Transkript
EDITORIAL
Wen soll man zuerst impfen?
Noch sind COVID-19-Impfstoffe ein rares Gut. Die Frage, wer nun zuerst an der Reihe ist, wird weltweit unterschiedlich beantwortet, aber meist ist das Alter der wichtigste Parameter: Senioren haben Vortritt. Mancher mag sich fragen, ob es nicht doch sinnvoller wäre, zuerst Menschen mittleren Alters oder Jugendliche zu impfen. Schliesslich sind sie in der Regel, ob freiwillig oder notgedrungen, wesentlich mobiler als Pensionäre und kommen somit eher als potenzielle Superspreader infrage. Liessen sich am Ende vielleicht wesentlich mehr Leben retten, wenn man zuerst die Jungen impfte, um primär die Verbreitung des Virus einzudämmen? Eher nicht, schreibt ein US-amerikanisches Autorenteam und empfiehlt bei Impfstoffmangel die Impfpriorisierung von Personen ab 60 Jahren als «robuste Strategie, um die Mortalität optimal oder annähernd optimal zu minimieren». Das Team berechnete die zu erwartende Infektionsrate und coronabedingte Mortalität infolge einer Impfpriorisierung verschiedener Bevölkerungsgruppen (Kinder/Teenager, 20- bis 49-Jährige, ab 20 Jahren, ab 60 Jahren oder die gesamte Bevölkerung ohne Priorisierung). Es ging dabei von zwei Pandemieszenarien aus, einer niedrigen
(R0 = 1,15) und einer hohen Übertragungsrate (R0 = 1,5).
Der Einfluss von Parametern wie der Geschwindigkeit
der Durchimpfung, der prioritären Impfung seronega-
tiver Personen sowie der Wirksamkeit und der Verfüg-
barkeit des Impfstoffs wurde für beide Szenarien be-
wertet.
Doch welche Parameter man auch veränderte, das Er-
gebnis war im Wesentlichen immer das gleiche: Bei
hoher Übertragungsrate (R0 = 1,5) werden wahr-
scheinlich die meisten Todesfälle verhindert, wenn
zuerst Personen ab 60 Jahren geimpft werden.
Bei niedriger Übertragungsrate (R0 = 1,15) sinkt die
Mortalität wahrscheinlich stärker, wenn zuerst die
20- bis 49-Jährigen geimpft werden – allerdings nur
unter bestimmten Bedingungen: Entweder muss der
Impfstoff die Übertragung des Virus um mindestens
80 Prozent vermindern (was bis heute* noch für kei-
nen der verfügbaren Impfstoffe belegt ist) oder es
müssten mindestens 0,02 Prozent der Bevölkerung
pro Tag geimpft werden (ca. 18 000 pro Tag in der
Schweiz, was zurzeit nicht der Fall ist). Vorteilhafter
hinsichtlich der Mortalität ist die prioritäre Impfung
der 20- bis 49-Jährigen vermutlich auch dann, wenn
ein Impfstoff bei jungen Erwachsenen deutlich wirk-
samer ist als bei älteren (was bis anhin ebenfalls nicht
völlig geklärt ist).
Insofern scheint der pragmatische Ratschlag der Au-
toren, die Älteren zuerst zu impfen, zumindest zurzeit
eine sinnvolle Strategie zu sein.
s
Renate Bonifer
Bubar KM et al.: Model-informed COVID-19 vaccine prioritization strategies by age and serostatus [published online ahead of print, 2021 Jan 21]. Science. 2021;eabe6959.
* Stand: 12. Februar 2021
ARS MEDICI 3+4 | 2021
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