind uns aber gleichzeitig bewusst, dass viele Fragen noch unbeantwortet sind. Dennoch mussten wir alle umgehend unsere Klinik- respektive Praxistätigkeit den Anforderungen entsprechend anpassen und sind auch noch aufgefordert, laufend die gerade aktuellen Empfehlungen zu integrieren.
Unsere Herausforderungen als Frauenärzt/Innen in der aktuellen Situation
Die Konfrontation mit COVID-19 stellt in verschiedener Hinsicht eine Herausforderung dar: n Fachlich geht es um die Gewährleistung und die
Aufrechterhaltung einer adäquaten medizinischen Betreuung in allen Bereichen der reproduktiven Gesundheit, einem Gebiet, für das wir als Frauenärzt/Innen in erster Linie zuständig sind.
Merkpunkte
n Schwangere sind bezüglich einer COVID-19-Infektion als Risikogruppe einzustufen. n Hinweise liegen vor, dass die Corona-Pandemie Auswirkungen auf die Zugänglichkeit
von Verhütung und Schwangerschaftsabbruch hat und das Risiko für häusliche Gewalt und die peripartale Entwicklung psychischer Erkrankungen erhöht. n Die Corona-Pandemie bietet Gelegenheit, Vorgehensweisen und Konzepte zu überdenken und den Nutzen und die Vorzüge von Onlinekommunikationsmöglichkeiten kennen und schätzen zu lernen. n Die Belastung des Medizinalpersonals ist beträchtlich, und der Situation angepasste niederschwellige Unterstützungsangebote sind wichtig für die Burn-out-Prävention.
n In kommunikativ-interaktiver Weise sind wir gefordert, wenn es darum geht, der Zurückhaltung der Bevölkerung und eventuell auch unserer Patientinnen gegenüber notwendigen Arztbesuchen zu begegnen und umgekehrt zu vermitteln, dass gewisse Restriktionen zum Wohle aller notwendig sind.
n Nicht zuletzt sind wir auch angesichts der nun schon lange Zeit andauernden, permanent angespannten Situation und bedeutsamen Belastung im professionellen wie auch privaten Bereich aufgefordert, uns selbst wie auch anderen gegenüber achtsam zu sein und für gegenseitige Unterstützung zu sorgen.
Dieser Beitrag soll alle drei genannten Aspekte beleuchten, wobei das Gewicht auf den emotionalen und interaktiven Auswirkungen und Anforderungen liegen soll. Zudem werden nicht nur Möglichkeiten, wie mit Einschränkungen umgegangen werden kann, aufgezeigt, der Blick soll auch auf positive Auswirkungen, die die Pandemieerfahrung mit sich bringt, gerichtet sein.
Aufrechterhaltung der adäquaten Betreuung
In den vergangenen Monaten ist eine Vielzahl von Studien, Reviews und Empfehlungen im Zusammenhang mit den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die reproduktive Gesundheit von Frauen publiziert worden. Schwangere werden mittlerweile klar als Risikogruppe eingestuft. Im August hat die Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (SGGG) einen Katalog mit Empfehlungen zum Schutz und zur Behandlung von Schwangeren, Gebärenden, Wöchnerinnen und Neugeborenen herausgegeben (1). Darüber hinaus wurde aber auch wiederholt auf andere Problemfelder im Kontext der Reproduktion
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hingewiesen (2). So werden Auswirkungen auf die zeitgerechte Einleitung und Weiterführung kontrazeptiver Massnahmen genannt. Es stellen sich Fragen betreffend Familienplanung, insbesondere auch bei einem bestehenden Fertilitätsproblem, bei dem sich ein zeitlicher Aufschub negativ auswirken kann (3). Unerwünschte Schwangerschaften können infolge eingeschränkten Zugangs zur Verhütung vermehrt auftreten, und der unverzügliche Zugang Betroffener zu Beratung wie auch zur Durchführung eines Abbruchs könnte beeinträchtigt sein (4). Grundsätzlich sollte das in der Schweiz nicht der Fall sein – auch seitens der SGGG wurde deklariert, dass der ungehinderte Zugang unbedingt zu gewährleisten ist; aber organisatorische Hürden oder Vorbehalte gegenüber Arztbesuchen aus Angst vor Ansteckung seitens der Betroffenen können gleichwohl zu Verzögerungen führen. Gleichzeitig kam es mit dem Ziel, die Anzahl Konsultationen möglichst gering zu halten, teilweise auch zu Konzeptanpassungen. Beim medikamentösen Schwangerschaftsabbruch reduzierten einzelne Kliniken oder Praxen die Anzahl Konsultationen oder/und dehnten das Angebot auf 63 statt 49 Tage nach der letzten Periode aus (5). Gemäss zahlreichen Publikationen gibt es Anhaltspunkte dafür, dass es während der Pandemie zu einer Zunahme bei den Fällen von häuslicher und sexueller Gewalt gekommen ist (6). Eine mögliche Erklärung ist der zusätzliche psychosoziale Stress, den der Lockdown, die Quarantäne und die Isolation verursachen, sind berufliche und finanzielle Sorgen bei gleichzeitig fehlendem Freizeitausgleich beispielsweise durch Sport. Probleme beim Homeschooling der Kinder sowie bei der Kinderbetreuung sind weitere Stressfaktoren. Nicht nur Frauen, die Gewalt in der Partnerschaft ausgesetzt sind, sondern auch Schwangere, vor allem solche mit glücklosem Schwangerschaftsausgang, aber auch Wöchnerinnen haben unter Pandemiebedingungen ein besonders hohes Risiko, psychische Probleme, allen voran depressive und Angststörungen, zu entwickeln (6). Soziale Unterstützung hat in präventiver und therapeutischer Hinsicht eine Schlüsselrolle (6). Unter den aktuellen Bedingungen mit den eingeschränkten Möglichkeiten für physische Begegnungen ist es entscheidend, die heute zur Verfügung stehenden Onlineangebote einzusetzen und vielseitig zu nutzen (7).
Umgang mit Restriktionen
In erster Linie in der Geburtshilfe, aber auch in der Gynäkologie sind der Einbezug und die Anwesenheit des Partners gewünscht und zum Teil auch unbedingt erforderlich. Dass Partner und Angehörige nun plötzlich nicht mehr beim Schwangerschaftsultraschall dabei sein können, kann Bedauern und zum
Teil auch Unmut auslösen. Das ist verständlich, denn bei einer Schwangerschaft handelt es sich für ein Paar möglicherweise um etwas Einmaliges, auf jeden Fall aber um etwas Einzigartiges. Es ist naheliegend, dass die persönlichen Bedürfnisse dabei primär einen höheren Stellenwert haben als die Rücksichtnahme auf das Allgemeinwohl oder das Anliegen des Medizinalpersonals, auch den eigenen Schutz gewährleistet zu wissen. Eingangskontrollen können als Schikane und freiheitliche Einschränkung erlebt und nicht unbedingt in erster Linie als Schutzmassnahme zugunsten aller verstanden werden. Mit dem Besucherstopp auf der geburtshilflichen Abteilung hat der erweiterte Familienkreis nicht mehr die Möglichkeit, das neue Familienmitglied bereits in den ersten Tagen nach der Geburt in die Arme zu nehmen. Dafür ist eine für die Mutter und das Neugeborene wohltuende Ruhe auf den Mutter-Kind-Stationen eingekehrt, was sich positiv auf das Bonding und das Stillen auswirkt. Lockdown und Homeoffice boten auch Gelegenheit, Erfahrungen mit Kontakten zu Patientinnen per Video zu sammeln. In meinem Team hatten wir den Eindruck, dass das bei bereits bekannten Patientinnen in der Regel gut verlief und dass onkologische Patientinnen diese Möglichkeit zum Teil explizit begrüssten.
Belastungen beim medizinischen Personal und Unterstützungsangebote
Shanafelt und Kollegen publizierten im JAMA die Resultate einer Befragung von Medizinalpersonen (8). Diese hatten Gelegenheit, in Gesprächsgruppen zu folgenden drei Punkten Stellung zu nehmen: n worüber sie am meisten in Sorge sind n welche Informationen und Verhaltensweisen sie
von ihren Vorgesetzten erwarten n welche zusätzlichen Unterstützungsangebote sie
als am hilfreichsten erachten würden. Acht Gründe für Besorgnis kristallisierten sich dabei heraus: (1) Zugang zu Schutzmaterial (2) COVID-19 bei der Arbeit ausgesetzt zu sein und
die Infektion nach Hause zu tragen (3) bei Symptomen keinen umgehenden Zugang zu
einem Test zu haben und Angst, andere am Arbeitsplatz anzustecken (4) Sorge, dass der Arbeitgeber die persönlichen Bedürfnisse im Falle einer Erkrankung nicht berücksichtigt (5) Zugang zu ausreichender Kinderbetreuung bei verlängerten Arbeitszeiten oder Schulschliessung (6) Unterstützung bei zusätzlichen familiären Bedürfnissen, die sich bei Arbeitszeitverlängerung ergeben (7) ausreichende Kompetenz zu haben bei Versetzung in andere Einsatzbereiche (8) Mangel an Zugang zu aktuellen Informationen und Kommunikation.
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Die Befragten formulierten darüber hinaus fünf Anliegen an ihre Vorgesetzten, deren Kurzformel lautet: Hear me, protect me, prepare me, support me, care for me. Dass die Vorgesetzten dafür sorgen, dass diese Anliegen berücksichtigt werden, ist unter den aktuellen Bedingungen umso wichtiger, weil viele Gelegenheiten für einen informellen Austausch im Arbeitsalltag nicht mehr gegeben sind und auch alle sozialen Events, die der Teambildung dienen (z. B. das Weihnachtsessen oder ein Skitag), ausfallen. Statt Liveveranstaltungen sind Onlineangebote angesagt. Sie sind zwar kein vollwertiger Ersatz, aber können gleichwohl Abhilfe bieten, zumal wir mehr und mehr damit vertraut werden. Dabei entdecken manche, wie unkompliziert der Austausch beispielsweise per Zoom ist und dass es zum Teil leichter fällt, an einem Meeting teilzunehmen, wenn keine weite Anfahrt notwendig ist. Das führt gleichzeitig auch zu einer gewissen Entschleunigung im Berufsalltag.
Für positiven Ausgleich sorgen Gemäss einer in Italien durchgeführten Onlinebefragung bei über 500 Medizinalpersonen nahm die Burn-out-Rate mit den steigenden Anforderungen durch die Corona-Pandemie zu. In Anbetracht dieser Tatsache erscheint es umso wichtiger, die erwähnten positiven Begleiteffekte ausgiebig zu nutzen. Die Studie zeigte zudem, dass das Gefühl, einen sinnvollen Einsatz zu leisten, negativ mit emotionaler Erschöpfung und positiv mit empfundener Wertschätzung korrelierte (9). Eine im chinesischen Wuhan nach Ausbruch der Corona-Epidemie durchgeführte Studie zeigte interessanterweise, dass die Burn-out-Rate bei Medizinalpersonen, die direkt in die Betreuung von COVID19-PatientInnen involviert waren, weniger hoch ausfiel als bei solchen, die in ihrem herkömmlichen Einsatzbereich tätig waren (10). Auch Letztere scheinen den vermehrten Druck verspürt und sogar noch stärker darauf reagiert zu haben. Zu der Arbeitsbelastung und der Sorge um die eigene Gesundheit und diejenige der Familie kommen aber noch die bereits erwähnten speziellen kommunikativen Herausforderungen dazu, wenn Patientinnen und ihre Angehörigen ihren Unmut geltend machen. Niederschwellige Angebote für die Mitarbeitenden, sich nach solchen Erfahrungen mit Vorgesetzten oder einer definierten Ansprechperson austauschen zu können, sind wichtige präventive Massnahmen.
Ausblick
Die Corona-Pandemie hat Grenzerfahrungen im pri-
vaten wie auch im beruflichen Umfeld mit sich ge-
bracht, und wir alle mussten uns im Umgang mit Ein-
schränkungen üben. War beim ersten Lockdown die
Angst das dominierende Gefühl, traten im Verlauf
der Monate die Erschöpfung und der Überdruss in
den Vordergrund. Im Sinne eines lösungsorientierten
Ansatzes und der Ressourcenaktivierung bei einer
Krisenbewältigung lohnt es sich, immer auch den
Blick darauf zu richten, was eine Situation Positives
mit sich bringt. Ich habe versucht, ein paar Aspekte
zu nennen, die meine Kolleginnen und Kollegen und
ich identifiziert haben. Diese wie auch die Erkennt-
nisse aus den erwähnten Publikationen und vor allem
natürlich der Zugang zur Impfung mögen dazu bei-
tragen, dass wir in absehbarer Zeit aus dieser Pande-
mie-bedingten Krise herausfinden.
n
Prof. Dr. med. Sibil Tschudin Abteilung Gynäkologische Sozialmedizin & Psychosomatik Frauenklinik Universitätsspital Basel 4031 Basel E-Mail: sibil.tschudin@usb.ch
Interessenkonflikte: keine.
Quellen: 1. SGGG-Empfehlungen: Coronavirusinfektion, COVID-19, Schwangerschaft und Geburt. 2020: Bern. 2. Cohen MA et al.: Special ambulatory gynecologic considerations in the era of coronavirus disease 2019 (COVID-19) and implications for future practice. Am J Obstet Gynecol. 2020; 223(3): 372–378. 3. Ferreira-Filho ES et al.: Contraception and reproductive planning during the COVID-19 pandemic. Expert Rev Clin Pharmacol. 2020; 13(6): 615–622. 4. Kumar N.: COVID 19 era: a beginning of upsurge in unwanted pregnancies, unmet need for contraception and other women related issues. Eur J Contracept Reprod Health Care. 2020; 25(4): 323–325. 5. Bateson DJ et al.: The impact of COVID-19 on contraception and abortion care policy and practice: experiences from selected countries. BMJ Sex Reprod Health. 2020; 46(4): 241–243. 6. Almeida M et al.: The impact of the COVID-19 pandemic on women›s mental health. Arch Womens Ment Health. 2020. 7. Dubey S et al.: Psychosocial impact of COVID-19. Diabetes Metab Syndr. 2020; 14(5): 779–788. 8. Shanafelt T, Ripp J, Trockel M.: Understanding and addressing sources of anxiety among health care professionals during the COVID-19 pandemic. JAMA 2020; 323(21): 2133–2134. 9. Barello S, Palamenghi L, Graffigna G.: Stressors and resources for healthcare professionals during the Covid-19 pandemic: lesson learned from Italy. Front Psychol. 2020; 11: 2179. 10. Wu Y et al.: A comparison of burnout frequency among oncology physicians and nurses working on the frontline and usual wards during the Covid-19 epidemic in Wuhan, China. J Pain Symptom Manage. 2020; 60(1): e60–e65.
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