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PNEUMOLOGIE/ALLERGOLOGIE
Atemwegsinfektionen bei Kindern
Antibiotika sind oft nicht nötig
Leider werden Kindern mit Atemwegsinfekten – insbesondere Kleinkindern – zu häufig Antibiotika verordnet. Auch eine Otitis media bedarf nicht immer einer Antibiotikatherapie. Der folgende Beitrag enthält einen Leitfaden für die Hausarztpraxis.
Lisa Degener
Atemwegsinfekte mit und ohne Fieber bei Kindern und Jugendlichen sind häufige Konsultationsanlässe in der hausärztlichen Praxis. Nicht nur deswegen verordnen Hausärzte mehr Antibiotika als die anderen Facharztgruppen. Leider ist die Antibiotikagabe nicht immer gerechtfertigt. Man geht von bis zu 50 Prozent unnötigen Antibiotikagaben im ambulanten Bereich aus. Je jünger die Kinder, desto häufiger sind die Infekte viral bedingt (bei Kindern unter zwei Jahren: ca. 80%). Unnötige Antibiotikagaben führen nicht nur zu den zunehmend gefürchteten Resistenzentwicklungen gegen gängige Antibiotika, sondern sind auch mit direkten Nebenwirkungen wie Diarrhö, Erbrechen und Hautausschlägen assoziiert, die den Krankheitsverlauf verkomplizieren. Darüber hinaus fördert die unkritische Antibiotikaverordnung eine bestimmte Erwartungshaltung bei den Eltern, die es bei weiteren Behandlungsanlässen schwer macht, auf unnötige Antibiotikagaben zu verzichten. Ohnehin ist das Wissen in der Bevölkerung zum
MERKSÄTZE
� Bis zu 50 Prozent der Antibiotikagaben im ambulanten Bereich gelten als unnötig. Je jünger die Kinder, desto häufiger sind die Infekte viral bedingt (< 2 Jahre ca. 80%).
� Unnötige Antibiotikagaben führen nicht nur zu Resistenzentwicklungen gegen gängige Antibiotika, sondern sind auch mit direkten Nebenwirkungen wie Diarrhö, Erbrechen und Hautausschlägen assoziiert.
� Vor dem unkritischen Einsatz von Makroliden oder Azithromycin wird aufgrund der erhöhten Resistenzraten bei Hämophilus, Streptokokken, Pneumokokken und Mykoplasmen gewarnt. Makrolide sollten nur bei nachgewiesener Penicillinallergie, bei Mykoplasmenpneumonien und bei Pertussis eingesetzt werden.
� Mit dem Wissen, dass die meisten Atemwegsinfekte bei Kindern viral verursacht sind und spontan abheilen, können wir den Krankheitsverlauf sorgfältig beobachten und abwarten (watchful waiting). Tritt während eines vorher vereinbarten Zeitraums (z. B. 48 h) keine Besserung ein, sollte eine Kontrolluntersuchung oder eine telefonische Beratung erfolgen und die Antibiotikatherapie ggf. dann begonnen werden.
Kasuistik
Fieber, Pharyngitis, Hepatomegalie Clara, 10 Jahre, kommt mit hohem Fieber, Hals- und Bauchschmerzen in die Praxis. Sie finden ein angeschlagenes Kind mit febrilen Temperaturen, deutlich geschwollenen vorderen Halslymphknoten und dem in der Abbildung dargestellten Rachenbefund. Clara hat keinen Husten oder andere Erkältungszeichen. Bei der Untersuchung des Abdomens finden Sie Leber und Milz vergrössert.
Thema Erkältungskrankheiten in Deutschland deutlich schlechter als zum Beispiel in den skandinavischen Ländern: So glauben viele, dass Antibiotika bei Erkältungskrankheiten sinnvoll und hilfreich seien (4, 6). Die sichere Unterscheidung zwischen viraler und bakterieller Genese von Atemwegsinfekten gelingt uns im hausärztlichen Setting nur selten, insbesondere nicht zeitnah. Grosse Sorge vor multiresistenten Keimen hat in den Krankenhäusern bereits für eine deutlich erhöhte Sensibilität gegenüber unkritischer Antibiotikagabe gesorgt. Für den ambulanten Bereich gibt es vereinzelt Programme, die Hausärzte bei der zurückhaltenderen Antibiotikatherapie unterstützen sollen (z. B. RESiST, Adam). Leider sind diese Programme mehr auf Erwachsene als auf Kinder und Jugendliche ausgerichtet. Kleine Kinder fiebern sehr häufig. Nicht immer erschliesst sich der Fokus des Fiebers aus der klinischen Untersuchung. Gefürchtet sind schwere Verläufe wie Pneumonie, Mastoiditis oder otogene Meningitis. Mit einer frühen und nicht selten unkritischen Antibiotikagabe will man solche Verläufe verhindern. Aber verhindern grosszügige Antibiotikagaben tatsächlich diese Verläufe? Untersuchungen in den Niederlanden und in Schweden haben bereits vor Jahren gezeigt, dass eine drastische Reduktion von Antibiotikagaben (bis zu 50% weniger) bei kleinen Kindern mit Otitis media oder Tonsillitis keinerlei Auswirkungen auf die Zahl der Mastoiditiden oder schweren Tonsillitiden hatte. Wir wissen heute durch andere Untersuchungen, dass hinter einer Tonsillitis – ob mit oder ohne Beläge – oder hinter einer akuten Otitis media mindestens genauso häufig Viren wie Bakterien stecken können. Und wir wissen auch, dass 80
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Abbildung: Rachenbefund von Clara
Prozent der akuten Otitis-media-Fälle unabhängig von ihrer Entstehung spontan genesen (7–10). Die gute Anamnese und die sorgfältige klinische Untersuchung sind unerlässlich für die Beurteilung des kranken Kindes. Scores und Leitlinien unterstützen uns bei der Frage, wann ein Antibiotikum überhaupt sinnvoll sein kann (Tabelle 1).
Tabelle 1:
McIsaac-Score: Prädiktoren einer Gruppe-A-Streptokokken-(GAS-) Pharyngitis bei Patienten ≥ 3 Jahre (GAS-Prävalenz von 17%)
Vorgehen bei fieberhaften Infekten bei Kindern
▲ Gründliche Anamnese (Wie lange febril? Trinkverhalten? Vigilanz? Infekte in der Umgebung? Kita-Besuch?)
▲ Gründliche Untersuchung (Schwer krank? Unter Antipyrese munter? Fokus des Fiebers ersichtlich?). Hilfreich: Pulsoxymeter bei Husten zum Ausschluss einer respiratorischen Insuffizienz, Urinkontrolle
▲ Schwer kranke Kinder einweisen ▲ Symptomatische Therapie, möglichst an Leitlinien orien-
tiert, wenn der Zustand des Kindes es erlaubt ▲ Ausführliche Beratung der Eltern über wahrscheinlich
virale Ursache des Infekts, aber auch über mögliche Komplikationen des Krankheitsverlaufs ▲ Kurzfristiges Wiedereinbestellen oder telefonische Kontrollen anbieten ▲ Informieren über den haus- und kinderärztlichen Notdienst, an den die Eltern sich bei Verschlimmerung am Wochenende wenden können
Welches Antibiotikum, welche Dosierung
Tabelle 2 gibt konkrete Handlungsanweisungen für die Wahl des Antibiotikums bei Infekten bei Kindern. Diese Anweisungen gelten für ansonsten gesunde Kinder ohne schwerwiegende Grunderkrankungen. Eine dezidierte Anweisung zur Frage des Antibiotikaeinsatzes bei der akuten Otitis media gibt Tabelle 3. Vor dem unkritischen Einsatz von Makroliden oder Azithromycin (wegen der kurzen Einnahmedauer ein beliebtes Medikament bei Allgemein- und Kinderärzten) warnt die Deutsche Gesellschaft für Pädiatrische Infektiologie (3). Dieser unkritische Einsatz steht im Zusammenhang mit den erhöhten Resistenzraten bei Hämophilus, Streptokokken,
6 Kriterien Fieber in Anamnese oder Temperatur > 38 °C Fehlen von Husten Schmerzhafte vordere Halslymphknoten Tonsillenschwellung oder -exsudate Alter < 15 Jahre Alter ≥ 45 Jahre Zahl der Kriterien
4 oder 5 3 2 1 –1 oder 0
1
1 1
1
1
–1
Wahrscheinlichkeit von GAS im Rachenabstrich
% LR (likelihood ratio)
Ca. 50
4,9
Ca. 35
2,5
Ca. 17
0,95
Ca. 10
0,52
Ca. 1 0,05
Tabelle 2:
Konkrete Handlungsanweisungen für die Wahl des Antibiotikums bei Infekten bei Kindern
Pneumonie < 6 Monate > 6 Monate Atypisch HNO Tonsillitis/Pharyngitis
Akute Otitis media
i.v. Antibiose stationär Amoxicillin p.o. 3-mal 30 mg/kg KG Clarithromycin p.o. 2-mal 7,5 mg/kg KG
Antibiotikum nicht 1. Wahl, McIsaac-Score verwenden, ggf. Penicillin 2-mal 30 000 IE/kg KG Antibiotikum nicht 1. Wahl, ggf. Amoxicillin 2-mal 30 mg/kg KG
modifiziert nach (5) KG: Körpergewicht, IE: Internationale Einheiten
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Tabelle 3:
Antibiotikaeinsatz bei akuter Otitis media
Schweregrad
Leicht (unilateral, keine Otorrhö, afebril)
Mittel (bilateral, keine Otorrhö, milde Symptomatik)
< 6. LM 6. bis 24. LM 2. bis 5. LJ > 6. LJ
immer Antibiose
«watchful waiting» bis 72 h
Antibiose
«watchful waiting»
«watchful waiting»
«watchful waiting»
«watchful waiting»
ggf. nach 48 bis 72 h Antibiose für 5 bis 7 Tage
modifiziert nach (2) LM: Lebensmonat, LJ: Lebensjahr
Schwer (Otorrhö oder bilateral mit Fieber > 39 °C in den letzten 48 h, persistierende Otalgie > 48 h)
Antibiose für 10 Tage Antibiose Antibiose
Pneumokokken und Mykoplasmen. Makrolide sollten nur eingesetzt werden bei nachgewiesener Penicillinallergie, bei Mykoplasmenpneumonien und bei Pertussis.
Strategien zur Verhinderung unnötiger Antibiotikagaben
▲ «Watchful waiting»: Mit dem Wissen, dass die meisten Atemwegsinfekte bei Kindern viral verursacht sind und unabhängig von der Genese spontan abheilen, können wir den Krankheitsverlauf sorgfältig beobachten und abwarten. Bei Nichtbesserung nach einem vorher vereinbarten Zeitabstand (z. B. 48 h) sollte eine Kontrolluntersuchung oder eine telefonische Beratung stattfinden und die Antibiotikatherapie gegebenenfalls dann begonnen werden (4).
▲ «Delayed prescribing»: Ein Rezept über ein Antibiotikum wird den Eltern mitgegeben mit der Empfehlung, es nur bei ausbleibender Besserung einzulösen. Dieses Vorgehen setzt verständige und kooperationsfähige Eltern voraus, die in der Lage sind, Warnzeichen für einen komplizierten Verlauf zu erkennen.
▲ Gute Elternaufklärung: Eine gemeinsame Entscheidungsfindung mit den Eltern über die geeignete Therapie des fiebernden Kindes erhöht die Compliance und die Zufriedenheit mit der Konsultation. Das setzt gute Aufklärung der Eltern voraus, die man ggf. mit schriftlichen Infomaterialien unterstützen kann. Vermeiden sollte man Aussagen wie: «Das ist ein Virusinfekt, da können und müssen wir nichts machen.» Die Empfehlung gegen ein Antibiotikum wird deutlich besser akzeptiert, wenn gleichzeitig eine Empfehlung für eine symptomatische Therapie ausgesprochen wird (1, 3, 4).
Tipp: Hilfreich sind die Elterninformationen der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin (DGKJ), die
Elterninformationen der DGKJ
unter www.dgkj.de/eltern/dgkj-elterninformationen als Download erhältlich sind.
Auflösung der Kasuistik
Clara leidet an einer Mononukleose. Der Hinweis auf die
Hepatosplenomegalie führt uns hier klinisch zur Diagnose.
Eine serologische Bestätigung der Diagnose durch die Be-
stimmung des EBV-(Epstein-Barr-Virus-)Titers sollte erfol-
gen. Allein das klinische Bild der Tonsillitis erlaubt keine
sichere Unterscheidung zwischen viraler oder bakterieller
(Gruppe-A-Streptokokken, GAS) Tonsillitis. Auch deshalb
ist Zurückhaltung mit der antibiotischen Behandlung ge-
boten. Clara erhält Ibuprofen oder Paracetamol zur Linde-
rung der Symptome und muss sich schonen, solange die
Hepatosplenomegalie besteht.
s
Lisa Degener Fachärztin für Allgemeinmedizin D-48341 Altenberge
Interessenlage: Die Autorin hat keine Interessenkonflikte deklariert.
Literatur: 1. Paul I et al.: Placebo effect in the treatment of acute cough. JAMA
Pediatr 2014; 168(12): 1107–1113. 2. Carlens J et al.: Akute Otitis media. Monatsschrift Kinderheilkunde 2016;
164: 349–358. 3. Simon A et al.: Atemwegsinfektionen bei Kindern: Wann Antibiotika
indiziert sind – und wann nicht. Dtsch Arztebl 2016; 113(21): 14. 4. Wagner A et al.: Rationaler Umgang mit Antibiotika bei Atemwegsin-
fektionen in der Pädiatrie. Kinder- und Jugendarzt 2016; 47: 590–597. 5. Both U et al.: Antibiotic Stewardship im stationären Bereich der Pädia-
trie. Kinder- und Jugendarzt 2016; 47: 212–220. 6. Eckel N et al.: Pharmacoepidemiology of common colds and upper re-
spiratory tract infections in children and adolescents in Germany. BMC Pharmacology and Toxicology 2014; 15: 44. 7. Mühlenfeld HM: IHF-Mini-Modul «Ohrenschmerzen». Institut für hausärztliche Fortbildung im Deutschen Hausärzteverband (IHF) e. V., Köln; https://www.ihf-fobi.de/fortbildungen-aerzte/mini-module.html (abgerufen 23.9.2020). 8. https://www.degam.de/files/Inhalte/Leitlinien-Inhalte/Dokumente/ DEGAM-S3-Leitlinien/Leitlinien-Entwuerfe/053-010_Halsschmerzen/ Archiv/LL-14_Langfassung_ZD.pdf (abgerufen 23.9.2020). 9. https://www.degam.de/files/Inhalte/Leitlinien-Inhalte/Dokumente/ DEGAM-S3-Leitlinien/Leitlinien-Entwuerfe/053-009_Ohrenschmerzen/ LL-07_Ohrenschmerzen_Langfassung_20141222.pdf (abgerufen 23.9.2020). 10. Leitlinie «Entzündliche Erkrankungen der Gaumenmandeln/Tonsillitis, Therapie»; https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/017-024.html (abgerufen 23.9.2020).
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