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KONGRESS AKTUELL
SNS 2020
Management nicht infektiöser Enzephalitis
Bei einer nicht infektiösen Enzephalitis lohnt sich eine Antikörperabklärung. Denn mit einer Immuntherapie kann kausal behandelt werden. Wie, erklärte Prof. Josep Dalmau, ICREA-IDIBAPS, Klinik für Neurologie, Hospital Clinic, Universität Barcelona (E) und University of Pennsylvania (USA), am virtuellen Jahreskongress der Swiss Neurological Society (SNS).
E nzephalitis-assoziierte Hospitalisationen sind mit einer Inzidenz von 12/100 000 häufig. Bei etwa der Hälfte der Patienten könne die Ursache auf eine virale Infektion zurückgeführt werden, bei 20 bis 30 Prozent sei die Ursache autoimmuner Natur, bei 20 bis 30 Prozent bleibe sie unklar (1), berichtete Prof. Dalmau. Seit der Entdeckung des NMDAR-Antikörpers 2007 als Verursacher einer autoimmunen Enzephalitis konnten etliche weitere Antikörper identifiziert werden. Bei vielen besteht eine Assoziation zu einem Tumorgeschehen, beispielsweise ist bei einer Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis bei knapp der Hälfte der Frauen ein Ovarialteratom aktiv, bei einer durch AMPAR vermittelten Enzephalitis sind in 70 Prozent der Fälle Tumoren in Lunge, Brust oder Thymus zu finden. Für die Antikörper NMDAR, AMPAR, CASPR2, GABAbR und DPPX gibt es kommerziell verfügbare Testmöglichkeiten, bei anderen ist der Nachweis schwieriger. Die Erkennung der Antikörper ist wichtig, da mit einer Immuntherapie eine kausale Behandlungsmöglichkeit besteht.
delten Patienten mit 25 Prozent höher als nach einer Behandlung (bis 10%) (2). Das Bild der klinischen Symptome kann variieren, der Krankheitsbeginn ist vor allem bei Kindern häufig von Schlafstörungen begleitet. Etwa 30 Prozent der Patienten entwickeln eine Schlaftrunkenheit beziehungsweise wachen auch nach der Spitalentlassung nachts mit Orientierungsstörungen auf (3). Inwieweit sich ein Patient mit Anti-NMDAR-Enzephalitis innerhalb eines Jahres erholt, kann anhand von 5 verschiedenen unabhängigen Faktoren im NEOS-Score (anti-NMDAR-enzephalitis one-year functional status) abgeschätzt werden. Diese Faktoren umfassen: 1. den Aufenthalt in der Intensivstation, 2. Therapieverzögerung > 4 Wochen, 3. Fehlen einer klinischen Verbesserung in den ersten 4 Wochen, 4. abnormales MRI, 5. Leukozyten im Liquor > 20 Zellen/µl. Bei Vorhandensein von 0 bis 1 Faktor ist die Chance für einen guten funktionalen Status intakt (97%), mit zunehmender Anzahl Faktoren verringert sich diese Chance (31% bei 4 bis 5 Faktoren) (4).
Anti-NMDAR-Enzephalitis Die Anti-NMDAR-Enzephalitis ist die häufigste autoimmune Enzephalitis. Sie tritt häufig bei Personen unter 50 Jahren auf, mehrheitlich bei Frauen (2). In den ersten 4 Wochen zeigen sich relativ akute psychiatrische Manifestationen wie zum Beispiel Psychosen, Agitiertheit, Halluzinationen, häufig auch Bewusstseinstrübungen und fokale epileptische Anfälle. Die Symptome seien von einer psychiatrischen Erkrankung häufig nicht zu unterscheiden, so Dalmau. In den weiteren Wochen und Monaten können unter Intensivbetreuung Dyskinesien, dissoziative Reaktionen, Katatonie, Koma, autonome Dysregulation und Hypoventilation hinzukommen. Die Erholung kann bis zu 2 Jahre dauern, mit zum Teil bleibenden Defiziten in den Exekutivfunktionen, bei der Impulsivität und im Gedächtnis (3). Die Rezidivrate in den folgenden 24 Monaten ist bei unbehan-
Limbische Enzephalitis Bei Patienten mit limbischer Enzephalitis können verschiedene Autoantikörper Auslöser sein. Dazu zählen zum Beispiel LGI1, GABA(B1)Rezeptor, AMPA-Rezeptor. Dabei sei das MRI im Gegensatz zur Anti-NMDAR-Enzephalitis nicht sehr hilfreich, da viele Patienten auch ein normales Bild aufweisen könnten, so Dalmau. Typisch bei Patienten mit Anti-LGI1-Antikörpern sind faziobrachiale dystonische Anfälle, eine Hyponatriämie, ein Tumor ist dagegen eher selten (< 10% Thymom). Bei Patienten mit AMPA-Rezeptor-Antikörpern häufen sich Tumoren (65%) in Lunge, Brust und Thymus, oft treten auch andere Autoimmunerkrankungen auf. Es besteht eine Tendenz für Rezidive. Patienten mit GABA(B1)-Rezeptor haben etwa zur Hälfte ein kleinzelliges Lungenkarzinom (SCLC) und zeigen bereits früh grössere Krampfanfälle (5). Weitere autoimmune Enzephalitiden Bei der Anti-CASPR2-Enzephalitis sind das periphere und das zentrale Nervensystem involviert, mit beispielsweise zerebralen Symptomen, Insomnie, neuropathischen Schmerzen, Gewichtsverlust und peripherer Nervenübererregbarkeit. Dieses gemischte Bild entstehe aufgrund der Interaktion zwischen Antikörpern und peripheren sowie zentralen Nerven, erklärte Dalmau. Von diesem Enzephalitistyp sind überwiegend Männer zwischen 60 und 70 Jahren betroffen (6). Die Anti-GABA(A)-Rezeptor-Enzephalitis ist eine gemäss Dalmau sehr schwere Erkrankung, bei der 88 Prozent der Patienten Krampfanfälle mit Status epilepticus erleiden. In der MRIBildgebung sind bei 70 Prozent multifokale Abnormitäten zu sehen. Über 80 Prozent der Patienten sprechen auf eine Immuntherapie an, 42 Prozent der Patienten sind Kinder. Ein Thymom findet sich eher bei Erwachsenen (7). Therapiemöglichkeiten Die Behandlung der Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis erfolgt laut Dalmau in erster Linie mit einer Kortikoidstosstherapie, intravenösem Immunglobulin (IVIG) zur Reduktion der Anti-NMDA-Rezeptor-Antikörperproduktion sowie einem Plasmaaustausch zur Verringerung des Antikörpertiters. Zusätzlich zur FirstLine-Therapie wird Rituximab verabreicht. Zugrunde liegende Tumoren sollten wenn möglich entfernt werden. Bringt die Erstlinientherapie keine befriedigende Besserung, besteht die Zweitlinientherapie aus Cyclophosphamid. Für die als dritte Linie diskutierten Immuntherapeutika Bortezomib und Tocilizumab gebe es zu wenig Evidenz für eine Wirkung, schränkte Dalmau ein. Bei Rezidiven wird wieder gleich behandelt: First-Line-Therapie plus Rituximab. Für die Rezidivprophylaxe kommen Rituximab, Mycophenolat und Azathioprin infrage. Was zu bedenken ist Tumoren und virale Enzephalitis könnten die Produktion von NMDA-Rezeptor-Antikörpern auslösen, wie Dalmau berichtete. Bei einer Untersuchung von 51 Patienten mit einer Herpes-simplex-Enzephalitis zeigte sich, dass NMDA-Rezeptor-Antikörper erst nach Abheilung der Enzephalitis nachweisbar waren. Das führte bei manchen Patienten zu einer zweiten, diesmal autoantikörpervermittelten Welle der Enzephalitis (8). 30 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 1/2021 KONGRESS AKTUELL Mit Antikörpern gegen Myelin-Oligodendrozy- ten-Glykoprotein (MOG) assoziierte Syndrome sollten bei der Diagnose der Autoimmunenze- phalitis ebenfalls differenzialdiagnostisch abgeklärt werden, vor allem bei Kindern. Sie äussern sich durch Optikusneuritis, Myelitis sowie ADEM-ähnliche (ADEM: acute dissemi- nated encepahlomyelitis) und Multiple-Sklero- se-ähnliche Manifestationen, aber auch durch Nicht-ADEM-Enzephalitis (9). Patienten mit MOG-Antikörpern könnten ein Syndrom ent- wickeln, das der Autoimmunantikörper-assozi- ierten Enzephalitis ähnlich sei, gab Dalmau zu bedenken. l Valérie Herzog Quelle: «Keynote Lecture II – Enzephalitis», Annual Meeting 2020, Swiss Neurological Society, 19. bis 20. November, virtuell. Referenzen: 1. Venkatesan A et al.: Acute encephalitis in immuno- competent adults. Lancet. 2019;393(10172):702-716. 2. Titulaer MJ et al.: Treatment and prognostic factors for long-term outcome in patients with anti-NMDA receptor encephalitis: an observational cohort study. Lancet Neurol. 2013;12(2):157-165. 3. Muñoz-Lopetegi A et al.: Sleep disorders in autoimmune encephalitis. Lancet Neurol. 2020;19(12):1010-1022. 4. Balu R et al.: A score that predicts 1-year functional status in patients with anti-NMDA receptor encephalitis. Neurology. 2019;92(3):e244-e252. 5. Leypoldt F et al.: Autoimmune encephalopathies. 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Woran bei welchen Bewegungsstörungen zu denken ist und was man dagegen unternehmen kann, erklärte PD Georg Kägi, Klinik für Neurologie, Kantonsspital St. Gallen, am virtuellen Jahreskongress der Swiss Neurological Society in einer Übersicht. B ei substanzinduzierten Myoklonien tritt gewöhnlich eine Mischung aus positivem und negativem Myoklonus auf. Die Verteilung ist gemäss Kägi meist symmetrisch, kann aber jegliches Muster aufweisen. Diese unwillkürlichen Zuckungen einzelner Muskeln oder Muskelgruppen können durch viele Medikamente wie auch durch Kokain ausgelöst werden (Kasten) (1). Beispielsweise könne eine gleichzeitige Therapie aus Antibiotika und Opioiden bei schlechter Nierenfunktion Myoklonien auslösen, wie Kägi von einem Patientenfall berichtete. Ein Stopp der fraglichen Medikamente und die Gabe von Clonazepam, Diazepam oder Valproat führen zu einer raschen Erholung, was bei diesem Patienten nach der Gabe von Clonazepam der Fall war. Wenn keine Medikamente involviert sind, muss an ein Serotoninsyndrom, Toxizitäten, einen post-anoxischen Myoklonus, Epilepsie, eine Hirnläsion (Thalamus), eine Leber- oder Niereninsuffizienz, Neoplasien oder virale Enzephalopathien (z. B. FSME) gedacht werden. Akute Dystonien meist selbstlimitierend Substanzinduzierte akute Dystonien beginnen häufig innerhalb von 24 Stunden nach Beginn einer Therapie, nach einem Wechsel oder einer Dosiserhöhung. Sie sind zwar selbstlimitierend, doch für den Patienten sehr belastend. Am häufigsten betroffen sind Nacken- und Kiefermuskulatur (ca. 40%) betroffen, die Muskulatur von Rachen, Fuss, Zunge, Hand, Augen und Rücken in etwa 10 und 20 Prozent der Fälle (2). Bei einem Stimmritzenkrampf könne die Situation allerdings lebensbedrohlich sein, betonte Kägi. Dystonien können beispielsweise bei Therapiebeginn mit Neuroleptika auftreten. Das Risiko dafür ist bei Männern, in jungem Alter, bei bereits stattgehabten Dystonien, bei AIDS, der Einnahme von potenten Dopamin-2-RezeptorAntagonisten und von Kokain erhöht (2). Auch Antiemetika, Antidepressiva (SSRI), Antikonvulsiva, Antibiotika, Antihistaminika, Opioide und Methylphenidat können akute Dystonien auslösen, insbesondere Kombinationen dieser Substanzen. Als Therapie von akuten Dystonien empfiehlt der Neurologe die Verabreichung des Anticholinergikums Biperiden i.m. oder Scopolamin, in schweren Fällen auch Diazepam oder Lorazepam. Zur Rezidivprophylaxe soll retardiertes orales Biperiden 4 mg für etwa 4 Tage verabreicht und die auslösende Substanz vermieden werden. Bei akuten Dystonien müssen differenzialdiagnostisch eine primäre fokale Dystonie, Hirnschlag, Meningoenzephalitis, Tetanus, Creutzfeldt-Jakob-Krankheit und eine autoimmune oder toxische Ursache (CO, Methanol, Organophosphate) in Betracht gezogen werden. Bewegungsstörungen wie die akute Chorea treten als Levodopa-induzierte Dyskinesien bei degenerativem Parkinsonismus auf. Andere Arzneimittel wie zum Beispiel Antikonvulsiva, Trizyklika, Anticholinergika, Östrogen, Trazodon, Baclofen wie auch Kokain können ebenfalls zu einer akuten Chorea führen (3), was aber gemäss Kägi eher selten der Fall ist. Differenzialdiagnostisch muss an einen Hirnschlag, eine Hypergykämie, infektiöse oder autoimmune Auslöser gedacht werden. Zu weiteren Bewegungsstörungen muss auch das Serotoninsyndrom gezählt werden. Dabei handelt es sich um einen medikamentös verursachten Serotoninüberschuss, meist ausgelöst durch Serontininwiederaufnahmehemmer (SSRI, trizyklische Antidepressiva, Kokain, Opiate [ohne Morphin]), Serotoninagonisten (Sumatriptan, Buspiron, Ergotamin), unspezifische Verstärkung der Serotoninaktivität beispielsweise durch Lithium oder verstärkte Serotoninfreisetzung (Ecstasy, Amphetamine, Kokain). Das Serotoninsyndrom präsentiert sich anfangs mit milden Symptomen wie Akathisie und Tremor, mit der Zeit verändert sich der Mentalstatus, und es entwickeln sich anhaltende Muskelkontraktionen, eine muskuläre Hypertonizität, Hyperthermie und ein lebensbedrohlicher Zustand (4). Sekundäre Bewegungsstörungen: häufig Hirnschlag In 22 Prozent der Fälle von Bewegungsstörungen sind zerebrovaskuläre Erkrankungen die Ursache. Etwa 1 bis 4 Prozent der Hirnschlagpatienten zeigen eine Bewegungsstörung, meist durch Dystonie, Chorea (sofort) oder Tremor (nach 1 bis 2 Monaten). Bei ischämischen 1/2021 PSYCHIATRIE + NEUROLOGIE 31 KONGRESS AKTUELL Kasten: Bei Myoklonien oft involvierte Substanzen ● SSRI, trizyklische Antidepressiva ● Opioide bei Überdosierung oder Ent- zug; Aktivierung NMDA-Rezeptor, GABA-Rezeptor ● Antibiotika bei hoher Dosierung bzw. Nierenversagen (z. B. Betalaktame, Makrolide, Metronidazol, Imipenem) ● Antiepileptika (z. B. Lamotrigin, Gabapentin) ● Neuroleptika ● Kokain Quelle: PD Dr. G. Kägi, SNS 2020 Schlaganfällen treten die Bewegungsstörungen meist sofort auf, bei hämorrhagischen Schlaganfällen können sie noch Monate nach dem Ereignis einsetzen. Dies meist infolge weiterer zerebraler Blutungen, so Kägi. Eine seltenere Ursache für Bewegungsstörungen ist die Multiple Sklerose mit einer Prävalenz von 1,6 Prozent. Der Tremor tritt dabei am häufigsten auf (25 bis 58%), am zweithäufigsten sind paroxysmale Dystonien beziehungsweise tonische Spasmen (5–7). Die Störungen sprechen gut auf niedrig dosiertes Carbamazepin und/oder Azetazolamid an, möglicherweise auch auf andere Antiepileptika wie beispielsweise Valproat. Bei starken und schmerzhaften Spasmen eigneten sich auch Pregabalin oder Clonazepam, so Kägi. Bei metabolisch bedingten Bewegungsstörungen ist auch an eine Hemichorea bei nicht ketotischer Hyperglykämie zu denken, die sich Tage bis Wochen verzögert nach einer Hyperglykämie entwickeln kann. Sie ist meist einseitig, vorübergehend und kommt eher bei älteren Frauen vor. In der Bildgebung zeigt sich ein typisches Bild einer Läsion in den Basalganglien unilateral. Auch Mangelzustände wie beispielsweise eine Hypomagnesiämie < 0,2 mmol/l können zu einem zerebellären Syndrom mit Bewegungsstörungen wie Ataxie, Dysarthrie, Nystagmus oder Krampfanfällen führen. Als Ätiologie kom- men Protonenpumpenhemmer, Alkohol- abusus oder Malabsorption infolge Bariatrie infrage. Mit der Magnesiumsubstitution ist das Syndrom reversibel. l Valérie Herzog Quelle: «Neuro-Update: Acute Movement Disorders», Annual Meeting 2020, Swiss Neurological Society, 19. bis 20. November, virtuell. Referenzen: 1. Janssen S et al.: The clinical heterogeneity of drug- induced myoclonus: an illustrated review. J Neurol. 2017;264(8):1559-1566. 2. Kipps CM et al.: Movement disorder emergencies. Mov Disord. 2005;20(3):322-334. 3. Cossu G et al.: Hyperkinetic movement disorder emergencies. 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Was es Neues dazu gibt und bei welchen Patienten ein Gentest sinnvoll ist, darüber berichtete Prof. Jaqueline French, Klinik für Neurologie, NYU Medical School of Medicine, New York (USA), Komitee-Mitglied der ILAE, am virtuellen Jahreskongress der Swiss Neurological Society. I n der Therapie der Epilepsie hat sich in den letzten 20 Jahren in kurativer Hinsicht nicht viel getan. Die meisten verfügbaren Therapien verändern nicht den Krankheitsverlauf, sie sind eher eine symptomatische Therapie. Vielversprechende Möglichkeiten wurden dagegen mit der Gensquenzierung und der daraus entstandenen Entwicklung von gentherapeutischen Medikamenten geschaffen. Sie heilen die Erkrankung zwar auch nicht, können ihren Verlauf jedoch beeinflussen. Die International League Against Epilepsy (ILAE) erwäge daher eine neue Unterteilung der Antiepileptika in Antianfallsmedikamente (anti-seizure medication, ASM) und in krankheitsmodifizierende Medikamente (disease modifying epilepsy medication, DMEM), so French. Neuzulassungen bei Antianfallsmedikamenten in den USA Bei den Antianfallsmedikationen sind in den letzten 3 Dekaden zu den alten Klassikern Valproat, Carbamazepin und Benzodiazepin etliche Neuentwicklungen dazugekommen. Doch hat sich gemäss der Expertin die Anfallsfreiheit nicht verbessert, sie bewegt sich gemäss Studien nach 3 Monaten zwischen 1 und 8 Prozent (1–3). Im letzten Jahr wurden in den USA zwei neue Medikamente zugelassen, Cenobamat bei fokalen Anfällen und Fen- fluoramin beim Dravet-Syndrom, beide Medikamente scheinen gemäss der Expertin vielversprechend zu sein. Unter Cenobamat als Add-on erreichten die therapieresistenten Patienten nach 3 Monaten eine 18-prozentige Anfallsfreiheit (4), was im Vergleich zu den bisher verfügbaren Medikationen viel ist. In der doppelblind randomisierten Studie erhielten 437 Patienten mit fokalen Anfällen (> 8/Monat) und erfolgloser Therapie mit 1 bis 3 Antiepileptika täglich Cenobamat 100 mg, 200 mg und 400 mg oder Plazebo während 6 Wochen Titrations- und 12 Wochen Erhaltungsphase. Als primärer Endpunkt waren die monatliche Anfallshäufigkeit und die 50-prozentige Ansprechrate in der Erhaltungsphase definiert. Die mediane Veränderung der Anfallshäufigkeit betrug unter Plazebo –24,0 Prozent, unter Cenobamat 100 mg –35,5 Prozent und unter Cenobamat 200 mg und 400 mg je –55 Prozent. Die Ansprechraten in der Erhaltungsphase lagen in der Plazebogruppe bei 25 Prozent, unter Cenobamat 100 mg bei 40 Prozent, unter Cenobamat 200 mg bei 56 Prozent und unter Cenobamat 400 mg bei 64 Prozent. Alle Unterschiede waren signifikant.
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Bis zu einer Dosis von 200 mg wird Cenobamat gut vertragen. Die Nebenwirkungshäufigkeit steigt dosisabhängig von 65 bis 90 Prozent unter Cenobamat vs. 70 Prozent unter Plazebo (4). Nachteilig sei das Risiko für ein Arzneimittelexanthem mit Eosinophilie und systemischen Symptomen (drug rash with eosinophilia and systemic symptoms, DRESS). Eine langsame Titration könne helfen, dieses Risiko zu minimieren, so der Tipp der Referentin. Die zweite in den USA neu zugelassene Substanz Fenfluoramin wird beim Dravet-Syndrom eingesetzt, einer therapierefraktären epileptischen Enzephalopathie bei sonst gesunden Kleinkindern. Im Vergleich zu Plazebo konnte mit Dosierungen von 0,8 und 0,2 mg/kg/Tag bei 70 beziehungsweise 41 Prozent der Kinder eine 50-prozentige Reduktion der monatlichen Anfälle erreicht werden (vs. 7,5% Plazebo). Eine Reduktion um 75 Prozent erreichten unter Fenfluoramin 0,8 mg/kg/Tag 45 Prozent der Kinder, unter Fenfluoramin 0,2 mg/kg/Tag 20,5 Prozent und in der Plazebogruppe 2,5 Prozent. Alle Unterschiede waren signifikant. Häufigste Nebenwirkungen (> 10%) waren verminderter Appetit, Diarrhö, Fatigue, Lethargie, Somnolenz und Gewichtsverlust. Echokardiografische Untersuchungen der Herzklappenfunktion hätten keinen Anlass zur Besorgnis gezeigt (5), doch müsse man dies aufmerksam beobachten. Die Substanz sei bereits früher einmal zur Gewichtsreduktion auf dem Markt gewesen, sei aber wegen Herzklappenverdickung wieder vom Markt genommen worden, mahnte die Referentin.
Bei wem ein Gentest sinnvoll ist Der genetische Einfluss auf die Epilepsie ist auf Kombinationen von verschiedenen Genen zurückzuführen. Dabei können viele Kombinationen zum gleichen Outcome führen, wie beispielsweise zur idiopathischen generalisierten Epilepsie. Doch gibt es auch einzelne Gene, die ein Syndrom oder ein Symptom triggern. Dazu zählen beispielsweise die Gene SCN1A, CDKL5 oder PCDH19. Bei Personen mit Verdacht auf eine monogenetische Epilepsie soll ein Gentest in Betracht gezogen werden. Beispielsweise kann bei epileptischer Enzephalopathie in bis zu 30 Prozent der Fälle ein einzelnes Gen gefunden werden. Bei therapieresistenter generalisierter oder fokaler Epilepsie und Fieberkrämpfen in der Anamnese ist es sinnvoll, nach einer SCN1A- oder SCN1B-Mutation zu suchen. Das hilft für die Therapie und für die Familienplanung. Bei erwachsenen Personen mit generalisierter Epilepsie und Fieberkrämpfen (GEFS+) und mit einer SCN1A-Mutation besteht das Risiko, dass ihre Nachkommen mit dem Dravet-Syndrom auf die Welt kommen. Von diesem Syndrom ist bekannt, dass über 80 Prozent der Patienten eine pathogene Variante von SCN1A aufweisen (6, 7).
Eine weitere monogenetische Epilepsie ist die fokale Epilepsie mit auditorischer oder visueller Aura mit autosomal-dominanter Vererbung von LGi1. Auch in diesem Fall lohnt sich die Suche bei Kinderwunsch. Treten therapieresistente Absencen auf, muss nach einem GLUT-1Mangel gesucht werden. Dieser kann mit einer ketogenen Diät behandelt werden. Eine autosomal-dominante nächtliche Frontallappenepilepsie ist mit einer pathogenen Variante von CHRNA4 assoziiert. Bei familiären Epilepsien ist die genetische Verbindung dagegen nicht eindeutig. Gentests sind sinnvoll bei diagnostischen Fragen, vor allem bei epileptischen Enzephalopathien, sie können für Therapieentscheidungen oder für die Familienplanung hilfreich sein. Wichtig sei in jedem Fall eine profunde genetische Beratung der Patienten, so French.
Präzisionstherapie mit Anfallshemmern? Wenn die genetische Mutation bekannt ist, kann auch mit den herkömmlichen Antianfallsmedikamenten eine präzise Wirkung hervorgerufen (z. B. hohe Phenytoindosen bei SCN8A) oder vermieden werden (z. B. Kalziumkanalblocker bei Dravet-Syndrom). Meistens ist das aber nicht der Fall, und der Wirkmechanismus zielt auf die Verringerung der Anfallsausbreitung oder der Exzitation ab. Bei Orphan-Diseases wie dem Dravet-Syndrom und dem Lennox-Gastaut-Syndrom gibt es zusätzlich zu Fenfluoramin beispielsweise auch Studien zu Cannabidiol, die aber lediglich zeigen, dass die Substanz wirksamer ist als Plazebo. Einen Wirksamkeitsvergleich mit anderen Medikationen oder zu verschiedenen Syndromen gebe es nicht, was die Bezeichnung Präzisionsmedizin infrage stelle, so French.
Antisense-Oligonukleotid-Therapie Es gibt aber einen Lichtblick, der diesen Namen verdient. Mit der personalisierten Gentherapie wird die Erkrankung nicht mehr anhand ihres Phänotyps definiert, sondern aufgrund des Genotyps beziehungsweise des mutierten Gens. Eine der Technologien der Gentherapie ist die Antisense-Oligonukleotid-Therapie, mit der die Biosynthese von Proteinen bei ihrer Entstehung gezielt verändert werden kann. Dies im Gegensatz zu herkömmlichen Arzneimitteln, die die Funktion bestimmter Proteine hemmen. Ein AntisenseOligonukleotid bindet über komplementäre Basenpaare an eine Nukleinsäure, deren Basenabfolge (Sense-Nukleinsäure) exakt dazu passt. Durch die spezifische Bindung an die komplementäre Sequenz der RNA des Zielproteins kann dessen Bildung verhindert werden (8). Mit der Antisense-Oligonukleotid-Technologie sei die neue TANGO-Therapie (targeted augen-
tation of nuclear gene output) bei Dravet-Syndrom entwickelt worden, mit der noch in diesem Jahr laut French klinische Studien anlaufen sollen. Eine andere, vektorbasierte gentherapeutische Entwicklung wird in diesem Jahr ebenfalls in dieser Indikation mit klinischen Studien starten. Beide Entwicklungen repräsentieren den Start in die Phase der krankheitsmodifizierenden Therapeutika, mit dem Dravet-Syndrom als erste mögliche Indikation der Epilepsieerkrankungen.
Wann welche Antianfalls-
medikamente?
Bis diese Therapien ausreichend klinisch
geprüft seien, müsse man sich mit einer
Ansprechrate bei den Antianfallsmedikamen-
ten von 66 Prozent bei den meisten neu dia-
gnostizierten Epilepsiepatienten begnügen, so
French. Bei fokalen Anfällen empfiehlt die
Expertin die Verabreichung von gut verträgli-
chen Therapeutika wie Lamotrigin, Levetirace-
tam, Oxcarbazepin und Lacosamid. Bei
generalisierten Anfällen soll die Therapie mit
Lamotrigin, Levetiracetam und Valproat erwo-
gen werden. Bei Frauen im gebärfähigen Alter
muss auf das teratogene Potenzial von Val-
proat hingewiesen werden.
Wenn allerdings zwei adäquat angewendete
und gut tolerierte Therapien keine ausrei-
chende Kontrolle der Krampfanfälle bewirken
können, gilt der Patient nach ILAE-Definition
als therapieresistent. In diesem Fall können
die chirugische Intervention, die Vagusnerv-
stimulation, die Neurostimulation oder die
Laserablation eine Lösung sein oder aber eine
ketogene Diät mit dem grössten Wirkungs-
grad bei Kindern.
l
Valérie Herzog
Quelle: «Keynote Lecture I – Epilepsy», Annual Meeting 2020, Swiss Neurological Society, 19. bis 20 November, virtuell.
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